Der baden-württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger erhebt seit Jahren den Anspruch, gemeinsam mit der FDP das »Kinderland Nr. 1« zu regieren. Die miserabel entlohnten Erzieherinnen und Erzieher an Kindertagesstätten zeichneten in diesen Wochen bei ihren Streikaktionen ein weniger günstiges, aber realistischeres Bild – und zogen sich prompt heftige Beschimpfungen zu. Am heftigsten aber reagierte nicht Oettinger, kein Christ- oder Freidemokrat, sondern ein Grüner: der Freiburger Oberbürgermeister Dieter Salomon. »Die Gewerkschaft ver.di nimmt Eltern und Kinder in Geiselhaft«, ließ er sich vernehmen und forderte gar eine »gesellschaftliche Ächtung des Kita-Ausstandes«, womit er auch sein eigenartiges Verständnis des Grundgesetzes deutlich machte, das das Streikrecht als eins der in ihrem Wesensgehalt unantastbaren Grundrechte garantiert.
Salomon machte seine Äußerungen auf einer Sitzung der kommunalen Arbeitgeberverbände, deren Landesvorsitzender er gegenwärtig ist. Bei der CDU fand er Beifall, doch bei vielen Eltern, die großenteils hinter den streikenden Erzieherinnen und Erziehern stehen, machte er sich unbeliebt, erst recht bei den Streikenden selber. Von einem Oppositionspolitiker hatten sie andere Reaktionen erhofft und erwartet.
Seit die Landesregierung die Zuschüsse an die Kindertagesstätten merklich gekürzt hat, fehlt es an Personal. Die Erzieherinnen – der Anteil der Erzieher ist gering – gehören zu den am schlechtesten bezahlten Angestellten des öffentlichen Dienstes. An den Schulen des Südweststaates, des angeblichen »Kinderlandes Nr. 1«, sieht es nicht besser aus. Die Klassen sind überfüllt. Der Lehrermangel nimmt zu. Es mangelt nicht etwa an Bewerbern für Lehrerstellen, aber wie schon im Vorjahr werden viele Absolventen der Pädagogischen Hochschulen trotz vorheriger Zusagen und trotz guter Abschlußnoten nicht eingestellt. An Grund- und Hauptschulen erhält in diesem Jahr nur jeder vierte Junglehrer eine Stelle. Die anderen stehen auf der Straße. An den Sonderschulen ist die Lage ähnlich. Überlastete Lehrer, arbeitsloser Nachwuchs, Eltern und SchülerInnen müssen sich erst recht gefoppt vorkommen, wenn sie in Zeitungen anderer Bundesländer teure Anzeigen finden, mit denen Baden-Württemberg Lehrer sucht.
Das wäre eigentlich Stoff für Oppositionspolitiker. Doch die Grünen, die in Baden-Württemberg ihre Hochburg haben, neigen längst nicht mehr dazu, sich mit solchen Mißständen zu befassen. Sie verfolgen ein höheres Ziel: Sie möchten möglichst bald an der Regierung beteiligt werden. In vielen Rathäusern badischer und schwäbischer Städte arbeiten Christdemokraten und Grüne schon jetzt eng zusammen. Darum verzichten die Grünen darauf, Anstoß an der Regierungspolitik zu nehmen, zum Beispiel daran, daß die Regierung sich weigert, einen Armutsbericht vorzulegen. Im »Kinderland Nr. 1« lebt jedes achte Kind in einer Familie, die von Sozialhilfe abhängt. Ein Armutszeugnis – auch wenn die Armut anderswo noch größer ist.