Festung Hamburg
Obwohl die Staatsgäste zum G20-Gipfel erst am 7. Juli erwartet werden, begann der Polizeieinsatz bereits am 21. Juni. Seither ist die Polizeipräsenz in Hamburg deutlich erhöht. Der »G20-Führungsstab« sei besetzt, auch die Einsatzabschnitte arbeiten. Das verkündete der Gesamteinsatzleiter der Hamburger Polizei, der leitende Polizeidirektor Hartmut Dudde, auf einer Pressekonferenz. »Wir wollen, dass auch im Vorfeld des Gipfels alles heil bleibt in dieser Stadt«, begründete Dudde den frühen Start. Mit 15.000 Polizisten werde die Polizeipräsenz zum Gipfel eine Größenordnung einnehmen, wie man sie selten sieht, sagte der Gesamteinsatzleiter weiter. Unterstützung erhält die Hamburger Polizei von der Bundespolizei sowie von einer Marineeinheit aus den Niederlanden. Aus Österreich kommen die Spezialeinheiten »Cobra« und »Wega«. Auch die französische Polizei stellt Beamte.
Der Polizeipräsident Ralf Martin Meyer verteidigte erneut die 20 Quadratkilometer große Demonstrationsverbotszone im Bereich des Helmut-Schmidt-Flughafens, des Ausstellungszentrums bis zur Elbphilharmonie und der Binnenalster samt Rathaus. Der Transfer der Staatsgäste soll auf verschiedenen Routen erfolgen. Das Begleitfahren hat die Polizei bereits an mehreren Tagen geübt – mit Erfolg: Der Stadtverkehr brach zusammen. Fünf Demonstrationen an den G20-Tagen bewertet Meyer als kritisch. Wenn die beschränkende Verfügung vor dem Verwaltungsgericht nicht standhält, »haben wir ein Problem«, meint der Polizeipräsident. Der G20-Einsatz werde dann deutlich risikoreicher, und die Polizei müsse auf eine Art »Betonstrecke« als einzige Route vom Flughafen zur Innenstadt zurückgreifen, die auf »Gedeih und Verderb«, so Meyer weiter, 36 Stunden offengehalten werde und die Stadt in zwei Hälften teilt.
Die ehemalige zentrale Erstaufnahme in Hamburg-Harburg, ein früherer Lebensmittelgroßmarkt, wurde von der Polizei als Gefangenensammelstelle für den G20-Gipfel ausgebaut (s. Ossietzky 11/2017). Bis zu 400 Personen sollen hier in dem mit NATO-Draht gesicherten Areal Platz finden. Hier gibt es Vernehmungszimmer, Räume für Richter wie auch Besprechungszimmer für Gefangene und ihre Anwälte.
Auch die Krankenhäuser in der Stadt stocken für den Gipfel das Personal auf. Die Feuerwehr ist in die Planung mit einbezogen, nicht nur die Rettungswagen.
Bisher sind alle geplanten Camps der Gipfelgegner in Altona und im Hamburger Stadtpark verboten. Für den Stadtpark kippte das Verwaltungsgericht das Verbot. Aber die Entscheidung war bei Redaktionsschluss noch nicht rechtskräftig. Zum G20-Gipfel werden etwa 100.000 Gegner erwartet. Auch die Demonstrationsrouten am 7. und 8. Juli sind noch nicht genehmigt. Nach den jüngsten Ankündigungen der Hamburger Polizei bleibt das Demonstrationsrecht – ein Grundrecht – auf der Strecke.
Erinnert sei, dass die Anordnungen von Dudde beim Polizeieinsatz am 15. Dezember 2007 in Hamburg (Demonstration gegen Repressionen durch die Polizei) später vom Verwaltungsgericht Hamburg als unverhältnismäßig und somit rechtswidrig eingestuft wurden.
Karl-H. Walloch
SPD ohne Kompass
Was in drei Teufels Namen hat Martin Schulz dazu bewogen, sich öffentlich über das gute Ergebnis von Emmanuel Macrons Partei La République En Marche bei der ersten Runde der Parlamentswahl in Frankreich zu freuen? Er ist doch nicht mehr Präsident des Europaparlaments, sondern Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Da wäre es doch seine Aufgabe, ein Wort der Ermutigung an die französische Schwesterpartei zu richten, die von Macrons Partei regelrecht niedergewalzt wurde und das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte erzielte. Auch Siegmar Gabriel jubelte. Macron überzeuge nicht nur in Frankreich, sondern auch in und für Europa.
