Manfred Wekwerth hat wunderbares Theater gemacht und macht es nach wie vor. Nicht mehr auf den Bühnen des Welttheaters wie zu Zeiten der DDR – nach 1989 wurde ihm wie vielen anderen Künstlern und Wissenschaftlern, die nicht bereit waren, vor den Herren der westlichen Welt zu Kreuze zu kriechen, im Zuge der allgemeinen Abwicklung mit seinen Funktionen die Möglichkeit genommen, seine bei Brecht begonnene und in Brechts Sinn weitergeführte Theaterarbeit fortzusetzen (nachzulesen auch unter www.manfredwekwerth.de). Peter Zadek, der große Regisseur, protestierte vergeblich: »Er ist einer von den Männern, die das deutsche Theater in den letzten dreißig Jahren gemacht haben. Das war manchmal Welttheater und manchmal weniger erfolgreich und bedeutend. Niemand hat das Recht, Wekwerth auf diese Hopplahoppweise zu beseitigen.« Auch Giorgio Strehler, Leiter des Piccolo Teatro in Mailand, blieb wie viele andere ungehört: »Ich betrachte ihn als den vitalsten Fortsetzer der Brechtschen Lehre (…) Wekwerth ist ein Künstler, der die Theorie in die Theater- und Lebenspraxis umsetzen konnte.« Fast mittellos und bei niedrigsten Einnahmen, unbeachtet von den Medien des Mainstreams, zieht Manfred Wekwerth bis heute den Thespiskarren weiter – davon später.
Jetzt hat er ein Buch geschrieben: »Mut zum Genuß – Ein Brecht-Handbuch«, wie es im Untertitel heißt, »für Spieler, Zuschauer, Mitstreiter und Streiter«. All denen und darüber hinaus allen, die sich mit Fragen heutiger Kunst und Ästhetik befassen, sei es hiermit, um die Bewertung vorwegzunehmen, empfohlen: als Beitrag zur Auseinandersetzung mit vorgefundener Wirklichkeit und deren Abbildung, mit der Welt und ihrem Theater, als Anregung zu »eingreifendem Denken«.
Das Buch besteht aus einer Textsammlung: »Brecht-Theater heute« (eine überarbeitete Fassung von sieben Vorlesungen am Schwedischen Institut für Film und Theater in Stockholm), »Die ›Einfachheit‹ Brechts«, »Brecht-Theater – eine Chance für die Zukunft?«, »Linke Schwierigkeiten mit Kultur oder Der praktische Nutzen Brechtscher Slogans«, »Die ungewisse Sache mit der Gewißheit, eine bedenkliche Laudatio« (auf Uwe Jens Heuer), »Stichwort Fabel«, »Stück-Werk« (Erläuterungen zu eigenen Übersetzungen, Bearbeitungen und Dramatisierungen), »Theaterbesuche« und »Zwei Reden«. In diesen Texten komprimiert Wekwerth die Erfahrungen aus seiner jahrzehntelangen Theaterarbeit am Berliner Ensemble (dem BE) und aus seiner Zusammenarbeit mit Bertolt Brecht, vor allem aber aus seiner Auseinandersetzung mit der Frage, was Theater heute ist und sein könnte: »Die Trostlosigkeit der sozialen, politischen und kulturellen Landschaft ist einfach nicht mehr zu übersehen. Doch trostlose Zustände führen eben nicht – wie heute auch viele Theater behaupten und vermarkten – zwangsläufig zu Trostlosigkeit (und damit zur Anpassung), sondern zu der Frage, warum denn etwas trostlos sein muß. Und hier kommt man an Brecht nicht vorbei. Bei solchen Fragen drängt sich der alte Dialektiker geradezu auf, der in seinem Gedicht »An die Nachgeborenen« bekennt, nicht das Unrecht in der Welt lasse ihn verzweifeln, sondern ›wenn da nur Unrecht ist und keine Empörung‹. Es ist wieder Unbehagen in der Welt. Und das Unbehagen nimmt zu. Und damit das Interesse an Brecht.«
