Wer in der Weimarzeit über die Weltbühne und über ihre wichtigsten Mitarbeiter sprach, vergaß selten, Kurt Hiller zu erwähnen. Wie Carl von Ossietzky geriet auch er 1933 nach der Übergabe der Macht an die Hitlerregierung in deren Fänge. Er schrieb darüber: »Ich saß vom 23. März 1933 bis zum 28. April 1934, mit zwei winzigen Unterbrechungen, in zwei Gefängnissen und drei Konzentrationslagern – das Columbia-Haus am Tempelhofer Feld nicht mitgerechnet, in welchem ich am 14. Juli 1933 fast totgepeitscht wurde.« Der 23. März war für Hiller nicht nur der Beginn seines Marterwegs, sondern zugleich der von ihm so benannte »Tag der Schande« – Schande, weil an diesem Tage der Reichstag für das Ermächtigungsgesetz stimmte.
Nicht nur durch die Verhaftung Ossietzkys gleich nach dem Reichstagsbrand mußte Hiller gewarnt sein, auch durch das Verbot der Weltbühne am 7. März, deren am selben Tage erschiene letzte Ausgabe seinen Beitrag »Heroismus und Pazifismus« enthielt. Darin mußten die Faschisten einen Angriff auf ihre Heroismus-Vorstellung erblicken, die ihnen viel bedeute. Wie viel, ersieht man aus Hitlers Rede zum Ermächtigungsgesetz, worin ein Passus als Antwort auf Hillers Attacke gelesen werden kann: »Der Heroismus erhebt sich leidenschaftlich als kommender Gestalter und Führer der Völkerschicksale.«
Hiller war am 17. August 1885 in Berlin geboren worden. In der Reichshauptstadt verbrachte er – von Unterbrechungen durch Studium, Reisen sowie Abschnitten der Haftzeit abgesehen – fast ein halbes Jahrhundert. Nach der Entlassung im Frühjahr 1934 versuchte er noch eine Weile, sich in Deutschland über Wasser zu halten, ehe ihn die politischen Zustände zur Emigration zwangen. Am 2. Oktober des Jahres traf er in Prag ein, das jedoch nach dem Münchener Abkommen keine sichere Zuflucht mehr bot. Daher floh er 1938 nach London weiter, wo er bis 1955 blieb. Siebzigjährig kehrte nach Deutschland zurück und verbrachte die letzten 17 Jahre seines Lebens in Hamburg, das ihn damals künstlerisch-literarisch stärker anmutete als die Stadt seiner Geburt.
An der Geschichte seiner Epoche beteiligte er sich, indem er sich den wechselnden dominanten Tendenzen widersetzte. Er nannte dieses Opponieren »Leben gegen die Zeit« (und dies war auch der Titel seiner Autobiographie, 1969). Seinen Weg als Autor hatte er nach einem Jurastudium mit dem Buch »Das Recht über sich selbst« begonnen (1908, Neuauflage 2010). Hierin initiierte er auf dem Gebiet der Rechtsphilosophie und Justizkritik Wegweisendes, wie gleichzeitig in Österreich der Satiriker Karl Kraus (»Sittlichkeit und Kriminalität«, ebenfalls 1908). Er entwickelte die Prinzipien einer Reform des Sexualstrafrechts, die bis in die Gegenwart weiterwirken, und regte Neues an, was zu seiner Zeit unerhört, über die Maßen sensationell bis skandalös erschien. Aus heutiger Sicht erwarb er sich damit den dauerhaften Ruhm, den Weg einer fortschrittlichen Gesetzgebung gewiesen zu haben. Mit dieser Schrift begann auch sein Kampf gegen die justizförmige Verfolgung gleichgeschlechtlich liebender Männer in Deutschland sowie gegen das Abtreibungsverbot.
