Ich erinnere mich nicht, wer der Anrufer war, der mich vor fast genau 50 Jahren, so kurz nach 4 Uhr in der Früh, aus dem Bett klingelte mit der Nachricht: »Hansi Koller ist gestern fristlos entlassen worden – wir demonstrieren nachher vor Rockwell.«
Für mich wurde es einer der interessantesten Tage in meinen fast 18 Jahren journalistischer Tätigkeit in München. Ich erlebte in knapp acht Stunden eine immer stärker werdende Solidaritätsaktion, die einem wegen seines Kampfes gegen die Notstandsgesetze entlassenen kommunistischen Betriebsrat zu seinem Recht verhalf. Mit einer Fotoreportage konnte ich die Anatomie eines seltenen und sogar erfolgreichen politischen Streiks dokumentieren.
Es war der 29. Mai 1968. In München brodelte es seit Tagen. Theater unterbrachen ihre Vorstellungen, um gegen die Notstandsgesetze zu protestieren, auf tausenden kleinen Aufklebern konnte man in Bezug auf den damaligen Bundeskanzler lesen »Kurt-Georg Kiesinger: Erst NS-Propagandist, jetzt Notstands-Planer«, in den Bavaria-Filmstudios wurde gestreikt, der SPD-Unterbezirk stellte mit »Empörung« fest, dass die Zustimmung der Bundes-SPD zu dem demokratiefeindlichen Gesetzeswerk unvereinbar mit den Beschlüssen der Partei sei, und vom Siegestor wehten große Transparente »Kein zweites 1933« und »Streik gegen Notstand«. Am nächsten Tag wollte die erste Große Koalition die Notstandsgesetze verabschieden.
Etwa 15.000 Münchner waren am Vortag einem Aufruf von Gewerkschaften und Studentenorganisationen zu einer Protestaktion im Stadtzentrum unter dem Motto »Notstandsgesetze planen den Krieg, nicht den Frieden« gefolgt. Der junge Betriebsrat der IG-Metall beim Münchner Zweigwerk des US-Luft- und Raumfahrtkonzerns Rockwell, Hansi Koller, war einer der Mitunterstützer des Aufrufs. Die Rockwell-Belegschaft hatte mit einem Warnstreik gegen die Notstandsgesetze den Gewerkschafter und beliebten Kollegen dazu ermächtigt. Doch das interessierte den US-Konzern wenig: Hansi Koller wurde am selben Tag fristlos entlassen.
Am nächsten Morgen stand ich um kurz nach 6 Uhr mit den ersten Demonstranten vor dem Rockwell-Tor. Noch verhallten ihre zaghaften Rufe »Streik« und »Kommt raus« auf dem menschenleeren Betriebshof. Doch dann, kurz nach 7 Uhr, öffneten sich die Türen und unter Beifall und Bravo-Rufen der inzwischen mehreren hundert Demonstranten, darunter auch der entlassene Betriebsrat, erschien die Rockwell-Belegschaft in ihren Arbeitskitteln. Die ersten Schilder wurden gepinselt und aufgestellt: »Dieser Betrieb wird bestreikt«. Einer der Organisatoren der Demonstration, Andreas Achenbach vom damals einflussreichen Gewerkschaftlichen Arbeitskreis der Studenten (GAST), hatte ein Megafon dabei, und Hansi Koller – von einer Gruppe streikender Arbeiterinnen mit einem Blumenstrauß begrüßt – konnte sich bei seinen Arbeitskollegen für die Solidarität bedanken. Dann riefen Demonstranten und Streikende im Sprechchor »Koller rein«.
Die Protestaktion, von einer größeren Polizeieinheit in der Nähe mit Argusaugen verfolgt, hatte in der Nachbarschaft Aufmerksamkeit erregt. Beifall brandete auf, als an einem Fenster des gegenüberliegenden Getriebewerkes Heynau ein Plakat mit den Worten aufgehängt wurde »Kollegen der Firma Rockwell!! Haltet durch! Wir stehen zu Euch«. Die Belegschaft des Nachbarn Wacker-Chemie kündigte für den Nachmittag den Ausstand an.
Um 10 Uhr kletterten zwei Männer mit Musikinstrumenten auf die Rockwell-Mauer: der Folksänger Perry Friedman aus Kanada mit dem Banjo, gerade zu Besuch in München, und der Kabarettist und Liedermacher Hannes Stütz mit seiner Gitarre. Und für mindestens eine halbe Stunde mutierte die Protestaktion für Hansi Kollers Wiedereinstellung zu einem viel bejubelten Solidaritätskonzert, das mit dem gemeinsamen Gesang von »Vorwärts, und nicht vergessen: Die Solidarität!« endete. Und wie ein Echo folgte darauf die nächste Überraschung: Die etwa 300 Heynau-Arbeiter schlossen sich dem Streik an und reihten sich in die Solidaritätsaktion ein.
Gegen 13 Uhr zog eine große Abordnung von Demonstranten und Streikenden vor den Haupteingang der nahegelegenen BMW-Werke. In machtvollen Sprechchören riefen sie den hunderten Beschäftigten, die sich bereits auf der anderen Seite des noch geschlossenen großen Werktors versammelt hatten, zu: »Seid solidarisch« und »Heute Koller – morgen ihr«.
Irgendwie um diese Zeit könnten die Telefonleitungen zwischen BMW, Wacker-Chemie, Heynau und anderen von dem Protest betroffenen Betrieben und der Geschäftsleitung von Rockwell ziemlich geglüht haben. Man wollte wieder Ruhe im Betrieb.
Jedenfalls verbreitete sich um 14 Uhr die Nachricht wie ein Lauffeuer: Hansi Koller ist wieder eingestellt. Solidarität hatte über Unternehmerwillkür gesiegt. Zwei kräftige, vermutlich griechische »Gast«-Arbeiter nahmen ihren alten, neuen Betriebsrat auf die Schultern und zogen mit ihm im Triumph und unter lautem Beifall wieder ins Rockwell-Werk. Er hatte immer noch den Strauß seiner Kolleginnen in der Hand. Die Fotos zeigen es: Hansi Koller strahlte über das ganze Gesicht. Die Blumen waren welk. Etwa 24 Stunden später billigte die GroKo im Bonner Bundestag die Notstandsgesetze – im Namen des Volkes.