Die große Mehrheit der Deutschen ist unzufrieden mit der Gerechtigkeit in der Bundesrepublik. Nach letzten Umfragen betrachten weniger als 30 Prozent die Verhältnisse als gerecht. Eine solche Einschätzung ist, um beim Wort zu bleiben, ungerecht. Immerhin leben wir in einem Rechtsstaat, und »Rechtsstaatlichkeit bedeutet«, das wußte vor Jahrzehnten schon der Staatsrechtler Klaus Stern, »Ausübung staatlicher Macht auf der Grundlage von verfassungsmäßig erlassenen Gesetzen mit dem Ziel der Gewährleistung von Freiheit, Gerechtigkeit und Rechtssicherheit«. Eine eingängige Definition, sie ist vielerorts zu finden, auch in Meyers Neuem Lexikon: »Materiell bedeutet Rechtsstaat die Verpflichtung der Staatsgewalt auf die Rechtsidee der Gerechtigkeit ...«
Woher also jetzt die Unzufriedenheit? Der Rechtsstaat ist doch, wie allgemein bekannt, die »größte Errungenschaft der deutschen Geschichte«. Und er funktioniert, wie regierende Politiker uns immer wieder versichern. Die CDU hat es in ihrem faszinierenden Stuttgarter Parteitagsdokument »Geteilt. Vereint. Gemeinsam.« zur Vorbereitung auf das 20. Jubiläum der »friedlichen Revolution« kurz und präzise so formuliert: »Der Rechtsstaat hat sich bewährt.« Wer sollte es besser wissen als die Partei, die sich christlich nennt und für die die Bibel gewissermaßen das originäre Grundsatzprogramm ist. Allein im Alten Testament kommt das Wort »Gerechtigkeit« oder die Wortwurzel 523 mal vor. Gott wird darin als der Gerechte bezeichnet, und seine Gerechtigkeit zielt auf die Beseitigung ungerechter Verhältnisse. Er sagt von sich selbst: »Ich bin Jahwe, der Gnade und Recht und Gerechtigkeit auf Erden ausübt« (Jeremia 9,23). Auch im Neuen Testament ist der Begriff Gerechtigkeit ein Schlüsselbegriff, denn laut Apostel Paulus hat sich in Christus Gottes Gerechtigkeit offenbart: Er ist »uns von Gott gemacht ... zur Weisheit und zur Gerechtigkeit« (1. Korinther 1,30).
Wenn der Rechtsstaat und der Allmächtige die Gerechtigkeit sichern und die regierende christliche Partei konstatiert, daß sich dieser Staat bewährt hat, dann muß alles in Butter sein. Und wenn es doch ein paar kleine Fälle gibt, die an der Gerechtigkeit zweifeln lassen, können das nur Ausnahmen sein, die bekanntlich die Regel bestätigen:
– Laut OECD haben Armut und ungleiche Verteilung der Einkommen in Deutschland wie in keinem anderem Industrieland zugenommen, und der DGB beklagt, daß die Verteilungsungerechtigkeit »immer drastischere Züge« annimmt. Ein drastisches, aber doch symptomatisches Beispiel: Die Firma Porsche steckt in Milliardenschulden, doch ihr Chef Wiedeking bezieht ein Jahresgehalt von 77,4 Millionen Euro. Der Stuttgarter Helmut R. ist verschuldet und seit vier Jahren ohne Job; für Essen, Kleidung und seine kleine Wohnung erhält er 725 Euro im Monat, immerhin 0,012 Prozent gemessen am Gehalt des schwer arbeitenden Wiedeking.