Seit etwa 1910 entwickelte Hiller sich zum wichtigsten Theoretiker der Berliner Moderne im Zeitabschnitt des Expressionismus. Darüber schrieb Paul Raabe: Hiller, »dessen literaturpolitische Bedeutung für die Entstehung des Expressionismus nicht zu unterschätzen ist«, habe die Begabung besessen, »das Neue zusammenfassend darzustellen«. Jedoch publizierte er keine theoretische Grundschrift. Sein Ruf beruht im wesentlichen auf einer Fülle von Kleintexten, vor allem Glossen, sowie auf seinen gleichzeitigen literarischen, politischen und juristischen Aktivitäten. Seit dem 1. Weltkrieg entwarf er seine eigene Lehre, den Aktivismus, zu deren Kern gehört, was im 19. Jahrhundert als »Aristokratie des Geistes« diskutiert worden war. Er bevorzugter dafür den Terminus »Logokratie«, die er als Korrektiv der Massendemokratie verstanden wissen wollte. Zu seinen organisatorischen Aktivitäten zählten 1909 die Gründung des »Neuen Clubs«, als dessen der Öffentlichkeit zugewandte Seite das »Neopathetische Cabaret« fungierte; 1911 die Gründung des literarischen Kabaretts »Gnu«; zusammen mit Franz Pfemfert der expressionistischen Zeitschrift Aktion; 1912 Edition der ersten Anthologie expressionistischer Lyrik: »Der Kondor«; 1914 Gründung des »Aktivismus«, eine politisierte Variante des Expressionismus; 1916 bis 1924 Herausgabe der »Ziel«-Jahrbücher; 1926 in Berlin Gründung der »Gruppe Revolutionärer Pazifisten«, zu deren prominentesten Mitgliedern Kurt Tucholsky und Ernst Toller zählten.
Während der Novemberrevolution leitete Hiller für kurze Zeit in Berlin den Politischen Rat geistiger Arbeiter, der den Kampf » gegen die Knechtung der Gesamtheit des Volkes durch den Kriegsdienst und gegen die Unterdrückung der Arbeiter durch das kapitalistische System« als seine Hauptaufgabe sah. Daß der Pazifismus, in den Hiller seine Kraft seit 1920 immer stärker einbrachte, den Klassenkampf nicht ausschloß, sondern ausdrücklich legitimieren sollte, erweist seine Rede »Linkspazifismus« (1920). Für den Begriff »Linkspazifismus« wird sein Schöpfer präzisierend dereinst »Revolutionärer Pazifismus« setzen.
In der Prager und Londoner Emigration entstanden weitere pazifistische und antikapitalistische Schriften, wobei antifaschistische und soziale Themen in den Vordergrund rückten, und er setzte die Bemühungen fort, seine Gesinnungsfreunde zusammenzuführen, zum Beispiel im Freiheitsbund deutscher Sozialisten. Nach dem 2. Weltkrieg wirkte er als kritischer Inspirator von Teilen der politischen Opposition in der Adenauer-Ära sowie als Geschichtsschreiber seines eigenen Lebens
Im Juni 1933, zwischen der zweiten Entlassung und der dritten Verhaftung, traf Hiller die Dichter Erich Kästner und Ernst Blaß auf der Terrasse des Romanischen Cafés in Berlin. Vier Jahre später, im Prager Exil, gedachte er dieser Zusammenkunft in dem Gedicht »Gespenstischer Juni«, das seine Denkart und seinen Stil deutlich macht:
Ihr schlagt uns nicht mürbe, ihr tilgt uns nicht,/ Verächtliche braune Knechte;/
Wir streiten für Freiheit im goldnen Licht,/Für die ewigen Menschenrechte.//
Unser der Sieg! Schon leuchtet es rot/An nächtigen Horizonten.//Die Kerker
gesprengt! Friede und Brot!/Freude an all unsern Fronten!
Hiller, dem Polemiker, hat Wolfgang Beutin kürzlich ein Buch gewidmet, das auch persönliche Erinnerungen des Verfassers enthält: »Hilleriana. Studien zu Leben und Werk Kurt Hillers (1885–1972)«, Neumünster 2010. Anläßlich des 125. Geburtstags von Kurt Hiller ist auch dessen erste Schrift neu erschienen: »Kurt Hiller, Das Recht über sich selbst«, Nachdruck der strafrechtsphilosophischen Studie aus dem Jahre 1908, Neumünster 1910.