Zeit der Buße
Schnellebig geht es zu auf der Bühne der inszenierten Politik, und der massenmedial produzierte Erlöser Deutschlands ist wieder hinter die Kulisse getreten. Für längeren Gebrauch aber steht nun eine Dolchstoßlegende zur Verfügung: Die Partei Die Linke sei es gewesen, an der die Wahl des »überparteilichen Freiheitskämpfers« zum Staatsoberhaupt gescheitert sei. Auf die Fakten nimmt diese Version keine Rücksicht. Der Kandidat Wulff hätte schon im ersten oder zweiten Wahlgang die absolute Mehrheit erhalten, wenn die Linkspartei als Gauckhelferin aufgetreten wäre; denn die aufmüpfigen Wahlmänner und -Frauen unter den Schwarz-Gelben hätten sich dann von vorn herein diszipliniert verhalten. Und im dritten Wahlgang wäre Gauck auch mit den Stimmen der Linken nicht durchzusetzen gewesen. Nonsens also, diese Legende; indessen wird sie so unentwegt erzählt, daß auch die Linkspartei selbst davon beeindruckt scheint. Nach dem »unglücklichen« Verlauf der Gauck-Affäre müsse nun die »Verständigung mit SPD und Grünen gesucht werden«, raunt es da; »mehr Politikfähigkeit« ist angestrebt.
Gabriel und Trittin mitsamt ihren Gefolgsleuten haben kräftig auf die Linkspartei eingedroschen: »betonkommunistisch« sei sie nach wie vor, »noch nicht reif für die parlamentarische Demokratie«, das habe die Gauckverweigerung bewiesen. Aber neben der Peitsche bekommt Die Linke auch Zuckerchen: »Reformer« seien da immerhin zu sichten, vielleicht könne man irgendwann doch über Rot-Rot-Grün reden ...
Der Zweck solcher Übungen ist erkennbar: Die Linkspartei soll Reue zeigen, sich »läutern«. Es geht nicht um die Person Gauck, auch nicht um DDR-Geschichte; die Linkspartei hat dem (ursprünglich von der CSU für dieses Amt vorgeschlagenen) Wunschpräsidenten von SPD und Grünen deshalb nicht zugestimmt, weil er für den Krieg in Afghanistan und für die Agendapolitik Schröders steht. Würde die Linkspartei auf diese Position umschwenken, würde sie also aufhören, links zu sein, dann könnte sie von den anderen Parteien das Zertifikat »demokratiereif« erhalten. Ob sie dann als Koalitionspartner im Bund in Frage kommt, steht dahin; es gibt ja noch die FDP, die seit altersher als »politikfähig« anerkannt ist.
Marja Winken
Das Gauck-Lesebuch
Es war eine Schnaps- oder Kamillentee-Idee, Joachim Gauck für das Amt des Bundespräsidenten zu nominieren. Sigmar Gabriel hätte das schon mindestens zwölf Jahre vorher wissen können, seit im Eichborn-Verlag »Das Gauck-Lesebuch« erschien (mit Beiträgen von Christdemokraten wie Lothar de Maizière und Peter Michael Diestel, Sozialdemokraten wie Friedhelm Julius Beucher MdB und dem früheren hessischen Innenminister Horst Winterstein, Wissenschaftlern wie Jochen Zimmer und Wolfgang Wippermann, Schriftstellern wie Daniela Dahn und Stefan Heym, Juristen wie Henry Düx und Gregor Gysi, Journalisten wie Eckart Spoo und Carola Sommer). Ein Heuchler und Verleumder und die von ihm geleitete, abseits der Verfassung agierende Behörde wurden da mit Schärfe kenntlich gemacht. Aber offenbar geriet der Verlag unter Druck, jedenfalls fand das Buch aus undeutlichen Gründen nicht den Weg in die Buchhandlungen. Gauck wurde weiterhin für die Schmutzarbeit, die er verrichtete, gebraucht. Und gebraucht wurde er auch jetzt, als es mal wieder galt, die Linken auszugrenzen und gerade in der schweren Krise des Kapitalismus jeden Schritt zu einer linkeren Politik unmöglich zu machen. Kurz: Die SPD spielt ihre alte Rolle wie einst, als sie zugunsten Hindenburgs auf eine eigene Kandidatur für das Amt des Reichspräsidenten verzichtete (worauf Carl von Ossietzky nur die Möglichkeit sah, zur Wahl des Kommunisten Ernst Thälmann aufzurufen)
Red.
