Schon Karl Marx wußte: »Die kapitalistische Produktion entwickelt … nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen allen Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.« Diese Einsicht müßte sich in unserer Zeit jedem aufdrängen, der einigermaßen wach die weltweiten ökologischen Katastrophen und die sozialen Verelendungen zur Kenntnis nimmt. Die auf der Jagd nach dem Maximalprofit vorangetriebene Globalisierung führt zu immer größeren Krisen und immer schnellerer Verwüstung – seit einigen Jahrzehnten auch wieder in den Zentren der sogenannten Ersten Welt. Doch folgt daraus eher Resignation und Lähmung als Aufbegehren und solidarisches Gegensteuern. Die Mainstream-Medien stehen im Dienste des Kapitals und die gewählten Politiker in ihrer Mehrheit ebenfalls – ob es ihnen bewußt ist oder nicht. Die Hauptaufgabe, die sie erfüllen, ist die, das Volk ruhig zu halten. Inzwischen schwindet das Vertrauen auf Wahlen und die Regierenden. Viele sagen: »Was können wir kleinen Leute denn tun? Die da oben machen ja doch, was sie wollen!« Viele gehen lieber gar nicht mehr wählen.
Demonstrationen, Streiks bis hin zum Generalstreik (der angeblich in der BRD nicht zulässig sein soll, also entsprechend dem internationalen und europäischen Recht durchzusetzen wäre) könnten mobilisierend wirken, auch auf linke Politiker…
Eine andere Möglichkeit, einzelne schädliche Regierungsmaßnahmen während der Legislaturperioden zu stoppen oder abzuändern, bieten die in den Verfassungen mehrerer Bundesländer vorgesehenen Volks- und Bürgerbegehren oder Volks- und Bürgerentscheide. Die Möglichkeit zu landespolitischen Volksbegehren besteht bisher in den Ländern Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz; kommunalpolitische Bürgerbegehren und Bürgerentscheide sind noch in einigen anderen Bundesländern zulässig. Für die Einbringung eines Bürgerbegehrens müssen zwischen vier und acht Prozent der wahlberechtigten BürgerInnen ihre Unterschriften leisten und ihre Adressen angeben. Das erfordert großen Einsatz der Initiatoren, hat aber den unschätzbaren Vorteil, daß die Bevölkerung viel stärker in die Meinungs- und Willensbildung einbezogen wird als bei einer Parlamentswahl. Das Parlament ist verpflichtet, ein vorschriftsmäßig eingebrachtes Begehren zu behandeln. Stimmt es dem Anliegen zu und ändert seine bisherige Beschlußlage, war das Bürgerbegehren erfolgreich. Stimmt das Parlament nicht zu, muß von der Kommune oder dem Land eine allgemeine Abstimmung über die strittige Frage mittels eines Volks- oder Bürgerentscheides durchgeführt werden, dessen Ergebnis den Gesetzgeber für mindestens zwei Jahre bindet. Nach dem letzten »Bürgerbegehrensbericht« von 2007 gab es zwischen 1956 und 2007 insgesamt 4.587 derartige Verfahren auf Kommunalebene, davon 2.226 Bürgerentscheide. 40 Prozent aller Verfahren verliefen erfolgreich, manche scheiterten an Verfahrensfehlern oder daran, daß sich nicht genügend Menschen beteiligt hatten, obwohl die abgegebenen Stimmen zumeist Stimmen für das Anliegen des Bürgerentscheides waren.
Gelegentlich konterkarieren die Regierenden die Plebiszite. Zum Beispiel in Bochum, wo 2003 ein Bürgerbegehren gegen die geplante langjährige Vermietung des Kanalnetzes an einen amerikanischen Investor im Rahmen eines »Cross Border Leasing«-Geschäftes stattfand. Die Stadt Bochum wollte durch Steuerersparnisse des Investors in den USA anteilig einen Gewinn von 20 Millionen Euro einfahren. Der Stadtrat behandelte das Bürgerbegehren am 9. März, beschied es aber abschlägig, so daß innerhalb der gesetzlichen Frist die Stadt einen Bürgerentscheid hätte abhalten müssen. Doch vier Tage später, am 13. März 2003, unterschrieb die damalige Kämmerin und heutige Oberbürgermeisterin Ottilie Scholz (SPD) in New York die CBL-Verträge mit dem Investor First Fidelity International. Daraufhin lehnte der damalige Oberbürgermeister Stüber (auch SPD) die Durchführung eines Bürgerentscheides ab, da die Verträge bereits rechtsverbindlich unterschrieben seien. Die eingereichte Klage der Initiatoren beim Verwaltungsgericht Gelsenkirchen blieb erfolglos, sie wurde am 10. November 2006 endgültig abgelehnt. Inzwischen hat der US-Kongreß seine Steuergesetze geändert. CBL-Verträge gelten jetzt als ungesetzlich, aber die im Kleingedruckten eingegangenen Verpflichtungen (die auch die stimmberechtigten Ratsmitglieder nicht hatten einsehen dürfen), müssen von der Stadt weiterhin erfüllt werden. In Bochum rechnet man heute mit Verlusten für die Stadtkasse von bis zu 380 Millionen Euro. Das Kanalnetz wird marode werden, und die längst schon verarmte Kommune wird ihre sozialen und ökologischen Aufgaben noch mehr vernachlässigen müssen.
