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Die Armut ist gewollt  (Christoph Butterwegge)

Armut ist ein merkwürdiges Phänomen: Niemand will davon betroffen sein, niemand bejaht sie offen oder wünscht sie anderen. Fast jeder, der über sie schreibt oder spricht, stellt sie als eine Gefahr nicht nur für die einzelnen Betroffenen, sondern auch für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, wenn nicht gar für das bestehende Wirtschafts- und Gesellschaftssystem dar. Und doch – obwohl zumindest ein so reiches Land wie die Bundesrepublik Deutschland ihre sozialökonomischen Entstehungsursachen beseitigen könnte, wenn der politische Wille dazu vorhanden wäre und entsprechende Anstrengungen unternommen würden – gibt es sie immer noch, ja seit geraumer Zeit sogar in wachsendem Maße.

Wie ist dieses Paradox zu erklären?

Armut entsteht nicht trotz, sondern durch Reichtum. Bertolt Brecht hat es während des Zweiten Weltkrieges in einem Vierzeiler folgendermaßen ausgedrückt: »Armer Mann und reicher Mann / standen da und sah’n sich an. / Und der Arme sagte bleich: / Wär’ ich nicht arm, wärst du nicht reich.« Deshalb kann Armut im Rahmen der bestehenden Gesellschaftsordnung nicht durch zunehmenden Reichtum beseitigt werden. Beide sind vielmehr systembedingt: konstitutive Bestandteile des Kapitalismus.

Schon Georg Friedrich Wilhelm Hegel hatte in seiner »Rechtsphilosophie« festgestellt, »daß bei dem Übermaße des Reichtums die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug ist, d.h. an dem ihr eigentümlichen Vermögen nicht genug besitzt, dem Übermaße der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern«. Manche neoliberale Ökonomen vertreten nun mehr oder weniger offen die Position, daß sich der Armut am effektivsten vorbeugen läßt, indem man den Reichtum vergrößert. Nach der »Pferdeäpfel-Theorie« muß man, um den Spatzen etwas Gutes zu tun, die Vierbeiner mit dem besten Hafer füttern, damit die Spatzen dessen Körner aus dem Kot herauspicken können. Reichtumsmehrung statt Armutsverringerung – so lautete auch das heimliche Regierungsprogramm der Großen ebenso wie der Rot-Grünen Koalition. Besser wäre es aber, die Spatzen direkt zu unterstützen. Dasselbe gilt für die Armen, denen viel eher geholfen wäre, wenn sie nicht als »Faulpelze« und »Sozialschmarotzer« diffamiert, sondern durch eine Politik der Umverteilung von oben nach unten bessergestellt würden.

Schon immer verkörperten die Armen ein »soziales Worst-Case-Szenario« für Gesellschaftsmitglieder, die sich nicht systemkonform verhielten; ihnen blieb jedoch (fast) immer die Hoffnung, ihre Lage könne sich durch ihre eigenen Anstrengungen und/oder durch glückliche Fügungen des Schicksals verbessern. Auch wenn diese Erwartungen fast nie erfüllt wurden, steckte darin ein wichtiger Lebensimpuls, der sonst schwer vergleichbare Gruppen miteinander verband, weil soziale Grenzlinien zumindest prinzipiell – real nur im Ausnahmefall – überwunden werden konnten. Armut diente also der Disziplinierung, Motivierung und Loyalitätssicherung. Die (Angst vor der) Armut war ausgesprochen nützlich für den Fortbestand des politischen und Gesellschaftssystems.

Armut erscheint in einer Gesellschaft, die den Wettbewerb und die Leistung glorifiziert und letztere mit Prämien, Gehaltszulagen oder Lohnsteigerungen prämiert, als funktional, nämlich als Pendant dessen, was die Tüchtigeren und daher Erfolgreichen in des Wortes doppelter Bedeutung »verdient« haben. Armut ist Strukturmerkmal und Funktionselement einer kapitalistischen Marktgesellschaft, die fast alle Lebensbereiche nach dem Konkurrenzparadigma und neoliberalen Modellvorstellungen restrukturiert. Sieht man im Neoliberalismus ein gesellschaftspolitisches Großprojekt, das mehr soziale Ungleichheit schaffen will und soll, ist die Armut kein ernsthaft zu bedauernder Kollateralschaden der Globalisierung, kein wirtschafts- und sozialpolitischer Betriebsunfall. Armut muß sein, sie ist gewollt.

Sozial ausgegrenzte Minderheiten nützen den Herrschenden und dem bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, denn sie führen den Noch-nicht-Abgestiegenen plastisch vor Augen, was ihnen bei einer Loyalitätsverweigerung droht. Ohne den im Verweigerungsfalle zu erwartenden sozialen Abstieg, dem die abhängig Beschäftigten entgehen möchten, weil sie in der Nachbarschaft sehen, welche Entwürdigungen damit verbunden sind, entfiele für sie das zentrale Motiv, sich tagtäglich dem Lohnarbeitszwang und dem Direktionsrecht der Unternehmer und der von diesen eingesetzten Manager zu unterwerfen.

Armut ist für die Aufrechterhaltung der bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse erforderlich, hält sie doch unmittelbar Betroffene, Erwerbslose und Arbeitnehmer/innen gleichermaßen unter Kontrolle. Armut dient als politisch-ideologisches Druckmittel, materielles Disziplinierungsinstrument und soziale Drohkulisse zugleich: Sie demonstriert jenen Menschen, die arm sind, daß ihre Leistungsfähigkeit oder -bereitschaft nicht ausgereicht hat, um sich zu etablieren, und sie demonstriert jenen Menschen, die nicht arm sind, daß sie weiterhin loyal bleiben müssen, um nicht abzustürzen.

Das bedeutet weder, daß Armut von jedem einzelnen politisch Verantwortlichen gewollt, noch daß sie für das bestehende Wirtschafts- und Gesellschaftssystem völlig ungefährlich ist. Armut ist sozialer Sprengstoff und eine Gefahr für die im Grundgesetz intendierte Demokratie, zu der nicht nur gehört, daß Bürger/innen alle vier oder fünf Jahre zur Wahlurne gerufen werden, sondern auch, daß sie gleichberechtigt an den politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen teilnehmen. Hierzu müssen sie über die materiellen Mittel verfügen, um beispielsweise auch solche Bildungsveranstaltungen oder Kundgebungen zu besuchen, die nicht gleich vor ihrer Haustür stattfinden. Eine alleinerziehende Mutter, die nicht weiß, wie sie eine bevorstehende Klassenfahrt oder teure Schulmaterialien für ihre Kinder bezahlen soll, wird sich kaum an den politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen beteiligen können.

Sofern unsere Analyse richtig und Armut mehr als ein zufälliges Ereignis im Leben von Menschen ist, die »nicht mit Geld umgehen können«, sondern systemimmanent, kann man den Betroffenen schwerlich die Schuld daran zuschieben und dem Problem weder mittels moralischer Appelle an Wohlhabende noch mittels karitativer Maßnahmen beikommen. Vielmehr muß der Reichtum angetastet werden. Ohne Umverteilung von oben nach unten läßt sich die Armut nicht wirksam bekämpften. Grundvoraussetzungen dafür wären die Wiedererhebung der Vermögensteuer und eine stärkere Besteuerung großer Erbschaften.

Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Kürzlich ist sein Buch »Armut in einem reichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird«, im Campus Verlag erschienen, 378 Seiten, 24,90 €.