Die gegenwärtige Entwicklung in der Türkei ist widersprüchlich und unübersichtlich – vor allem im Hinblick auf die drängende Kurdische Frage und den geplanten EU-Beitritt. Im Mai sprach der türkische Regierungschef Erdogan von »faschistischer« Denk- und Herangehensweise – und meinte wirklich den skandalösen Umgang des türkischen Staates mit Minderheiten und die grausame Vertreibung von Menschen unterschiedlicher Ethnien aus der Türkei. Mit dieser Kritik brach Erdogan ein Tabu. Postwendend erntete er wütende Abwehrreaktionen der türkischen Nationalisten, die in politischen Parteien und Justiz, in Streitkräften und Sicherheitsapparaten immer noch dominieren. Kurze Zeit später wurde bekannt, daß Offiziere des Generalstabs einen Geheimplan zur Destabilisierung der islamisch-konservativen Regierung Erdogans unterzeichnet hatten.
Ebenfalls im Mai sprach Staatspräsident Abdullah Gül von einem Problem, das es bislang offiziell überhaupt nicht geben durfte: »Ob man es nun Terrorproblem, Südostanatolien-Problem oder Kurdenproblem nennt«, so Gül, »es ist das wichtigste Problem der Türkei, und es muß gelöst werden.« Auch dieser Satz war ein Tabubruch, denn nach offiziellem Staatsverständnis kennt die Türkei nur Türken. Und auch Erdogan sieht aktuell die Chance für einen Durchbruch im Kurden-Konflikt. Eigentlich ein Sakrileg gegen das »Türkentum« und den türkischen Nationalstaat, dessen Ehre unter strafrechtlichem Schutz steht.
Diesen Äußerungen höchster staatlicher Amtsträger, die in der türkischen Öffentlichkeit eine breite Diskussion ausgelöst haben, waren herbe Repressionsmaßnahmen vorausgegangen. Eine Durchsuchungs- und Festnahmewelle richtete sich gegen mehr als 400 Aktivisten der Kurdenpartei DTP, die von der Justiz als verlängerter Arm der militanten kurdischen Arbeiterpartei PKK betrachtet wird. Die Verhaftungswelle erfaßte auch Gewerkschafter, Menschenrechts- und Friedensaktivisten. Die Polizei durchsuchte Büros und Wohnungen im ganzen Land – auch unter Einsatz von Antiterroreinheiten – und verhaftete zahlreiche Funktionäre.
Ethnische und religiöse Minderheiten wie Kurden, Armenier und Christen sind in der Türkei nach wie vor Diskriminierungen und politischer Verfolgung ausgesetzt – zumal, wenn sie kulturelle oder gar politische Rechte einfordern. Trotz mancher Gesetzesreformen und positiver Ansätze werden kurdische Sprache und Kultur immer noch mit zahlreichen Behinderungen und Verboten unterdrückt. Nach wie vor werden Politiker verurteilt, weil sie Reden auf kurdisch hielten. Nach wie vor werden kurdische Medien, wie unlängst die Tageszeitung Günlük, verboten – wegen angeblicher Propaganda für die PKK. Weiterhin und sogar noch stärker als bisher verfolgen staatliche Stellen Menschen wegen unliebsamer Meinungsäußerungen oder wegen der Verwendung von Buchstaben (X, Q, W), die es nur im Kurdischen, nicht aber im Türkischen gibt. 2008 führte die Justiz 435 Strafverfahren wegen Meinungsäußerungen.
Nach Informationen türkischer Menschenrechtsgruppen nehmen Folter und Mißhandlungen im Gewahrsam der Sicherheitskräfte in den letzten Jahren wieder zu – trotz des regierungsamtlichen Programms »Nulltoleranz gegenüber Folter«. Wie sie berichten, kommt es, seit 2006 das Antiterrorgesetz verschärft worden ist, besonders in den ersten Tagen des Polizeigewahrsams wieder vermehrt zu Mißhandlungen. 2006 und 2007 sollen selbst nach Angaben des türkischen Justizministeriums mehr als 4.700 Bürger Klage wegen illegaler und exzessiver Polizeigewalt eingereicht haben. Doch die Ahndung dieser Polizeigewalt verläuft schleppend – und häufig verurteilt erst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, nachdem alle nationalen Rechtsmittel versagt haben, die Türkei wegen solcher Vorfälle und spricht den Opfern Schadensersatz zu. Nach dem neuesten EU-Fortschrittsbericht und den Lageberichten des Auswärtigen Amtes werden die mit dem EU-Beitrittsprozeß eingeleiteten Reformen nur schleppend umgesetzt und haben bislang kaum zu strukturellen Veränderungen geführt. Die Defizite der Menschenrechtspraxis und der Demokratisierung sind offenkundig.
Auf der anderen Seite gehen die türkischen Strafverfolgungsorgane inzwischen auch gegen den berüchtigten »tiefen Staat« vor – jenes geheime, undurchdringliche Terrornetzwerk aus Militär, Sicherheitskräften und Bürokratie. Mutmaßliche Mitglieder des illegalen Geheimbundes »Ergenekon« stehen inzwischen vor Gericht und müssen sich für Putschversuche, Attentate, Entführungen, Folterungen, Morde, illegalen Waffenbesitz und Infiltration von Armee und Polizei verantworten. Zu den inzwischen fast 150 Angeklagten gehören auch Generäle und pensionierte Angehörige des Generalstabs der türkischen Armee.