– Vor dem Gesetz sind alle gleich. Die »kriminelle Tat« der fristlos entlassenen Supermarktkassiererin »Emely« ist bekannt. Der Fall steht für viele andere, auch für den einer Verkäuferin in Friedrichshafen am Bodensee. Nachdem zwei Detektive in der Kasse einen Fehlbetrag von 1,36 Euro festgestellt hatten, wurde sie gefeuert. In Leipzig wurde eine junge Frau, die durch Schwarzfahren öffentliche Verkehrsbetriebe um ein paar Euro betrogen hatte, von ihrem 14 Tage alten Baby weggerissen und eingesperrt. Ex-Postchef Zumwinkel betrog den Staat um mehr als ein Million Steuern, erhielt eine Bewährungsstrafe, zahlte nach und fordert eine Auszahlung seiner Pension in Höhe von 20 Millionen Euro. Selbstverständlich alles nur Einzelfälle, ebenso wie die kleine Geldstrafe für Ex-Innenminister Kanther, der über 20 Millionen DM in die Steuerparadiese Schweiz und Liechtenstein auf geheime Parteikonten verschob und sie mit Millionenprofit als »anonyme jüdische Vermächtnisse« zurück transferierte.
– Nahezu 20 Jahre nach der »Wiedervereinigung« gibt es in Ost und West kein gleiches Einkommen für gleiche Arbeit, dafür aber eine doppelt so hohe Arbeitslosigkeit, schlechtere Ausbildung, geringere Berufschancen, und der Rentenwert Ost liegt weiterhin beträchtlich unter dem im Westen des gemeinsamen Vaterlandes. Doch die regierenden Gutmenschen beklagen, daß sich die Mehrheit der heimgeholten Brüder und Schwestern als »Bürger 2. Klasse« fühlen.
– Deutschland gilt noch immer als eines der reichsten Länder der Erde, aber in den letzten 20 Jahren ist die Kinderarmut stärker gestiegen als in den allermeisten OECD-Staaten. Jedes fünfte Kind lebt in relativer Armut. Aber das muß uns nicht beunruhigen, denn wir wissen ja aus dem Lexikon: Die Staatsgewalt ist auf die Rechtsidee der Gerechtigkeit verpflichtet.
– In keinem anderen Industrieland der Welt hängt die Bildung der Kinder und Jugendlichen so eng mit der sozialen Herkunft zusammen wie in unserer Bundesrepublik. Gerade einmal sechs von 100 Arbeiterkindern haben die Chance, ein Hochschulstudium zu beginnen, Dagegen besuchen 49 von 100 Jugendlichen aus einkommensstarken Familien eine Universität. Macht nichts, Ziel der Gesetze und der auf sie gegründeten staatlichen Macht ist doch die Gewährleistung von Gerechtigkeit.
– Der Spruch: »Weil Du arm bist, mußt Du früher sterben« ist so zutreffend wie in den vergangenen Jahrhunderten. Familien mit unter 1.500 Euro Monatseinkommen haben eine durchschnittliche Lebenserwartung, die neun Jahre niedriger ist als die derjenigen, die über 4.500 Euro verfügen. Alle Untersuchungen bestätigen: Je höher das Einkommen, desto länger in der Regel das Leben.
– Die Zweiklassenmedizin, vor der oft gewarnt wird, ist längst Realität. Wohlhabende Privatversicherte werden als »Premiumpatienten« behandelt, bei Terminvergabe, Untersuchung, Therapie bevorzugt und in nahezu jedem größeren Klinikum in Privatstationen gehegt und gepflegt. Arme gesetzlich Versicherte sind in der Regel Patienten zweiter Ordnung und Opfer eines immer chaotischeren Gesundheitssystems. Aber auch wenn die Ausnahme zur Regel geworden ist, müssen wir weiterhin fest an die Gerechtigkeit glauben. Und an den Rechtsstaat, der sie uns vielleicht sogar schon hier auf Erden beschert.
