Ist die Todesstrafe in Deutschland, wie das Grundgesetz gebietet, endgültig abgeschafft? Bleibt sie abgeschafft? Oder kommt sie wieder?
Militärisches Töten ist der Bundesrepublik Deutschland laut Grundgesetz nur im Verteidigungsfall erlaubt. Dieser Grundsatz wurde jedoch seit der Vereinnahmung der DDR aufgeweicht. Seither beteiligt sich Deutschland mit Eifer daran, »Schurken«, »Piraten«, »Terroristen«, »Islamisten« mit militärischer Gewalt zu bestrafen: nicht nur sie zu entmachten, sondern ihnen das Leben zu nehmen. Im Jugoslawienkrieg bombardierte die Luftwaffe ein blockfreies Land, gegen die »Piraten« vor Somalia kämpft die Marine, und in Afghanistan haben Bodentruppen Stellungen bezogen, wobei sich das Kommando Spezialkräfte (KSK) auch im gezielten Töten übt. Weitere Ziele werden anvisiert. Jetzt lernen Bundeswehrsoldaten schon nach einem auf den ölreichen Iran zugeschnittenen Sprachführer Persisch.
Die Interessen hinter der militärischen Gewalt haben sich seit den von Deutschland begonnenen Weltkriegen des vorigen Jahrhunderts nicht wesentlich geändert. »Zur Versorgung Europas mit Erdöl ist die Sicherstellung der Erdölreserven des Vorderen Orients unumgänglich notwendig,« hieß es 1940 in einer Denkschrift der Reichsstelle für Bodenforschung. 1993 sagte es der damalige Generalinspekteur der Bundeswehr und Wiederbegründer völkerrechtswidriger Militäreinsätze »für deutsche Interessen«, Klaus Naumann, kurz und prägnant: »Es gibt zwei Währungen in der Welt: wirtschaftliche Macht und die militärischen Mittel, sie durchzusetzen.« Wer so von alt-neuen Großmachtambitionen erfüllt ist, denkt gar nicht daran, daß es eine dritte Währung gibt: die wirtschaftliche Vernunft, wie sie zum Beispiel China mit Handelsverträgen pflegt, die für beide Seiten vorteilhaft sind und mit dem Völkerrecht in Einklang stehen.
Es war also nichts Ungewöhnliches, eher etwas längst Selbstverständliches, was Horst Köhler auf dem Rückflug von seiner letzten bundespräsidialen Auslandsreise nach Afghanistan etwas umständlich äußerte: »Meine Einschätzung ist aber, daß insgesamt wir auf dem Wege sind, doch auch in der Breite der Gesellschaft zu verstehen, daß ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muß, daß im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen negativ durch Handel, Arbeitsplätze und Einkommen.«
Die Transformation der Bundeswehr von einer dem Schutz der Bevölkerung verpflichteten Verteidigungsarmee hin zu einer der Wirtschaft verpflichteten weltweiten Interventionsarmee ist jedoch nur die halbe Wahrheit. Zur ganzen gehört auch der Einsatz der Bundeswehr im Innern zu einem Zweck, über den Militärs und Militärpolitiker am liebsten gar nicht sprechen, nämlich zum Schutz der steuerflüchtigen Reichen und Konzerne vor der steuerzahlenden Bevölkerung. Denn zum effektiven Schutz vor einer nicht mehr alles hinnehmenden Bevölkerung ermöglicht der Lissabon-Vertrag die Todesstrafe und die Tötung im »Aufstand« oder »Aufruhr«.