Wekwerth wendet sich gegen das verbreitete Vorurteil, Brecht habe das Theater »verwissenschaftlichen« wollen, »benutzbar für Zwecke der Ideologie eines irrealen Fortschritts«. Das Gegenteil sei der Fall, die Einsichten der Wissenschaft in gesellschaftliche und politische Zusammenhänge sollten im Leben wie auf der Bühne nur nicht ausgespart werden, sondern, die Aufführungen bereichernd, zum Staunen und zur Freude am Erkennen und Verändern der Wirklichkeit beitragen. »Theater als Genuß«, das ist für den Autor »nicht nur ein bestimmtes Theater, das Stücke nur von Brecht spielt, sondern – wie es sich für ›richtiges‹ Theater gehört – ein Theater, das sein Publikum mit allem zu unterhalten trachtet, was die Weltliteratur zu bieten hat«. Zusammengefaßt: »Theater muß, was immer es tut, Theater bleiben, also Luxus. Aber es heißt ja, daß man für den Luxus lebt. Oder wie es bei Brecht heißt: ›Denn wozu leistet man etwas, dafür daß man sich etwas leistet.‹ Und im Theater leisten sich die Menschen eben den ›Vorschein des Menschseins‹ (Bloch) und verschaffen sich so Lust und Mut zum Aufbruch dorthin.«
Manfred Wekwerth hat keine Illusionen über den derzeitigen Zustand von Theater und Welt: »Wo vom Ende des Klassenkampfes die Rede ist, beabsichtigt man, ihn um so gründlicher zu führen. Unter dem Hoffnung erweckenden Wort ›Reformen‹ veranstaltet man den größten Sozialabbau, den es in der deutschen Geschichte der letzten hundert Jahre gegeben hat. Auch Kriege um Rohstoffe und Absatzmärkte lassen sich wesentlich erbarmungsloser führen, wenn man sie zum natürlichen Teil der Schöpfung deklariert, da es Kriege gebe, solange es Menschen gibt…« Um so erstaunlicher seine Schlußfolgerung: »Eigentlich ist das für das Theater eine einzigartige Chance. Wie kein anderes Instrument ist Theater geeignet, den ›realen Nebel‹ zu zerreißen… zeigend, daß der Mensch letzten Endes ›alles in der Hand hat, wenn er es nur weiß und will. Theater kann durch seine ›Simplizität‹ dem Menschen helfen, ›seine Lage zu erkennen‹ und sich trotz des ›Nebels‹ als sein eigener Schöpfer zu begreifen, so Hoffnung zu einem Prinzip machend, vor allem da, wo trostlose Finsternis herrscht. Denn Theater vermag bei allem, auch im scheinbar Hoffnungslosesten, den ›Vorschein des Menschseins‹ zu zeigen …«
Wie ist dieser Widerspruch zu erklären – einerseits die Feststellung der »Trostlosigkeit der sozialen, politischen und kulturellen Landschaft«, belegt auch durch die Kritik etlicher Aufführungen, andererseits das Erinnern an die »einzigartige Chance« des Theaters?
Zwei Erklärungsansätze:
Entweder führt Manfred Wekwerth den zurecht als »trostlos« konstatierten Zustand der Theater auf Mangel an Wissen und Einsicht zurück, auch auf Opportunismus der Theatermacher, sprich: Intendanten, Dramaturgen und Regisseure, sowie ebenfalls unzureichend aufgeklärte und nicht weniger opportunistische Darsteller und nicht zuletzt Besucher, statt auf die Verhältnisse, denen die Theater wie jeder andere Betrieb unterworfen sind. Die Produktion der Theater, ob Privat- oder Staatstheater, ist wie die der Medien, wie die Produktion insgesamt, vom BE bis zu VW, unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen unserem Einfluß weitgehend entzogen. Die Theatermacher sind keineswegs unwissend, sie handeln im Wissen um diesen Zusammenhang – hier liegt, wie bei vielen Wissenschaftlern, Journalisten, Juristen und anderen, die Ursache ihrer Unterwerfung. Die Tatsache, daß dann und wann doch eine Aufführung zustande kommt, die den im Buch formulierten Kriterien entspricht, bestätigt nicht mehr als die Ausnahme von der Regel.
Oder aber: Manfred Wekwerth provoziert. Sein Hinweis auf die »für das Theater einzigartige Chance« schränkt er ja durch das seiner Behauptung vorangestellte »eigentlich« ein: »Eigentlich ist das für das Theater eine einzigartige Chance« – unter den gegebenen, von ihm ausdrücklich dargestellten Verhältnissen, jedoch nicht: Sie bedürfen der Veränderung. So verstanden ist das »Brecht-Handbuch« ein Beitrag, Widerstand als Notwendigkeit und als Voraussetzung für einen gesellschaftlichen Auswegs bewußt zu machen.