Gegen alle Behinderungsversuche der Armee kommen inzwischen auch türkische Staatsverbrechen der vergangenen zwei Jahrzehnte ans Licht der Öffentlichkeit. Im schmutzigen »Krieg gegen den Terror« sind Tausende kurdischer Dörfer zerstört, Zehntausende politisch mißliebiger Menschen umgebracht und vertrieben worden, Abertausende einfach verschwunden. Nun durchwühlen die Ermittler in Südostanatolien Felder, öffnen Felsspalten, durchsuchen Holzöfen und Brunnen – auf der Suche nach Überresten von Menschen, die den extralegalen Hinrichtungen von Todesschwadronen zum Opfer fielen. Die Türkei scheint erstmals bereit, sich mit ihrer jüngeren Vergangenheit auseinanderzusetzen.
Mit dem Bruch von Tabus und finsteren Staatsgeheimnissen scheint eine starke gesellschaftliche Blockade immer brüchiger zu werden. Selbst hohe türkische Offiziere und Generale, inzwischen längst pensioniert, halten seit geraumer Zeit das militärische und repressive Vorgehen in der Kurdenfrage, das sie selbst forciert hatten, für gescheitert und fordern einen Richtungswechsel. Auch viele Kurden, die erstmals mit einer eigenen Fraktion im türkischen Parlament vertreten sind und nach den Kommunalwahlen im März 2009 die Anzahl ihrer Bürgermeister von 54 auf 99 fast verdoppeln konnten, sehen inzwischen Anzeichen für eine Wende und Dialogbereitschaft. Selbst die Haftbedingungen des früheren PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan, der auf der Insel Imrali im Marmarameer isoliert seine lebenslange Haftstrafe verbüßt, sollen gelockert werden. Es ist geplant, weitere Häftlinge auf die Gefängnisinsel zu verlegen, so daß Öcalan, der bislang einzige Gefangene, mit ihnen wenigstens kommunizieren könnte.
Zeitgleich setzt der türkische Staat aber auf Militäraktionen gegen die PKK im Nordirak. Der türkische Generalstabschef Ilker Basbug droht, sämtliche PKK-Kämpfer zu eliminieren. Nach wie vor haben die türkischen Streitkräfte einen inakzeptablen politischen Einfluß auf die Politik – auch wenn erst kürzlich die Befugnisse der Militärgerichte per Gesetz erheblich eingeschränkt und schon zuvor die Kompetenzen des von der Militärführung dominierten Nationalen Sicherheitsrates beschnitten wurden. Und niemand auf Staatsebene wagt es gegenwärtig, die PKK, den Staatsfeind Nr. 1, als Gesprächspartner zu akzeptieren, um die Kurdische Frage friedlich zu lösen. Da hilft es auch nicht viel, daß die PKK immer wieder einen einseitigen Waffenstillstand verkündet und für Frieden wirbt. Und angesichts der staatlichen Repression gegen die DTP hat man den Eindruck, als solle diese legale Kurdenpartei und damit die einzige kurdische Opposition im Parlament funktionsunfähig gemacht und als möglicher Verhandlungspartner ausgeschaltet werden.
Diese Widersprüche sind Resultate erbitterter Richtungskämpfe um die Zukunft der Türkei, die sich unbestreitbar in einem Modernisierungsprozeß befindet. Dieser Prozeß hat sich im Laufe der EU-Beitrittsdebatte beschleunigt, hat die gesellschaftlichen Widersprüche verschärft und starke Abwehrreflexe der beharrenden nationalistisch-kemalistischen Kräfte mobilisiert. So zögerlich er auch voranschreitet, so sicher vermag er manche gesellschaftliche Blockade zu lösen – eine Wirkung, die letztlich auch helfen kann, die Kurdenfrage demokratisch und gerecht zu lösen. Tatsächlich sehen türkische Menschenrechtsgruppen in der EU-Beitrittsperspektive eine historische Chance, die Menschenrechtssituation zu verbessern, die Demokratisierung der Türkei voranzubringen und den türkisch-kurdischen Konflikt dauerhaft zu lösen. Mit herben Rückschlägen muß allerdings immer wieder gerechnet werden.
Rolf Gössner, Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte, hat nach seiner jüngsten Türkei-Reise als Mitglied einer Delegation der Deputation für Inneres der Bremer Bürgerschaft nach Izmir über das Ilisu-Staudamm-Projekt geschrieben (Ossietzky 12/09) und bereitet weitere Berichte vor. Inzwischen sind Deutschland, Österreich und Schweiz als Bürgschaftsgeber endgültig aus der Finanzierung dieses Staudamm-Projektes ausgestiegen – wegen nicht erfüllter Auflagen, aber nicht zuletzt auch dank der starken internationalen Proteste. Ob die Türkei gleichwohl an dem zerstörerischen Projekt festhält, ist noch offen.