Es geschah am frühen Morgen. Gendarmerie, SS und die ukrainische SS aus Galizien umstellten Szczeczyn, ein kleines ostpolnisches Dorf, das sich an einem von Holzwagen zerfurchten Sandweg entlang zog. Als einige Dorfbewohner an jenem 2. Februar 1944 gerade zur Lichtfeier in die Kirche aufgebrochen waren, wurden andere durch Schüsse, Schreie und Gewehrkolben aus ihren Häusern getrieben. Männer wurden sofort erschossen. Frauen und Kinder auf dem zentralen Dorfplatz zusammengetrieben. Die traditionelle Kerzen-Prozession verwandelte sich in eine Feuersbrunst. Winicjusz Natoniewski, einer der Überlebenden, gehört zu der großen Zahl von Menschen in den damals von deutschen Truppen besetzten Gebieten, die als zivile Opfer des Krieges nie Wiedergutmachungsleistungen aus Deutschland bekommen haben. Er fordert nun von der BRD als Rechtnachfolger des Nazi-Reiches ein Schmerzensgeld in Höhe von umgerechnet 250.000 Euro.
Der damals fünfjährige Winek versteckte sich während des Überfalls mit seinem Großvater in einer Erdhöhle. Seine Schwester wurde mit der Mutter auf den mit Leichen übersäten Weg zum Dorfplatz getrieben. Als die Flammen immer näher kamen, schlich sich der Großvater heraus, um zu prüfen, ob die Deutschen abgezogen waren. Der verängstigte Winek hielt es dann auch nicht mehr in dem Versteck aus. Er rannte an dem brennenden Haus seiner Familie entlang und fing Feuer. An Gesicht und Körper erlitt er schwere Brandwunden, die Finger schmolzen zu dicken Knollen zusammen. Zeugen berichteten, wie schrecklich es war, als sich die Haut vom Kopf des Jungen löste.
Szczeczyn war eines von insgesamt sechs Dörfern in der Zamojszczyzna-Region, die dem Erdboden gleichgemacht werden sollten – eine »Vergeltungsaktion« gegen die Zivilbevölkerung wegen Unterstützung der polnischen Partisanen, die sich gegen die deutsche Kolonisierung dieses Gebietes wehrten.
60 Jahre lang kämpfte Natoniewski um Gerechtigkeit. 36 chirurgische Operationen mußte er als Kind innerhalb von nur drei Jahren über sich ergehen lassen. Als die Ärzte eines Tages die Mutter um Einverständnis zur Amputation seiner Hände baten, nahm sie Winek aus dem Krankenhaus, in das er nie wieder zurückkehren wollte. Er sollte ein normales Leben führen wie andere Kinder, trotz der grausamen Behinderung. Natoniewski studierte Tier- und Pflanzentechnik, wurde im sozialistischen Polen Direktor einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft. Eine Kriegsinvalidenrente stand ihm nicht zu, weil er nicht als Kombattant unmittelbar an Kampfhandlungen teilgenommen hatte. Heute lebt er mit seiner Frau Maria und drei Kindern bei Wejherowo.
Der Zamojszczyzna, deren Hauptstadt Zamoœæ in Himmlerstadt umbenannt wurde, kam im faschistischen Generalplan Ost eine besondere Bedeutung zu. Die Vernichtungs- und Kolonisationspläne Deutschlands sahen vor, daß sie im Generalgouvernement als Siedlungsbrücke der künftigen Reichsmarken bis zur Krim dienen sollte. Dafür wurden etwa 110.000 Polen aus rund 300 Dörfern vertrieben und an ihrer Stelle Deutsche angesiedelt. 16.000 Polen wurden dabei ins KZ Majdanek, 2.000 nach Auschwitz deportiert. Zu den 9.000 als volksdeutsch eingestuften Neusiedlern gehörte der ehemalige deutsche Bundespräsident Horst Köhler, dessen Eltern 1943 aus Bessarabien dem Ruf Himmlers gefolgt waren und sich im polnischen Skierbieszów, das in Heidenstein umbenannt wurde, ansiedelten. Skierbieszów liegt nur wenige Kilometer von Szczeczyn entfernt.