In den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, die unter der Leitung des Präsidiums des Konvents zur Ausarbeitung der Charta formuliert und unter der Verantwortung des Präsidiums des Europäischen Konvents aktualisiert wurden, heißt es zum Artikel über das Recht auf Leben: »Eine Tötung wird nicht als Verletzung dieses Artikels betrachtet, wenn sie durch eine Gewaltanwendung verursacht wird, die unbedingt erforderlich ist, um einen Aufruhr oder Aufstand rechtmäßig niederzuschlagen.« Und weiter: »Ein Staat kann in seinem Recht die Todesstrafe für Taten vorsehen, die in Kriegszeiten oder bei unmittelbarer Kriegsgefahr begangen werden.« Diese »Negativdefinitionen« müssen auch als Teil der Charta betrachtet werden. Gemäß Titel VII, Artikel 52 (7) des Lissabon-Vertrags sind die Erläuterungen, die als Anleitung für die Auslegung dieser Charta verfaßt wurden, von den Gerichten der Union und der Mitgliedstaaten gebührend zu berücksichtigen. Hier ergibt sich ein klarer Widerspruch gegen die im Artikel 102 des Grundgesetzes garantierte Abschaffung der Todesstrafe und gegen das von den Mitgliedstaaten des Europarats unterzeichnete Protokoll Nr. 13 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die vollständige Abschaffung der Todesstrafe vom 3. Mai 2002.
Zur Irreführung der Öffentlichkeit sind die Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, die noch in der abgelehnten Verfassung von Europa standen, nicht mehr im Vertrag von Lissabon enthalten. Stattdessen stehen sie im Amtsblatt der Europäischen Union vom 14. Dezember 2007. Der ehemalige Vizepräsident des Verfassungskonvents, Giuliano Amato, erklärte im Juni 2007, daß die Regierungschefs sich auf einen schwer lesbaren Text verständigt hätten, damit die Kernreformen nicht auf Anhieb erkennbar seien und sich die Forderungen nach Referenden in den Mitgliedstaaten vermeiden ließen (mitgeteilt von der Europaabgeordneten Sahra Wagenknecht in: marx 21, September 2007).
In dem Verfahren beim Bundesverfassungsgericht, in dem der Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler (CSU) feststellen lassen wollte, daß der Lissabon-Vertrag mit dem Grundgesetz nicht vereinbar ist, führte sein Verfahrensbevollmächtigter Professor Karl Albrecht Schachtschneider aus: »Aufstände oder Aufruhre kann man auch in bestimmten Demonstrationen sehen.« Dem Vertrag zufolge wäre der tödliche Schußwaffengebrauch in solchen Situationen keine Verletzung des Rechts auf Leben. Außerdem genügten die »Ermächtigungen der Union im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, um im Interesse der Effizienz der Mission [Gemeint ist ein Katalog von europäischen »Missionen« gemäß Artikel 42, Artikel 43 und Artikel 222 des Vertrags über die Europäische Union; D.A.] oder auch der Verteidigung die Todesstrafe einzuführen«. Wenn etwa der Europäische Rat von der Ermächtigung Gebrauch mache, in einem Europäischen Beschluß Durchführungsbestimmungen festzulegen, sei daran weder das Europäische Parlament beteiligt noch gar die nationalen Parlamente.
Das Bundesverfassungsgericht hat die Prüfung der Verfassungswidrigkeit dieser negativen Menschenrechte fallen gelassen – sonst wäre der Lissabon-Vertrag mit seinen ohnehin gravierenden Demokratiedefiziten und der einseitigen Bevorzugung der Finanz- und Wirtschaftsgewaltigen sicher nicht mehr zu halten gewesen. Es fand sich ein Kniff, wie sich der Entmachtung der nationalen Parlamente durch ein entsprechendes EU-Begleitgesetz ein wenig entgegenwirken ließe: mittels eines Begleitgesetzes. Dieses inzwischen erlassene Begleitgesetz soll unter anderem verhindern, daß der EU-Rat über den Einsatz der Bundeswehr allein entscheidet. Vorher soll der deutsche Vertreter im Rat die Zustimmung des Deutschen Bundestags einholen. Ob diese Regelung Bestand haben wird, ist fraglich. In der Erklärung zur Annahme des Lissabonner Vertrags haben die Regierungen der beteiligten Staaten unter Nr. 17 ausdrücklich auf den Vorrang des Unionsrechts hingewiesen. Aber der Kniff tat seine Wirkung: Das Bundesverfassungsgericht erklärte das Vertragswerk schließlich für grundgesetzkonform.