Taten statt Siegerposen
Das sommerliche Wetter meinte es gut mit den zur Ehrung Nikolai Erastowitsch Bersarins Versammelten, als die Uhr der nahen Friedrichsfelder Kirche die zwölfte Tagesstunde verkündete und die Einweihung der Gedenktafel für den ersten Berliner Stadtkommandanten einleitete. Offizielle der Botschaft der Russischen Föderation, Parlamentarier des Senats und des Stadtbezirks Lichtenberg, Mitglieder von Verbänden, Vereinen, Parteien und Bürger, die es für angebracht hielten, versammelten sich an der Friedrichsfelder Kreuzung, an der 75 Jahre zuvor der sowjetische Generaloberst durch einen tragischen Verkehrsunfall mit seinem Dienstmotorrad zu Tode gekommen war.
Es war bekannt, dass Bersarin gern und leidenschaftlich selbst fuhr, sich kurz und entschlossen in alles Mögliche persönlich einmischte und auch kein Gegner des Alkohols war. Die Tatsache, dass er bei dem Unfall nicht seine Offiziersuniform, sondern einen Monteuranzug trug, deutet darauf hin, dass er sich spontan für die Fahrt entschieden hatte, als er am frühen Morgen an der heutigen Kreuzung Straße am Tierpark/Alfred-Kowalke-Straße in hoher Geschwindigkeit gegen einen Militärkonvoi krachte. Wie dem auch sei: Was er in seiner nur 55-tägigen Amtsführung als Berliner Stadtkommandant geleistet hat, ist aller Anerkennung und der dauerhaften Dokumentation wert.
Bersarin war, wie der Lichtenberger Bürgermeister Michael Grunst ausführte, kein Repräsentant von Siegerposen, sondern ein Mann praktischer Taten und unmittelbarer Hilfeleistungen. Er hatte mit seinen Soldaten der 5. Stoßarmee den Oderbrückenkopf bei Küstrin überwunden, am 16. April 1945 in Marzahn die Stadtgrenze erreicht, am 2. Mai die Berliner Kapitulation erkämpft und war bereits am 24. Mai während der noch andauernden Endkämpfe von Marschall Shukow zum Stadtkommandanten ernannt worden. Die Umstellung vom militärischen Befehlshaber zum Kommunalpolitiker, noch dazu unter den damaligen Umständen, fiel ihm nicht leicht. Als gebürtiger Sankt Petersburger hatte er erlebt, was die deutsche Wehrmacht und die SS seinem Land und dessen Menschen angetan hatten. Er wollte jedoch nicht Gleiches mit Gleichem vergelten.
Nach dem Verbot der Nazipartei organisierte er die Anlieferung und Verteilung von Lebensmitteln sowie die Heranschaffung von Milchkühen, die Reparatur der Strom- und Wasserversorgung und die Wiederinbetriebnahme einiger Linien des städtischen Nahverkehrs. Er berief den ersten Berliner Nachkriegs-Magistrat, dem Arthur Werner (als Oberbürgermeister), Pfarrer Heinrich Grüber, Architekt Hans Scharoun und später der Chirurg Ferdinand Sauerbruch angehörten. Er erlaubte die Durchführung von Gottesdiensten und die Wiedereröffnung von Kinos und befahl die Theater-Intendanten zu sich. Am 14. Mai 1945 beriet er mit Ernst Legal, Gustaf Gründgens, Paul Wegener, Victor de Kowa und Heinz Rühmann über die Zukunft der Bühnen. Es ist vorrangig sein Verdienst, dass das Deutsche Theater bereits am 9. September 1945 den Theaterbetrieb mit Lessings »Nathan der Weise« wieder aufnehmen konnte.
Die Historiker Jürgen Hofmann und Götz Aly würdigten in ihren Beiträgen die Verdienste Nikolai Bersarins um das Kriegsende und den Neuanfang und um die Stadt Berlin. Sie erinnerten daran, dass er 1975 postum mit der Ehrenbürgerwürde ausgezeichnet worden war, die ihm jedoch wegen historisch unhaltbarer Anschuldigungen entzogen und im Jahre 2003 vom Senat erneut zuerkannt worden war.
Nicht zu vergessen sind die Verdienste Bersarins um den Berliner Pferdesport. Ohne sein Zutun wäre die Rennbahn Karlshorst wahrscheinlich längst verschwunden. Bersarin, der das Gelände zunächst für militärische Zwecke und zur Kartoffel- und Materiallagerung genutzt hatte, unterstützte die Wiederaufnahme des Rennbetriebes und veranlasste die Umsetzung von Pferdefutter von Mariendorf nach Karlshorst.