Die deutsche Regierung hat erst kürzlich bei der Einreichung einer Klage gegen Italien vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag deutlich gemacht, daß sie nicht etwa ihre Verweigerung der Wiedergutmachung, sondern die Entschädigungsforderungen der Opfer als Störung der Rechtssicherheit betrachtet. Hintergrund der Klage Deutschlands war eine Entscheidung des Kassationshofs in Rom vom Sommer 2008, der Entschädigungsansprüche von Opfern eines deutschen Massakers im griechischen Dorf Distomo anerkannte und Vollstreckungsmaßnahmen gegen deutsches Eigentum – auch in Italien – für gerechtfertigt erklärte. Zur Sicherung der Ansprüche wurde die Villa Vigoni am Comer See gepfändet. Seit März 2009 muß auch die Deutsche Bahn auf alle Einnahmen aus dem Fahrkartenverkauf für Zugstrecken von Italien nach Deutschland verzichten (s. »Schikane auf Schienen« in Ossietzky 12/10).
In diese progressive Rechtsentwicklung gegen die Folgenlosigkeit von Kriegsverbrechen schreibt sich auch das jüngste Kassationsverfahren vor dem polnischen Obersten Gericht (Sad Najwyzszy) ein. Ende Dezember 2009 erreichte Natoniewski, daß das Gericht seine Klage zur Prüfung annahm. In dem Verfahren fordert der 71jährige vom deutschen Bundeskanzleramt ein Schmerzensgeld als Ausgleich für erlittene und bis heute fortwirkende immaterielle Schäden. Wenngleich eine Entscheidung in der Sache noch aussteht, belegt die Prüfungsannahme schon jetzt, daß individuelle Ansprüche auf Rechtschutz bei schwersten Verbrechen, insbesondere Verbrechen gegen die Menschlichkeit, außerhalb Deutschlands nicht mehr ohne weiteres mit Verweis auf die Staatenimmunität als unbegründet abgewiesen werden.
Staatenimmunität bedeute bislang, daß Staaten prinzipiell souveräne Gleichheit genießen und somit der Gerichtsbarkeit fremder Staaten entzogen sind. Doch indem Deutschland in den vergangenen 20 Jahren immer wieder das Recht auf militärische Interventionen zur Durchsetzung von Menschenrechten oder zur Verteidigung am Hindukusch beschwor, kam es zu einer Fortentwicklung der Staatshaftung für Verbrechen. Der bislang undurchdringliche Souveränitätspanzer militärischer Großmächte wird ungewollt durchlässig. Eine Weiterentwicklung dieser Rechtsauffassung könnte nicht nur eine Verbesserung des Individualrechtsschutzes bewirken, sondern insbesondere kriegführende europäische Staaten vor weiteren – bislang straflos gebliebenen Angriffskriegen und deren Folgen – abschrecken.
Nach Ansicht des Rechtsanwalts Roman Nowosielski aus Gdansk, der Natoniewski vertritt, besteht eine örtliche Zuständigkeit polnischer Gerichte für Klagen ziviler Opfer von Kriegsverbrechen. Bei Handlungen wie der rechtswidrigen »Pazifizierung« des Dorfes Szczeczyn seien die Gerichte des Landes zuständig, in denen das Schuldverhältnis entstand. Der Anwalt ist zugleich als Richter am Staatstribunal (Trybunal Stanu) in Warschau tätig und wurde bekannt, als er in einem Präzedenzfall die polnische Regierung zwang, ein Entschädigungsgesetz für enteignete Polen zu verabschieden, die durch die Grenzverschiebung Liegenschaften hinter dem Grenzfluß Bug verloren hatten.