Auch mit 85 Jahren ist er kein bisschen müde: Ernst Grube, einer der bekanntesten Überlebenden des Nazi-Terrors in München. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Bayern lud vor einigen Wochen zu einem zweitägigen Seminar mit ihm und dem Regensburger Gymnasiallehrer Peter Poth ein. Für mich, mehr als zwei Generationen jünger, bot sich die Möglichkeit, mit Ernst Grube ins Gespräch zu kommen, nachdem ich ihn bereits auf einigen Veranstaltungen als Redner gehört hatte. Die beiden Tage haben Eindruck hinterlassen.
Ernst Grube wird 1932 als Sohn einer jüdischen Mutter und eines bekennenden Kommunisten in München geboren. Zusammen mit seinem Bruder Werner und der Schwester Ruth wird er 1938 nach der Entmietung der Wohnung in der Münchner Innenstadt in das jüdische Kinderheim Schwabing gebracht. Als 1942 auch das Kinderheim aufgelöst wird, erlebt er die Schrecken der Ghettos in Milbertshofen und Berg am Laim. In dieser Zeit werden Grubes Freunde, Tanten, Onkel, Cousinen und Cousins in KZs ermordet. Im Februar 1945 wird schließlich auch er zusammen mit seiner Mutter und seinen Geschwistern ins KZ Terezín deportiert, wo er täglich um sein Leben fürchten muss. Selbst nach Kriegsende und der Befreiung durch die Rote Armee bleibt er in der neu gegründeten Bundesrepublik von neuerlicher Verfolgung nicht verschont. Er engagiert sich politisch in unterschiedlichen zivilgesellschaftlichen Bewegungen sowie der KPD, was ihn schnell zweimal bis ins Gefängnis führt – das zweite Mal in eine menschenunwürdige Isolationshaft in Bonn, der er erst nach sieben Monaten und einer schwerwiegenden Erkrankung entkommt. Nach dem Radikalenerlass ist er 1974 kurzzeitig von einem Berufsverbot bedroht. Er lässt sich durch all die Schikanen aber nicht brechen, sondern engagiert sich daraufhin umso mehr in der Friedensbewegung, dem Antifaschismus und in der Erinnerungsarbeit. Bis heute ist er unermüdlich tätig und unter anderem mit dafür verantwortlich, dass München 2015 endlich ein NS-Dokumentationszentrum erhielt.
Eine jede Annäherung an ein so bewegtes und ereignisreiches Leben muss in dieser Kürze freilich unzulänglich bleiben, und auch das Seminar versuchte erst gar nicht, allen biographischen Details nachzuspüren. Ziel war es vielmehr, nach Handlungsmöglichkeiten und Aufgaben einer zukünftigen Erinnerungsarbeit zu forschen, die in ein paar Jahren ohne die Berichte aus dem Munde der Überlebenden auskommen muss. Auch nach der Rolle der Gewerkschaften in dem Prozess wurde gefragt. Aus Grubes Schilderungen ergaben sich dabei ebenso wie aus Einschätzungen zu aktuellen Themen wie den Stolpersteinen oder dem Umgang mit Geflüchteten neue Zugänge und Einsichten für die Erinnerungsarbeit. Drei Punkte erscheinen mir von besonderer Bedeutung:
Erstens: Immer wieder verweist Ernst Grube bei der Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex Flucht auf seine eigene Biographie. Er vergleicht die Situation der heutigen Geflüchteten mit den Ausgrenzungs- und Verfolgungserfahrungen, die er und seine Familie unter den Faschisten erleiden mussten. Die damalige Katastrophe fordere unser Eingreifen heute, um eine Wiederholung der Untaten zu verhindern. Das Recht auf Asyl sei ein Menschenrecht und noch dazu das älteste der Menschheit, das niemandem abgesprochen werden dürfe. Man könne heute in teils subtilen sprachlichen Abwertungen, in fragwürdigen Abschiebeverfahren bis hin zu brennenden Flüchtlingsheimen den Hass und die Kälte von damals mal mehr, mal weniger deutlich wiedererkennen.
Es ist durchaus sinnvoll, die beiden Themenkomplexe zu verknüpfen – nicht allein, um die Rechte der Geflüchteten zu stärken. Gerade auch die Erinnerung an die Schrecken der NS-Herrschaft profitiert davon. Denn sie erfährt auf diese Weise eine Einbindung in unsere Zeit und eine Aktualität, die vielen Nachgeborenen eine tiefere emotionale Bindung und ein zumindest rudimentäres Nachempfinden darüber erlaubt, unter welchen kaum erträglichen Umständen die Opfer der Nazis zu leiden hatten. Für eine nachhaltige und wirksame Erinnerungsarbeit über die Ära der lebendigen Zeitzeugenschaft hinaus ist der emotionale Aspekt nicht zu vernachlässigen. Selbstverständlich ist es aber auch Aufgabe der Zivilgesellschaft und der Gewerkschaften, vor dem Hintergrund der Erfahrungen Solidarität mit den Geflüchteten in unserer Zeit zu zeigen. Gerade die Gewerkschaften müssen sich hier ihrer Rolle als Vertreter aller Entrechteten und Unterdrückten bewusst werden und eine Gegenmacht zu rechtspopulistischen Haltungen demonstrieren.