Haben die beiden den politischen Kompass verloren? Allein dass auch Angela Merkel außer sich ist vor Freude über Macrons Erfolg müsste ihnen zu denken geben. Aber sie tritt der Schwesterpartei ja auch vors Schienbein, indem sie dem französischen Präsidenten gratuliert und das Ergebnis des ersten Wahldurchgangs »als starkes Votum für Reformen« bejubelt. Zwei Tage nach der Wahl kam heraus, wohin die Reise mit dem neuen Messias der Enttäuschten und Gutgläubigen gehen soll. »Macron riskiert Streit mit den Gewerkschaften«, lautete die Schlagzeile der Süddeutschen Zeitung am 13. Juni. Darunter stand: »Mehr Druck auf Arbeitslose, leichtere Kündigungen, weniger Betriebsräte: Frankreichs Präsident will das Land verändern, um die Erwerbslosigkeit zu senken.«
Mit anderen Worten: Macron will in Frankreich nachahmen, was Gerhard Schröder mit seiner Agenda 2010 vorexerziert hat und wovon Martin Schulz gern ein bisschen abrücken möchte, weil das der Anfang des Niedergangs der deutschen Sozialdemokratie war. Derselbe Martin Schulz findet es toll, dass Macron sein Land nach Schröders Vorbild auf Kosten der Schwächsten in der Gesellschaft sanieren möchte. Wie passt das zusammen? Die Frage richtet sich auch an die deutschen Gewerkschaften. Werden sie den französischen Gewerkschaften zur Seite stehen, wenn sie demnächst gegen Macrons Sozialabbau auf die Straße gehen?
Was die SPD mit ihrem Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl bisher aufgeboten hat, überzeugt nicht. Es gelinge Martin Schulz nicht, »für den Wumms zu sorgen«; da müsste er noch anderes aufbieten als die Absichtserklärung, die Renten auf dem Weg nach unten zu stoppen«, räsonierte Heribert Prantl in der SZ vom 10./11. Juni. »Da bräuchte es Projekte von der Art eines allgemeinen Grundeinkommens; solche, die zeigen, wie die alte Arbeiterpartei SPD in der (digitalisierten) Welt der Arbeit 4.0 für soziale Sicherheit sorgt.« Eben diese bedarfsgerechte Grundsicherung in Höhe von 1050 Euro anstelle von Hartz IV fordert die Linke. Die SPD reagierte ausweichend. Sie konzentriere sich auf die Auseinandersetzung mit »der anderen großen Volkspartei CDU/CSU«, sagte ihr alt/neuer Generalsekretär Hubertus Heil. Wie lange sich die SPD noch als große Volkspartei bezeichnen kann, werden wir im September nach der Bundestagswahl sehen. Dann wird sie auf jeden Fall einen Kompass brauchen.
Constanze Weinberg
Zum Tod Helmut Kohls
Bei allem Verständnis für die rühmenden Worte an der Bahre Helmut Kohls – in einem ganz wichtigen Punkt verhält es sich nicht so, wie alle meinen: Da hat nicht Helmut Hohl die Geschichte beeinflusst, sondern die Geschichte hat Helmut Kohl zu dem Mann gemacht, als der er uns vorgestellt wird. Es war reiner Zufall, dass er Bundeskanzler war, als »zusammenwuchs, was zusammengehört«, wie Willy Brandt sich ausdrückte. Zum Niedergang der DDR und ihrem Ende hat er nichts beigetragen, rein gar nichts. Es waren die unzufriedenen Bürger der DDR, die mit ihren Montagsdemonstrationen den letzten Anstoß gaben zum sang- und klanglosen Ende des SED-Regimes. Dass das Ganze friedlich verlief, ist nicht zuletzt denen zu verdanken, die sich nicht mit Gewalt gegen den eigenen Untergang gewehrt haben. Wo hat es das jemals gegeben?
Dass in der Sowjetunion Michail Gorbatschow Generalsekretär der Kommunistischen Partei war, als das Land unter der Last seiner inneren Widersprüche in Agonie fiel, war ebenfalls reiner Zufall. Er war das Produkt seiner Zeit. Mit seiner Politik der Perestroika, der Beseitigung von Zwängen auf allen nur denkbaren Ebenen und dem Wunschbild westlichen Wohlstands vor Augen hat er den Niedergang allerdings eher beschleunigt als gebremst. Was davon zu halten ist, dass Gorbatschow die DDR fallen ließ und Helmut Kohl mit dem Lorbeer der deutschen Einheit bekränzte, darüber hat die Geschichte ihr abschließendes Urteil noch nicht gesprochen.