Die Referenten fanden Zustimmung für den nicht neuen Vorschlag, ein aussagekräftiges Denkmal für Bersarin zu errichten. Es sollte – so Aly – vor dem Schlossneubau und dem Reichstag stehen; dort also, wo die Rotarmisten die Niederwerfung Hitlerdeutschlands vollendeten. Das erschiene auch mir sinnvoller als die »Einheitswippe« – es sei denn, Friedrich II. repräsentierte hoch zu Ross auf dem einen und Bersarin mit nachgestalteter Beiwagenmaschine auf dem anderen Flügel ein Stück positiver Berliner Geschichte.
Eine Laudatio verdiente im Zusammenhang mit der Würdigung Nikolai Bersarins in den musealen Darstellungen auch der Direktor des Deutsch-Russischen Museums, Jörg Morré, der seine Mühe damit haben dürfte, die Kriegs- und Nachkriegsgeschichte und die damit verbundenen historischen Persönlichkeiten aufgrund der aktuellen Entwicklungen und Tendenzen vertretbar auszubilanzieren.
Und noch etwas bleibt zu ergänzen: Während der Veranstaltung ereignete sich auf der Kreuzung akkurat 75 Jahre danach erneut ein Verkehrsunfall, der den Einsatz von Polizei, Notarzt und Feuerwehr erforderte. Es ist zu hoffen und zu wünschen, dass die Betroffenen keine ernsthaften Körperschäden erlitten haben und bald wieder genesen.
Wolfgang Helfritsch
Daten zu Nikolai Erastowitsch Bersarin: geboren am 1. April 1904 in St. Petersburg, gestorben am 16. Juni 1945 in Berlin, beerdigt auf dem Nowodewitsch-Friedhof in Moskau. Armeeangehöriger seit seinem 14. Lebensjahr.
Krawumm und Bumm-Bumm
Mitte Juni standen vier Männer zur selben Zeit im Rampenlicht, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten: Philipp Amthor, Jann-Henning Dircks, Arnold Schwarzenegger und Boris Becker.
Was Amthor und Dircks verband, war die kleinlaute Reaktion auf ihr Fehlverhalten.
Dircks wurde eine Luftaufnahme zum Verhängnis. Sie zeigte eine Trecker-Demonstration von 500 Bauern in Gunsbüttel bei Oldenswort im schleswig-holsteinischen Kreis Nordfriesland. Die Landmaschinen bildeten in der einbrechenden Dunkelheit mit ihren Scheinwerfern ein großes »SH« für Schleswig-Holstein. Und sie waren zu einer überdimensionalen Darstellung eines Schwertes und eines Pfluges gruppiert, dem Wappen der rechtsextremen Landvolkbewegung in den 1920er Jahren ähnelnd. Hans Falladas zeitgeschichtlicher Roman »Bauern, Bonzen und Bomben«, ein »Miniaturmodell der kranken Weimarer Republik, die sich ihren Henkern selbst auslieferte« (Rowohlt Verlag), kam sofort in den Sinn. Es hagelte Kritik. Und Dircks, Mitinitiator der Demo, sagte den Husumer Nachrichten mehr oder weniger selbstkritisch: »Dass jetzt so ein Shitstorm über uns hereinbricht, damit habe ich nicht gerechnet. … Selbstverständlich distanzieren wir uns von nationalsozialistischem Gedankengut.« Von dem Landvolk-Wappen distanzierte er sich allerdings nicht.
Ein Shitstorm brach auch über Amthor herein, als der Spiegel von seiner Tätigkeit für ein US-amerikanisches Unternehmen und von diversen Vergünstigungen berichtete, die er dadurch empfangen haben soll. Amthor, seit 2017 direkt gewählter Bundestagsabgeordneter der CDU des Wahlkreises Mecklenburgische Seenplatte I – Vorpommern-Greifswald II, veröffentlichte dazu eine Presseerklärung mit der Überschrift: »Es war ein Fehler«. »Ein« Fehler, nicht »mein« Fehler. Und somit ist über diesen sogenannten Wunderknaben der CDU alles Bezeichnende gesagt. Inzwischen hat Amthor seine Kandidatur für den CDU-Landesvorsitz in Mecklenburg-Vorpommern zurückgezogen. »Ech well dech Mores kennen lärnen«, sagt man in deutschen Landen. Die Redensart gibt es schon seit dem 15. Jahrhundert. Die Therapie wirkt noch heute.