– Als Dank für den Bankenrettungsschirm zahlten die deutschen Geldhäuser ihren Beschützern, den Regierungsparteien CDU und SPD sowie der FDP, auch 2008 fette Großspenden. Allein die Deutsche Bank, die »Leistung aus Leidenschaft« erbringt, überwies ihnen 500.000 Euro. Die Linkspartei, deren jetziger Ko-Vorsitzende Lafontaine seit einem Jahrzehnt eine strengere internationale Finanzkontrolle forderte, ging verständlicherweise leer aus. Dafür aber wird sie von den freien Medien diffamiert und medial grob benachteiligt. Strafe muß sein.
– Im deutsch-deutschen »Einigungsvertrag« heißt es: »Die Vertragsparteien bekräftigen ihre Absicht, daß unverzüglich eine gesetzliche Grundlage dafür geschaffen wird, daß alle Personen rehabilitiert werden können, die Opfer einer politisch motivierten Strafverfolgungsmaßnahme oder sonst einer rechtsstaats- und verfassungswidrigen gerichtlichen Entscheidung geworden sind.« Die Umsetzung ist unterschiedlich. Den in der Bundesrepublik in den 50er und 60er Jahren drangsalierten und eingesperrten Kommunisten und linken Oppositionellen werden bis heute politische Rehabilitierung und Entschädigung verweigert. »Wirtschaftlich bedürftige« Opfer politischer Verfolgung in der DDR erhalten eine Opferrente.
– Das Gespenst der vor 20 Jahren dahingeschiedenen DDR-Staatsicherheit geht immer noch umher, ihre Akten sind offengelegt, sie werden je nach politischem Bedarf durchforscht, instrumentalisiert. Das höchst lebendige Bundesamt für Verfassungsschutz und die anderen Geheimdienste agieren in ihren Grauzonen, steuern ihre V-Männer und -Frauen, sammeln Unmengen von Informationen; ihre Dokumente sowie Personendossiers bleiben geschlossen.
– Deutsche Antifaschisten und Patrioten, die zu Beginn des Zweiten Weltkrieges die Hitlerwehrmacht verließen und als Partisanen und Angehörige der Resistance gegen die faschistische Barbarei kämpften, wurden sechseinhalb Jahrzehnte lang nicht rehabilitiert, Helfer von Verfolgten als »Kriegsverräter« diffamiert. Hohe und höchste Wehrmachtsoffiziere, die mehr als ein Jahrzehnt Hitlers Befehle bedingungslos befolgt hatten, und sich kurz vor zwölf zur »Rettung des Vaterlandes« vor den Russen, vielleicht auch zur Rettung der eigenen Haut zu Widerstand und Attentat aufrafften, werden nun als »Helden der Nation« gewürdigt. Ehre, wem Ehre gebühret!
Obwohl das alles nur Lappalien sind, fühlten sich 2001 die ehemaligen DDR-Bürgerrechtler Sebastian Pflugbeil, Wolfgang Ullmann, Hans-Jochen Tschiche, Christian Führer bewogen, in einer Erklärung mit dem Titel »Wir haben es satt« auszurufen: »Wir sind verblüfft und entsetzt, daß unsere Sehnsucht nach Gerechtigkeit mit höhnischem Gelächter und dem süffisanten Verweis auf den Rechtsstaat beantwortet wird.« Offenbar hatten sie noch nicht verstanden, daß es sich bei allem, was sie monierten, nur um kleine Ausnahmen im überaus gerechten Rechtsstaat handelte. Wäre dem nicht so, dann würden doch unsere christlichen Staatenlenker gar in Konflikt mit dem von ihnen so verehrten deutschen Papst Benedikt XVI. geraten. Schließlich hat dieser, Augustinus zitierend, in seiner Enzyklika über die christliche Liebe festgestellt: »Die gerechte Ordnung der Gesellschaft und des Staates ist zentrale Aufgabe der Politik. Ein Staat, der nicht durch Gerechtigkeit definiert wäre, wäre nur eine große Räuberbande.« Nein, um Gottes willen, wir sind nicht unter die Räuber gefallen, sondern lediglich unter die Gerechtigkeitsapostel.