Was mich betrifft – ich habe Kohl kennengelernt lange bevor er zum Kanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt wurde. Das war 1962 während eines denkwürdigen Streitgesprächs mit dem hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der damals wegen eines Vortrages über die Wurzeln faschistischen Handelns von der CDU heftig angegriffen wurde. Helmut Kohl war zu der Zeit Abgeordneter seiner Partei im rheinland-pfälzischen Landtag. Nassforsch hielt er dem von den Nazis verfolgten Fritz Bauer vor, es sei noch zu früh für ein abschließendes Urteil über den Nationalsozialismus. Unvergessen ist auch sein fataler Satz von der »Gnade der späten Geburt«, mit dem er wohl sagen wollte, dass er dem Nationalsozialismus möglicherweise auch erlegen wäre, hätte er das Licht der Welt früher erblickt. Und das ausgerechnet in Israel.
In diesen Stunden kurz nach Bekanntwerden der Nachricht vom Ableben Helmut Kohls denke ich daran, was Manfred Rommel als Stuttgarter Oberbürgermeister gesagt hat, als um das gemeinsame Grab für die Terroristen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe gestritten wurde: »Irgendwo muss jede Feindschaft enden, und für mich endet sie in diesem Fall beim Tod.«
C. T.
Unsere Zustände
Ein dreckiges Geschäft wird nicht sauber, wenn man es mit frisch gewaschenen Händen betreibt.
*
Die Eigenliebe ist ein Kraut, das ohne Samen aufwächst. Es gedeiht und verdorrt allein.
*
Etwas mit aller Macht besitzen zu wollen, verdirbt den Charakter.
*
Die meisten Menschen dulden die Lüge, weil sie sich vor der Wahrheit fürchten.
Wolfgang Eckert
Hollywoods Geschäfte
»Business is business« und sei es noch so schmutzig. Bisher unbekannte Dokumente enthüllen jetzt die dunkle Seite des »Golden Age« von Hollywood. Die Traumfabrik scheute die Zusammenarbeit mit Hitler-Deutschland nicht. Die großen Studios erklärten sich bereit, keine Filme zu produzieren, die das Ansehen der Nationalsozialisten beschädigen oder die Judenverfolgung thematisieren würden. Hollywood war aus wirtschaftlichem Interesse zu dieser Kooperation bereit, um auch weiterhin seine Filme in deutschen Kinos zeigen zu können.
Amerikanische Filme waren Mitte der 1930er Jahre in Nazi-Deutschland willkommen, denn seit die UFA alle jüdischen Mitarbeiter entlassen hatte, war die deutsche Filmproduktion rückläufig, und amerikanische Filme wurden dringend gebraucht, um dieses Manko in den Kinos auszugleichen. Die Nazis forderten die amerikanischen Filmunternehmen sogar auf, ihre jüdischen Vertriebsmitarbeiter in Deutschland zu entlassen. Doch warum gingen die Hollywood-Studios, die größtenteils von jüdischen Immigranten osteuropäischer Herkunft geschaffen worden waren, auf diese faulen Kompromisse ein? Warum machten sie Geschäfte mit dem antisemitischsten Regime aller Zeiten?
Diesen und ähnlichen Fragen geht der amerikanische Historiker Ben Urwand in seinem Buch »Der Pakt« nach, das in den USA eine lebhafte Debatte auslöste. Ausführlich recherchiert und mit zahlreichen Fakten belegt, zeigt der Autor, dass die Filmstudios in Hollywood bereit waren, eventuelle moralische Bedenken finanziellen Interessen unterzuordnen. Sie fügten sich nicht nur den Zensurauflagen der Nazis, sondern verwirklichten unerwünschte Filmprojekte erst gar nicht. Aus Profitinteresse unterwarf man sich einer Selbstzensur. Nach der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 erstellte Propagandaminister Joseph Goebbels sogar eine »schwarze Liste« mit den Namen von 60 jüdischen Hollywood-Mitarbeitern, die an keinem Film mehr mitwirken durften, wenn er in Deutschland zugelassen werden sollte.
Erst mit der Kriegserklärung Hitlers an die USA im Dezember 1941 änderte sich die Einstellung Hollywoods gegenüber Nazi-Deutschland, denn nun war hier kein Geld mehr zu verdienen. Von 1942 bis 1945 entstanden dann zahlreiche Anti-Nazi-Filme, darunter so bekannte Streifen wie »Casablanca« mit Ingrid Bergman und Humphrey Bogart. Aber bereits kurz nach Kriegsende, im Sommer 1945, reiste eine Gruppe von Hollywood-Bossen ins kriegszerstörte Deutschland, um nach neuen Geschäftsmöglichkeiten Ausschau zu halten.