Aber es gab es ja noch Arnold aus der Steiermark und Boris aus Leimen.
Arnold Schwarzenegger, ehemaliger Bodybuilder, Action-Hero mit viel Krawumm und von 2003 bis 2011 als Republikaner der 38. Gouverneur Kaliforniens, lief auf zur oscarreifen Rolle seines Lebens. Ausgerechnet auf Trumps bevorzugtem Kurznachrichtendienst Twitter redete er sich in Zorn. Minutenlang nahm er sich die Demonstranten zur Brust, die mit Nazi-Flaggen durch US-amerikanische Städte marschieren, das heißt mit Symbolen, die für das »Abschlachten von Millionen von Menschen stehen«. Der einzige Weg, »um die lauten und bösen Stimmen des Hasses zurückzuschlagen«, sei, ihnen entgegenzutreten »mit kräftiger Stimme, mit der Stimme der Vernunft«. »Das schließt Sie ein, Präsident Trump. Als Präsident dieses großen Landes haben Sie die moralische Verpflichtung für die unzweideutige Botschaft, dass Sie nicht für Hass und Rassismus stehen. Lassen Sie sich helfen, diese Rede zu schreiben.«
Und Arnold macht Vorschläge: Als Präsident und Republikaner müsse Trump die weiße Vorherrschaft zurückweisen. In dem Land, das gegen die Armee Hitlers gekämpft habe, sei kein Platz für Naziflaggen. »War das schwer?«, fragt er und hält dabei eine kleine Trump-Figur hoch. »Sehen Sie, das war nicht schwer,« sagt der Terminator von einst und lässt dabei die Präsidenten-Figur beifällig mit dem Kopf nicken.
Direkt wendet sich Schwarzenegger mit einer klaren Aussage an die »neuen Nazis«, an die »weißen Nationalisten« und »Neo-Konföderierten«: »Your heroes are losers.« »Ihr unterstützt eine verlorene Sache. Ich kenne die originalen Nazis. Ich bin 1947 in Österreich geboren.« Und er berichtet, während im Hintergrund Aufnahmen von Leichenbergen mit KZ-Opfern und nationalsozialistische Umzüge gezeigt werden, von Kriegsheimkehrern, von Tätern: »Und ich sage, diese Geister, die Ihr ideologisiert, haben ihr restliches Leben in Schande verbracht. Und jetzt sind sie in der Hölle.« (Anm. K. N.: Jeweils eigene Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch.)
Noch schnell zu Boris Becker, der diesmal Schlagzeilen machte als Teilnehmer einer Black-Lives-Matter-Demo in London, gegen Rassismus. Dafür erntete er vielerlei Kritik auf Twitter. Aber der Tennis-Profi schlug zurück, ebenfalls auf Twitter, ging in die Offensive, war plötzlich wieder wie einst in Wimbledon »Bumm-Bumm-Boris«: »Ich bin erschüttert, schockiert, erschrocken über die vielen Beleidigungen n u r aus Deutschland für meine Unterstützung der #BlackLivesMatter-Demo gestern in London! Warum, weshalb, wieso??? Sind wir ein Land von Rassisten geworden ...?« (zitiert nach stern online).
Arnold und Boris, das habt ihr gut gemacht. Respekt.
K. N.
Aussage gegen Aussage
Zerschlagung und Privatisierung drohen. Dennoch beschloss die rot-rot-grüne Koalition Berlins im Mai, zwei Teilnetze der S-Bahn in getrennten Losen auszuschreiben: die Verbindungen der Nord-Süd-Richtung sowie die Stadtbahn mit ihren Strecken in Ost-West-Richtung. Da neben dem Betrieb auch Wagenbeschaffung, Wartung und Instandhaltung in Einzellosen ausgeschrieben werden, können mehrere Anbieter im wahrsten Sinne des Wortes zum Zuge kommen, während die Fahrgäste eventuell auf der Strecke bleiben (siehe Ossietzky 23/2019).