Aber es gibt nicht nur negative Beispiele. Erinnert sei hier an das erfolgreiche Bürgerbegehren und den Bürgerentscheid 2002 in Münster/Westfalen (s. Ossietzky 13/02) gegen die vom Rat eingeleitete Privatisierung der Stadtwerke. Die fitten Berater des Bankhauses Sal. Oppenheim hatten längst alle Verträge gut vorbereitet, vor allem jene für ihre eigenen Honorare, die auf jeden Fall mit mehreren Hunderttausend DM fällig wurden. Sie hatten den Entscheidungsträgern ausgemalt, daß durch Verkauf von 49 Prozent an einen »Strategischen Partner« (einen der großen Energiekonzerne) die Existenz des kommunalen Unternehmens zu sichern sei und außerdem bis zu 400 Millionen DM für die klamme Stadtkasse abfallen würden. Zunächst ging man daran, die Busbetriebe mit ihrem ständigen Zuschußbedarf in eine eigenständige GmbH auszugliedern, um »die Braut zu schmücken«, das heißt um das Haupt-Angebot für den möglichen privaten Partner lukrativer zu gestalten. Doch da hatte man die Rechnung ohne die Busfahrer gemacht. Sie rochen rechtzeitig den faulen Braten, traten mehrmals in Warnstreik und initiierten ein Bürgerbegehren. Die Bevölkerung war empört, machte sich in unzähligen Leserbriefen Luft und solidarisierte sich mit den Busfahrern. Ganz schnell waren mehr als genug Unterschriften für das Bürgerbegehren zusammen.
Der von CDU und FDP dominierte Stadtrat knickte ein, zog seinen ersten Plan zurück und wollte nun mit einer Angstkampagne in die Offensive gehen: Die Stadtwerke allein seien auf dem freien Energiemarkt der EU nicht überlebensfähig. Durch den Teilverkauf aber könne die Kommune auf einen Schlag ihre Schulden halbieren. Die Busfahrer und ihre Gewerkschaft ver.di suchten und fanden Bündnispartner für ein erweitertes Bürgerbegehren unter dem Motto: »Wir lassen uns nicht verkaufen! Für den Erhalt der Stadtwerke Münster«. Die im Rathaus in Opposition stehende SPD ebenso wie die Grünen und die PDS versprachen Unterstützung. Ähnlich Vertreter von Attac sowie einzelne Pfarrer, die allerdings weder von der katholischen noch von der evangelischen Kirche eine offizielle Zustimmung erhielten. Das mühselige Sammeln der Unterschriften fiel ausgerechnet in die Adventszeit, die Weihnachtsmärkte waren überfüllt, aber fast nur von Auswärtigen und Holländern, die alle hier in der Stadt kein Wahlrecht hatten. Nach Neujahr lagen erst knapp 1.000 Unterschriften vor, nötig waren aber mehr als 8.000. Als sich die Unterstützergruppe nach der Festtagspause wieder traf, hatte man nur noch vier Wochen bis zum Abgabetermin. Doch durch Aktivierung, vor allem auch aus den Seniorengruppen der Gewerkschaften, gelang es, rechtzeitig ungefähr 16.000 Unterschriften zusammenzutragen; hilfreich war vor allem ein älterer kommunistischer Aktivist mit seinen langjährigen Mobilisierungserfahrungen. Die Ratsmehrheit lehnte ab, ein Abstimmungstermin für den entsprechenden Bürgerentscheid wurde festgelegt. Trotz oder gerade wegen einer von CDU und FDP betriebenen Materialschlacht mit großflächigen Plakatwänden, Handzetteln, Postwurfsendungen, Drohbriefen des Oberbürgermeisters in jeden Briefkasten konnten die Initiatoren einen klaren Erfolg verzeichnen: zwei Drittel Zustimmung, ein Drittel Ablehnung; auch das erforderliche Quorum von mindestens 20 Prozent aller Wahlberechtigten wurde erreicht, wenn auch nur leicht überschritten.
Ein neuerlicher Vertragsabschluß zum Verkauf der Stadtwerke, der entsprechend der noch gültigen Gesetzeslage nach Ablauf von zwei Jahren möglich gewesen wäre, ist in Münster seitdem kein Thema mehr. Im Gegenteil, die Ratsmitglieder, auch aus der CDU, scheinen froh zu sein, daß sie seinerzeit nicht verkaufen konnten. Durften sie doch seither jährlich bis zu 40 Millionen Euro Gewinn aus »ihren« Stadtwerken für die Kassen der Kämmerin einstreichen. Die hätten sie sich ansonsten mit dem »Strategischen Partner« zumindest teilen müssen, wenn nicht gar durch aufgezwungene Umstrukturierungen noch ganz andere Opfer fällig gewesen wären. Auch die hier immer noch praktizierte »Quersubventionierung« für die Busse (Verluste im Verkehrsbetrieb werden mit Gewinnen in anderen Sparten der Stadtwerke ausgeglichen) wäre längst abgeschafft worden.
Doch nun versuchen die Kommunalpolitiker – durch Bundes- und Landesgesetze vorsätzlich in Finanznöte getrieben – »ihre« Stadtwerke immer intensiver als Melkkühe zu nutzen, so daß die Leistungen für die Bevölkerung immer dünner und teurer werden. Auch Bürgerentscheide retten uns nicht vor Ausplünderung durch die Konzerne. Sie können den Prozeß lediglich etwas stören und vielleicht der Allgemeinheit zu mehr Bewußtsein und neuen Widerstandsformen verhelfen.
Kleiner nachträglicher Triumph: Seinerzeit hatte die CDU groß in den Rathaussaal eingeladen, um die interessierten Bürger von den Segnungen eines Teilverkaufs der städtischen Betriebe zu überzeugen. Ein prominenter Kommunalpolitiker und Bankdirektor aus Bielefeld schilderte, wie reibungslos man sich dort gerade über einen ähnlichen Deal geeinigt habe und wie lukrativ er sei. Jetzt, Mitte 2009 versucht Bielefeld, den privatisierten Anteil zurückzukaufen – wer weiß mit welchem Verlust.