Seit der Veröffentlichung seines Buches in den USA 2013 sieht sich Ben Urwand wütender Kritik ausgesetzt, die von ihm nachgewiesene Kollaboration Hollywoods mit Nazi-Deutschland in den 1930er Jahren wird dabei als normaler Opportunismus, als Marktanpassung abgetan. Nun haben die deutschen Leser die Möglichkeit, sich mit seinen Thesen und Kritikpunkten vertraut zu machen.
Manfred Orlick
Ben Urwand: »Der Pakt – Hollywoods Geschäfte mit Hitler«, aus dem Engl. von Gisella M. Vorderobermeier, Theiss Verlag, 320 Seiten, 29,95 €
Nachtrag – Leipziger Buchmesse
Uralt und gehbehindert danke ich für ein instruktives Informationspaket der diesjährigen Leipziger Buchmesse: »Das Schwerpunktland Litauen«. Hat auch das »gesamtdeutsche« Ergebnis seit 2002 (Gastland in Frankfurt am Main) mit »vereinigungsbedingt« ausgedünnter DDR-Verlagslandschaft nicht viel erbracht, nennen die Prospekte in Leipzig jetzt schon 25 deutsche Übersetzungen bei 16 Verlagen. Das Neue muss natürlich erst gelesen werden. Aber rückblickend auf Volk und Welt Berlin, Aufbau Verlag Berlin und Weimar, Philipp Reclam jun. Leipzig und andere habe ich Litauen schon vorher als großes Literaturland erlebt. Auf 69 Erstauflagen wies ich vor Jahrzehnten angesichts einer ND-Notiz über ein »kaum bekanntes Land« hin. Umso mehr ist jetzt das Buch »100 Jahre litauischer Literatur: Ein Crashkurs« von Laurynas Katkus hervorzuheben (deutsch 2017 aus dem Litauischen Kulturinstitut Vilnius). Der Autor aus Vilnius, der in Berlin und Leipzig studiert hat, schreibt gut lesbar deutsch, weicht polit-ideologischen Wertungen, denen man nicht immer folgen muss, nicht aus. Mit einem Auszug aus der jüngsten deutschen Nachdichtung von Kristijonas Donelaitis »Die Jahreszeiten« (Insel 1970, Leipzig, Nachdichtung: Hermann Buddensieg) eröffnet Herausgeber Vytautas Kubilius die große Anthologie »Litauische Poesie aus zwei Jahrhunderten« (Volk und Welt 1983, Interlin.-Üb.: Dana Albertus, Nachd.: Uwe Berger u. a.), darin neben vielen anderen Justinas Marcinkevičius (deutsch 1969 bei Volk und Welt in der weißen Lyrikreihe erschienen, Hrsg. Leonhard Kossuth, Nachd. Heinz Czechowski u. a.), der laut Katkus als Lyriker, Prosaschriftsteller, Dramatiker als »wohl beliebtester Schriftsteller der Sowjetzeit« und »Erwecker des nationalen Bewusstseins galt«. Diese Anthologie belegt zugleich, welche Bedeutung die Lyrik in Litauen hat. Ebenfalls bei Volk und Welt erschienen, nennt Katkus Eduardas Mieželaitis den »wichtigsten Vertreter der sowjetischen Moderne in der Poesie« (»Der Mensch«, 1967, Interlin.-Üb.: Irene Brewing, Nachd.: H. Czechowski). Mit einem Sprung landen wir in der jüngeren Geschichte, bei dem 1935 von Petras Cvirka geschriebenen Roman »Mutter Erde« (Aufbau 1975, Üb.: Irene Brewing). Meistverlegter litauischer Romancier in der DDR war Mykolas Sluckis (beginnend mit »Die Himmelsleiter«, Aufbau 1966, Üb.: Irene Brewing) – zusammen mit Alfonsas Bieliauskas (unter anderem »Kreuze weiß wie Kerzen«, Der Morgen 1984, Üb.: Irene Brewing) und Jonas Avyžius (unter anderem »Zeit der verödeten Höfe«, 1974, Üb.: I. Brewing, Nachd.: Wilhelm Tkaczyk, »Die Farben des Chamäleons«, 1984, Üb.: Ingeborg Schröder, beide Volk und Welt); SU-weit diskutierte man damals deren »litauischen Roman des inneren Monologs«. Von Sluckis erschienen deutsch neben vier weiteren Romanen zwei Erzählungsbände »Wie die Sonne zerbrach« Aufbau 1967 und »Ode an ein Schwein« bei Philipp Reclam jun. 1970, beide übersetzt von Irene Brewing, Ch. Kossuth u. a., »Ode …« mit instruktivem Nachwort der Herausgeberin, Sluckis-Betreuerin Charlotte Kossuth). Sensationellen Erfolg hatte Icchokas