Die grüne Verkehrssenatorin Regine Günther verspricht sich von der Ausschreibung mehr Wettbewerb. Was SPD und Linke umtreibt, bleibt unklar. Für den Fall, dass die Tochter der Deutschen Bahn AG (DB), die Berliner S-Bahn GmbH, die Ausschreibungen nicht gewinnt, droht den derzeitigen S-Bahn-Angestellten Ungemach. Rechtsanwalt Benedikt Hopmann geht davon aus, dass sich dadurch »die Arbeitsbedingungen verschlechtern werden [...] Ja, es ist bisher nicht einmal klar, ob bei einem Betreiberwechsel die Übernahme aller Arbeitskräfte durch den neuen Betreiber gesichert werden kann […]. Allein das müsste für einen rot-rot-grünem Senat Grund genug sein, S-Bahn-Netzteile nicht auszuschreiben«. Die Ausschreibung gefährde die einheitliche Interessenvertretung, und die Beschäftigten der S-Bahn verlören Tarifverträge, für die sie viele Jahre gekämpft haben, so die weitere Analyse des Fachanwalts für Arbeitsrecht.
Der Widerstand gegen die S-Bahn-Ausschreibung, der sich unter anderem im Bündnis »Eine S-Bahn für Alle« formiert hat, wird vom Senat bisher weitgehend ignoriert. Das Bündnis hatte wegen der Corona-Einschränkungen um ein Moratorium gebeten, weil eine öffentliche Diskussion des Vorhabens nicht möglich war. Dennoch trieb der Senat seine Pläne ungebremst voran und veröffentlichte Mitte Juni die Ausschreibung.
Die Gegner zeigten verschiedene Alternativen zur Ausschreibung auf. Zum Beispiel könnten die Länder Berlin und Brandenburg mit der DB und ihrer Eigentümerin, der Bundesrepublik, über einen Einstieg in die S-Bahn GmbH verhandeln. Kontrollieren beide Länder die Gesellschaft, bedarf es keiner Ausschreibung.
Gegenüber Bürgerinnen und Bürgern, die sich mit Einzelpetitionen gegen die Ausschreibung gewandt haben, behauptet der Senat in einem Antwortschreiben: »Das Land Berlin hat […] wiederholt Anstrengungen unternommen, um die S-Bahn Berlin GmbH zu erwerben.« Ob das wahr ist, muss bezweifelt werden, zumindest, was die letzten zehn Jahre angeht.
Am 17. Juni sollte auf Antrag der Linksfraktion im Verkehrsausschuss des Bundestages eine »Selbstbefassung« zur Berliner S-Bahn-Ausschreibung stattfinden. Vorab musste das Bundesverkehrsministerium einen Bericht abgeben, der Ossietzky vorliegt. Darin heißt es: »Auf Nachfrage bei der Deutschen Bahn AG (DB AG) wurde mitgeteilt, dass das Land Berlin im Vorfeld der Ausschreibung des Teilnetzes ‚Ring‘ vor etwa 10 Jahren bei der DB AG angefragt hat, ob sie die S-Bahn Berlin GmbH an das Land verkaufen würde. Dies hat die DB AG jedoch abgelehnt, da der SPNV [Schienenpersonennahverkehr; K. K.] in Deutschland zum Kerngeschäft des Konzerns gehört. Weitere Anfragen oder Gespräche darüber hat es, nach Auskunft der DB AG, seither nicht gegeben.« Carl Waßmuth von der privatisierungskritischen Organisation Gemeingut in BürgerInnenhand argwöhnt, dass die Aussage des Senats, die DB verkaufe nicht, ein Vorwand sei, um die von Finanzsenator Matthias Kollatz und der Verkehrssenatorin Regine Günther politisch erwünschte Privatisierung als zwingend hinzustellen. Die Bundestagsabgeordnete Sabine Leidig (Die Linke) findet angesichts des Berichts: »10 Jahre Funkstille sind genug! Das DB-Management sollte endlich direkte Verhandlungen mit Berlin und Brandenburg über die Zukunft der Berliner S-Bahn anstreben. Ein Einstieg beider Länder ermöglicht die Direktvergabe und verhindert die drohende Zerschlagung und Privatisierung.«
Im gleichen Bericht führt das Bundesverkehrsministerium übrigens aus, dass bei Ausschreibung »nach einem Betreiberwechsel in der Anfangszeit betriebliche Probleme auftreten könnten, die auf mangelnde Erfahrung in einem Netz zurückzuführen sind. In der Regel spielen sich die betrieblichen Prozesse aber nach einer Eingewöhnungsphase ein.«
In der Regel? Eingewöhnungsphase? Die Berlinerinnen und Berliner haben keine Lust auf ein neues S-Bahn-Chaos. Warum muten SPD und Linke ihnen so etwas zu? Und weshalb die Grünen dem Land nicht den Zugriff auf den öffentlichen Personennahverkehr sichern, bleibt ebenfalls unverständlich. Für das Aufhalten des Klimawandels ist die Verfügung über das wichtigste Transportmittel Berlins zentral.