Schäbig
Vielleicht meinten die führenden Sozialdemokraten ernsthaft, der Regierung Merkel einen Streich spielen zu können, indem sie einen Erzkonservativen als Nachfolger von Horst Köhler vorschlugen. Das wäre dumm gewesen. Es war aber mehr als dumm, es war schäbig, ausgerechnet Joachim Gauck zu nominieren, der seine Stellung als Leiter der nach ihm benannten Behörde über Jahre hinweg für den Versuch mißbraucht hatte, seinen alten Kirchenbruder Manfred Stolpe (SPD) als brandenburgischen Ministerpräsidenten unmöglich zu machen – wegen angeblicher Stasi-Aktivitäten, für die er keinerlei gerichtsverwertbare Beweise vorlegen konnte. Ähnlich verdächtigte er viele Linke. Und dieser Mann erhob den Anspruch, alle Deutschen repräsentieren zu können, ob aus West oder Ost, ob Rechte oder Linke. Dummheiten mag man vergessen. Solche Schäbigkeit aber sollten wir im Gedächtnis behalten.
Werner R. Schwab
Das wird teuer
Die Rücktritte kirchlicher und weltlicher Würdenträger häufen sich: Käßmann, Mixa, Köhler, Jepsen – wer wird der oder die Nächste sein? Die Begründungen sind stets hochmoralisch, die Glaubwürdigkeit des Amtes wird beschworen. Aber derlei vorzeitige Pensionierungen sind kostenträchtig. Zahlen muß der gemeine Steuerpflichtige; auch geistliche Fürstinnen und Fürsten werden hierzulande nicht aus der Kirchensteuer, sondern aus der Staatskasse entlohnt, was uns Napoleon ungewollt eingebrockt hat. Der Sparsamkeit hätte es also gedient, wenn der Vatikan Mixas Rücktritt vom Rücktritt zugestimmt hätte. Vorsichtig umgehen sollte man mit dem neuen Bundespräsidenten, damit nicht auch er einen Anlaß findet, seiner Würde zu entsagen; das käme recht teuer. Und die vielen Bischöfe, die noch zurücktreten könnten – man mag als sparsame Hausfrau gar nicht daran denken. Ganz zu schweigen von der kostspieligen Rücktrittssucht bei Ministerpräsidenten und Ministern: Althaus, Jung, Koch, von Beust – ein Ende ist nicht abzusehen.
M. W.
Neosozialliberal
Eine neue politische Platte legt in der
Welt am Sonntag der Springer-Redakteur Ulf Poschardt auf, Experte für die Geschichte der Diskjockeys: Die Konfrontation zwischen SPD und FDP weiche auf, die Sozialdemokraten hätten »gelernt, daß es mit der Linken kaum geht«, und die FDP halte die Union nicht mehr für ihren Traumpartner. Also öffne sich der Weg zu einer neuen, sozialliberalen »Mitte«. Verabschieden werde sich, so hofft Poschardt, die SPD vom »Gleichheitssinn« und »von der Tradition des autoritären Umverteilungsstaates«. Schon habe Klaus von Dohnanyi in der Zeitschrift
Berliner Republik für eine »klar unternehmensorientierte SPD-Politik plädiert«, und Frank-Walter Steinmeier sei doch ein »authentisch Sozialliberaler«. Christian Lindner, der Generalsekretär der FDP, bewege sich von der anderen Seite her auf diese »neue Mitte« zu ...