Meras mit seinem, wie auch Katkus bestätigt, »durch moderne Struktur innovativen Werk« »Remis für Sekunden« über den Holocaust, vor dem ihn selbst eine litauische Bauernfamilie bewahrt hatte (Kultur und Fortschritt 1966, Üb.: Irene Brewing, und zwei weitere Romane). Es sind nur Beispiele, die ich hier nennen kann. Und selbstverständlich bedeutet »multinationale Rezeption« – neben gegenseitigem Austausch – die Beachtung nationaler Geschichte, Traditionen, Eigenheiten. Solcher Sicht diente auch der Band litauischer Erzählungen aus sieben Jahrzehnten »Fische haben kein Gedächtnis«, Hrsg. Welta Ehlert und Rainer Eckert mit Nachwort von Algimantas Bučys. Auf seine Weise auch ein Band litauischer Märchen »Der Hexenschlitten« (Volk und Welt 1973, Üb.: Irene Brewing, Nachd.: Ilse Tschörtner). Und »wir« Verleger, ich als Teilnehmer an litauischen Übersetzerkonferenzen, bereichert um litauische Freunde, lese sogar eigene Rundfunkrezensionen über Avyžius, Bieliauskas, Sluckis et cetera in »… aber der Wagen, der rollt« (Nora 2015) inzwischen als retrospektiv aktuelle Erfahrungen. Das Schwerpunktland Litauen firmierte auf der Messe mit »Fortsetzung folgt«. Dazu – alle guten Wünsche!
Leonhard Kossuth
Die genannten Bücher (DDR-Ausgaben) gibt es in guten Bibliotheken.
Gulag und Märchen
Ja, es ist ein bitteres Buch aus der Stalinzeit. Die Frau eines tatarischen Bauern, der als Kulak erschossen wurde, muss mit einem Gefangenentransport monatelang Hunger, Kälte, Gewalt und Elend aushalten. Da wird gestorben, einmal gelingt ein Ausbruch, was für den Rest eine noch größere Hölle bedeutet. Zäh übersteht die kleine Frau namens Suleika, die alles andere als eine Verführerin ist, im schwangeren Zustand die ganze Not und gebiert in der sibirischen Einöde, wohin es die paar Verbannten verschlagen hat, das Söhnchen Jusuf. Sie fügt und bringt sich ein in das Leben der Gefangenensiedlung und »erwacht« ausgerechnet hier.
Denn ja, es ist auch ein Märchen. Die bisher in der Familie nur Unterdrückte entdeckt in der Gefangenschaft ihre Kräfte und Fähigkeiten, erlebt Solidarität und hilft, wo sie kann. Sogar die Liebe trifft sie.
Ein spannendes und poetisches Buch der 1977 geborenen russischen Autorin und Filmemacherin Gusel Jachina. Es ist etwas ganz Besonderes, denn die Verquickung von Härte und Zärtlichkeit, bitterer Realität und Märchenstimmung ist auf seltene Weise gelungen. Das Buch ist bisher in 21 Sprachen übersetzt und hat es verdient.
Christel Berger
Gusel Jachina: »Suleika öffnet die Augen«, Roman, übersetzt von Helmut Ettinger, Aufbau Verlag, 541 Seiten, 22,95 €
Zuschrift an die Lokalpresse
Das Jahr 2017 steht ganz im Zeichen des Luther‘schen Thesenanschlages. Und an den Statuen für Luther, die es im ganzen Lande gibt, wird des Reformators mit Gedenkmeetings und Blumenniederlegungen gedacht. Nun begehen wir 2017 aber auch den 100. Jahrestag der russischen Revolution und den 150. Jahrestag des Erscheinens des Marx‘schen »Kapitals«, und die stehen aus politischen Gründen ziemlich im Schatten. Bei Lenin ist es ja so, dass viele Denkmäler – nicht nur in Berlin – irgendwo in der Landschaft verbuddelt worden sind. Die Geschichte verlangt aber irgendwann doch ihr Recht, und nach einigen Jahren weiß keiner mehr, wo ein Denkmal im märkischen oder anhaltinischen Sand ruht. Und die Museen sehen dann ganz blass aus. Deshalb schlage ich vor, für die noch bekannten Vergrabestellen eine Liste zusammenzustellen. Die könnte ja erst mal beim Geheimdienst aufbewahrt werden, damit keiner seinen Vorgarten zum Erlebnispark stylen kann. – Alois Hinterwäldler (82), Rentner, 14797 Lehnin
Wolfgang Helfritsch