Zweitens: Die Geschichte der Verfolgung endet bei Ernst Grube nicht mit der Befreiung aus Terezín. Wurde er vor 1945 noch als »Geltungsjude« verfolgt, war er in der BRD auf Grund seiner kommunistischen Gesinnung im Visier der Staatsgewalt. Selbst lange nachdem er die Parteiarbeit für die KPD aufgegeben hatte und sich ausschließlich in Bewegungen oder den Gewerkschaften engagierte, blieb er unter Beobachtung. Das führte zu der absurden Situation, dass sein Name 2011 auf Grund seines Engagements für die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) erstmals im bayerischen Verfassungsschutzbericht auftauchte und er somit als »Staatsfeind« eingestuft wurde – da war er längst anerkannter und geachteter Zeitzeuge und unter anderem Träger der Medaille »München leuchtet« (vgl. auch Ulrich Sanders Beitrag »Vier angebliche Verfassungsfeinde« in Ossietzky 4/2018).
Wie der Fall von Ernst Grube lehrt, standen nicht allein Kommunisten unter dem Verdacht der Staatsgefährdung, vielmehr waren es nahezu alle linkspolitischen Kräfte, die Kritik am bestehenden Herrschaftssystem artikulierten. Mit der unrechtmäßigen Überwachung und Verurteilung politisch Aktiver sollten diese bewusst eingeschüchtert und ein Klima der Angst erzeugt werden, das jeden weiteren Aktivismus schon im Keim erstickt. Eine künftige Erinnerungsarbeit wird gut daran tun, sich auch dieses Sachverhalts anzunehmen und zu erforschen, inwiefern es in der Bundesrepublik lange Zeit nicht nur eine nationalsozialistische Kontinuität im Staatsapparat und in öffentlichen Einrichtungen gab – was mittlerweile als völlig unstrittig angesehen werden dürfte –, sondern inwiefern gerade auch die systematische Diffamierung und Verfolgung der politischen Linken in der BRD ihre Wurzeln in der Zeit des Nationalsozialismus (und darüber hinaus) hat. In dem Punkt kommt den Gewerkschaften wiederum eine Sonderrolle zu, vereinen sie unter ihrem Dach und im Aufbegehren gegen die Unterdrückung durch das Kapital doch ganz unterschiedliche linke Strömungen. Ziel muss es sein, diese zu einen und in gemeinsamer Anstrengung eine derartige Form der Erinnerungsarbeit zu leisten.
Drittens: Aufgabe künftiger Erinnerungsarbeit muss es schließlich ebenso sein, die aktuelle und gesellschaftlich anerkannte Form der Erinnerungskultur stets kritisch zu beäugen und, wo nötig, in Frage zu stellen. Was damit gemeint sein kann, wurde auf dem Seminar in der Erinnerung an das Ghetto Terezín klar. An dieses wird häufig in Zusammenhang mit dem dort praktizierten jüdischen Leben und der jüdischen Kultur erinnert. Erst vor wenigen Monaten verstarb der in Terezín internierte Jazz-Gitarrist Coco Schumann, Mitglied der »Ghetto Swingers«. Überhaupt wird oft gerade des musikalischen Erbes des Ghettos gedacht, wie etwa in einem unter anderem von der Bayerischen Akademie der schönen Künste geförderten Dokumentarfilm aus dem Jahr 2013 mit dem Titel »Theresienstadt – Musik als Zuflucht”. Was im Titel so leichthin als »Zuflucht« bezeichnet wird, war in Wahrheit – und darauf wird Ernst Grube nicht müde hinzuweisen – Bestandteil des faschistischen Vernichtungsapparates. Denn die musikalische, literarische und generell kulturelle Betätigung, die in Terezín oder Theresienstadt zugestanden wurde, diente in erster Linie freilich nicht der kulturellen Identitätsstiftung, sondern letztlich schlicht dazu, im Ghetto oder Lager für Ruhe zu sorgen und die Insassen so lange zu beschwichtigen, bis sie in die Vernichtungslager weitertransportiert und dort schließlich ermordet wurden.
Erinnerungsarbeit muss diese in der Erinnerungskultur inhärenten und manchmal kaum sichtbaren Unterdrückungs- und Herrschaftsstrukturen reflektieren und offenlegen, damit die Erinnerung selbst nicht zu einer Verharmlosung oder gar Verherrlichung damaliger Umstände führt; sie muss sich stets, um frei nach Adorno zu sprechen, vor dem Faschismus im Gewand der Demokratie in Acht nehmen.
Für mich war es faszinierend zu hören und mitzuerleben, mit welcher Ruhe und Gelassenheit und mit welch immensem Maß an Toleranz Ernst Grube sich in viele Themen einschaltet und dabei politisch klar und in seinem Einsatz für Menschlichkeit und gegen jede Form der Ausgrenzung kompromisslos bleibt. Den Eindruck vermittelt auch der Dokumentarfilm »Ernst Grube – Zeitzeuge. Von einem, der nicht aufgibt«. Alle Dokumentation wird uns freilich aber nicht von der Aufgabe des Erinnerns entbinden – diese müssen wir selbst leisten.