Übrigens: Die Selbstbefassung zur S-Bahn-Ausschreibung im Bundestagsverkehrsausschuss wurde kurzfristig am 17. Juni von den Koalitionsfraktionen CDU/CSU und SPD vertagt. Da die nächste Sitzung am 1. Juli die letzte vor der Sommerpause ist und deren Tagesordnung wegen des Konjunkturpakets et cetera schon jetzt überbordet, kommt das Thema vermutlich erst nach der Sommerpause zur Sprache. Die Zukunft einer Hauptschlagader des öffentlichen Personennahverkehrs in der Bundeshauptstadt ist nicht wirklich wichtig.
K. K.
Gefälliger Blödsinn
Die Zahl der Rezensenten schwindet wie deren Möglichkeit, Besprechungen in Printmedien zu platzieren. Die Regionalpresse erwärmt sich allenfalls noch für Bücher mit regionalem Bezug, die Überregionalen ersticken an der Fülle der meist unverlangt eingehenden Angebote, obgleich doch in Summa immer weniger Freie die Meinungsfreiheit nutzen, um ihre freie Meinung über Bücher zu äußern. Erstens weil die Aussicht auf Drucklegung gering ist und zweitens das Verhältnis von Aufwand und Nutzen noch geringer. Nimmt man’s mit der Lektüre und deren intellektueller Verarbeitung nämlich ernst, sind zwei, drei Arbeitstage dahin, und dafür gibt es dann zehn oder zwanzig Cent pro Druckzeile. Davon kann keiner existieren.
Das erklärt, weshalb wohl die Mehrheit der Besprechungen oft aus Zuneigung oder gar Freundschaft zum Autor entsteht. Die Gefälligkeit wird in uneingeschränkter Fürsprache und hymnischer Anerkennung des Werkes sichtbar, die Sympathie für den Autor schwingt in jeder Zeile mit. Um aber diesem klebrigen Eindruck entgegenzuwirken, muss auch unbedingt Kritisches eingeflochten werden. Aber keinesfalls an die Adresse des Autors gerichtet. Bleibt also nur der Verlag, der den so rühmenswerten Text gedruckt hat.
Beliebte Monita sind Druckfehler, ein fehlendes Personenregister, das angeblich miserable Lektorat, schlechtes Papier, die mangelhafte Bindung, das Layout, die Typographie und vor allem die unzureichenden Bemühungen des Verlages, das hervorragende Buch im weltweiten Handel zu platzieren, vor allem im verbliebenen kleinen Buchladen an der Ecke ... Geschenkt.
Die Varianten derartiger Würdigungen werden durch kreative Neuschöpfungen oder durch Rollentausch stetig bereichert, wie ich unlängst bemerkte. So besprach ein Rezensent jetzt ein bereits vor Jahren erschienenes Buch und nannte es »eine interessante und kenntnisreiche Erzählung der ›Wendezeit‹«, was gewiss zutraf. Doch am Ende seiner positiven Anmerkungen zur Publikation befand er, was schlechtes Deutsch und schlechter Stil zugleich war, dass alles »durch den Umstand getrübt wird, dass der Autor jahrelang Bildzeitungskorrespondent war – nicht unbedingt der Ausbund von Seriosität«.
Da möchte man doch glatt dem Rezensenten, der gelegentlich selbst Bücher verfasst, in die Besprechung seines nächsten Druckwerks nicht minder irrational hineinschreiben: »Tolles Buch, aber leider wird der Eindruck durch den Umstand getrübt, dass der Autor aus Schweinfurt stammt – nomen est omen.«
Vielleicht liegt sein Auszug dort bereits so lange zurück, wie der von ihm bloßgestellte Buchautor beim Boulevard-Blatt seine Brötchen verdiente. Und zweitens: Was überhaupt hat das eine mit dem anderen zu tun?
Wie man sieht, kleben die Westdeutschen ihren Landsleuten gern denunziatorische Etiketten an. Und die haften, wie wir Ostdeutschen aus eigenem Erleben wissen, dreißig Jahre und länger.
Frank Schumann