Hier ließe sich einwenden, es gehe doch keineswegs darum, von heute auf morgen politisches, agitatorisches Theater anstelle des bürgerlichen durchzusetzen, sondern um nicht mehr und nicht weniger als das Einbringen einer »kritischen Haltung« in das bestehende Theater, »nicht in erster Linie um das Erkennen der Welt, sondern um den Genuß des Erkennens«. Oder, wie Wekwerth an anderer Stelle schreibt: »Jede Spielweise, die Widersprüche aufreißt, Vorschläge macht, mit ›Antinomien umzugehen‹, und diese Welt erschließt, indem sie hilft, sie ›bewohnbar zu machen‹, sei willkommen: Tragödie oder Clownerie, Vers oder Slang, Fantasie oder Dokument, Emotion oder Kälte, Gründe oder Abgründe, Durchsichtiges oder Absurdes, aufbauen oder zertrümmern.« Voraussetzung dafür wäre eine sich entwickelnde bürgerliche Kultur – im Rahmen eines sich entwickelnden Bürgertums. Was wir jetzt, beschleunigt durch die Krise, aber erleben, ist sein Niedergang. »Wenn der Purpur fällt, so muß der Herzog nach«, heißt es in Schillers »Fiesco« – übertragen: Der Niedergang von Kunst und Kultur entspricht dem Niedergang (noch) bestehender gesellschaftlicher Ordnung.
Anzunehmen, der wahrgenommene »trostlose« Zustand bürgerlicher Kunst und Kultur sei überwindbar, hieße annehmen, die bürgerliche Gesellschaft insgesamt, deren Niedergang wir zur Zeit erleben, könne sich regenerieren, zurückkehren zu den von ihr einst – in ihrer revolutionären Phase – proklamierten Werten. Das Gegenteil ist der Fall. Um ihr Überleben zu sichern, wird sie sich weiter und weiter von ihnen verabschieden. Und ihr Überleben ist abhängig von den Eigentumsverhältnissen, die heute gefährdet sind wie kaum zuvor.
1935, als in Deutschland bereits der Faschismus gesiegt hatte, stellte Bertolt Brecht im Entwurf seiner Rede für den Internationalen Schriftsteller-Kongreß in Paris die Frage: »Warum wird die Kultur über Bord geworfen wie ein Ballast, jene Reste der Kultur, die uns übriggeblieben sind; warum wird das Leben von Millionen Menschen, der allermeisten Menschen so verarmt, entblößt, halb oder ganz vernichtet?« Er beantwortete sie nicht anders, als wir es heute können, mit dem Hinweis auf die Eigentumsverhältnisse, in denen »ein kleiner Teil der Menschheit seine gnadenlose Herrschaft verankert hat. Er hat sie verankert in jenem Eigentum des einzelnen, das zur Ausbeutung der Mitmenschen dient und das mit Klauen und Zähnen verteidigt wird, unter Preisgabe einer Kultur, welche sich zu seiner Verteidigung nicht mehr hergibt oder zu ihr nicht mehr geeignet ist, unter Preisgabe aller Gesetze menschlichen Zusammenlebens überhaupt, um welche die Menschheit so lange und mutig und verzweifelt gekämpft hat.«
Zwar leben wir vorerst noch in einem, wenn auch zunehmend ausgehöhlten, bürgerlich-demokratischen Rechtsstaat, der aber aufgrund der sich rapide verschlechternden sozialen Verhältnisse die Orientierung an Brechts Konsequenz aus dem oben Zitierten nahelegt: »Reden wir nicht nur für die Kultur! Erbarmen wir uns der Kultur, aber erbarmen wir uns zuerst der Menschen! Die Kultur ist gerettet, wenn die Menschen gerettet sind. Lassen wir uns nicht zu der Behauptung fortreißen, die Menschen seien für die Kultur da, nicht die Kultur für die Menschen!«
Kunst kann heute nur in unserem Beitrag bestehen, eine Welt einzurichten, in der Kunst wieder möglich wird. Das subventionierte und privatwirtschaftlich geführte Theater ist aufgrund derzeitiger Eigentumsverhältnisse dazu nicht geeignet. Manfred Wekwerth, in politischer Konsequenz des Anschlusses der DDR seit 1989 vom offiziellen Kunstbetrieb ausgeschlossen, gibt mit seinem Thespiskarren eine konkrete Antwort: Aufführungen von Brechts »Manifest« oder »In der Sünder schamvollem Gewimmel – eine Rockband erinnert sich an Brecht«, Theater-Workshops, Vorträge und Lesungen. Die Spielorte: sogenannte Off-Theater, Kultureinrichtungen am Rand der Metropolen, Versammlungsräume in Gewerkschaftshäusern und Spitälern. Entsprechend zu Eintrittspreisen, die die arbeitende und arbeitslose Bevölkerung nicht ausschließen, sondern ihr ermöglichen, sich Orientierung zu verschaffen. Mit den Worten Manfred Wekwerths: »Denn der Mensch wurde und wird zum Menschen, indem er Alternativen, die es immer und überall gibt, erkennt und nutzt.«
Manfred Wekwerth: »Mut zum Genuß – Ein Brecht-Handbuch für Spieler, Zuschauer, Mitstreiter und Streiter«, Kai Homilius Verlag, 232 Seiten, 14.80 €