Unrealistisch ist es nicht, was Trendsetter Poschardt da schmackhaft machen will. Guido Westerwelle wäre zu entsorgen, Sigmar Gabriel könnte gewiß auch sozialliberal tönen. Und Angela Merkel hätte Muße, ihre Fußballbegeisterung auszuleben. An den Herren der deutschen Wirtschaft würde auch dieses Projekt nicht scheitern; sie wissen, wer das Sagen hat.
Marja Winken
Zeitgeschichte
Eine weiß-blaue Episode wurde wegen Gauckelei und Weltmeisterschaft wenig beachtet: Die bayerische Familienministerin Christine Haderthauer von der CSU warf der FDP vor, »sozialistische Familienpolitik á la Pinochet« machen zu wollen. Der Anlaß: FDP-Politiker hatten vorgeschlagen, das Elterngeld für nicht berufstätige Eheleute zu streichen. Ein bißchen Zoff mit den Gelben muß sein, wird die schwarze Ministerin gedacht haben, und »Sozialismus« als Schimpfwort kommt an. »Pinochet« klingt auch irgendwie übel, also nehme ich beide. Daß der chilenische Diktator ein mörderischer Feind aller Sozialisten war, noch dazu ein »Markt«-Radikaler, wußte Christine Haderthauer nicht. Das kann man ihr nicht ankreiden, die allseits gerühmte bayerische Geschichtskunde hat eben ihre zeitgeschichtlichen Lücken. Vermutlich kennt sich die Ministerin in der Wittelsbacher-Historie aus, nur lassen sich die bayerischen Könige nicht gegen die FDP in Stellung bringen. Bedenklich ist die ministerielle Äußerung aber doch, denn sie setzt den Heroen der eigenen Partei in schlechtes Licht: Franz Josef Strauß war ein Pinochet-Fan. Sind seine politischen Neigungen bei der CSU in Vergessenheit geraten?
Peter Söhren
Inder statt Kinder
Zunehmender Beliebtheit bei Zeitungen, die als seriös gelten, erfreut sich der Bremer Universitätsprofessor Gunnar Heinsohn. Neulich gab ihm
Die Welt Raum für einen Appell: »Stoppt die Vermehrungsprämie! Kein Elterngeld für Sozialhilfemütter!« Jetzt kam er in der
Frankfurter Allgemeinen mit der eindrücklichen Mahnung »Deutschland verschläft den Kampf um die Talente« zu Wort. Heinsohn plädierte in seinem Beitrag dafür, Bevölkerungs- und Sozialpolitik strikt auf das Ziel auszurichten, Humankapital aus anderen Ländern zu importieren und »Vermehrungsförderung« bei »untalentierten« Schichten zu unterlassen; nur so könne die Bundesrepublik in der globalen Konkurrenz um rentable Leistungsträger mithalten.
Da läßt sich weiterdenken: Einwohner, denen es an verwertbarer Intelligenz mangelt, wären zur Abwanderung zu bringen; Zuwanderer, deren Qualifikation nicht mehr paßt, wieder aus dem Land zu drängen; »Geburtenpolitik« resolut dem Ziel zu unterwerfen, »Talente« bereitzustellen. Da es sich um einen internationalen Konkurrenzkampf handelt, müßten irgendwo auf der Welt Reservate für ökonomisch nicht brauchbares Menschenmaterial eingerichtet werden.
Mit seinem Spruch »Kinder statt Inder« appellierte Jürgen Rüttgers vor einigen Jahren an völkische Gefühle. Das war altmodisch. Gunnar Heinsohn zeigt, wie bevölkerungspolitische Brutalität sich »antirassistisch« präsentieren kann, in postmoderner Perfektion: Menschenverachtung, die keinen Verfassungsschützer auf den Plan ruft.
Arno Klönne
Aus deutschem Familienleben
Die
Süddeutsche Zeitung hat einen Kriegsberichterstatter nach Afghanistan entsandt und dessen Rapport zweiseitig abgedruckt. Im fernen Land bekam der Mann einen Brief zu Gesicht, der einem Obergefreiten von dessen Vater aus der Oberpfalz geschrieben worden war. Darin stehen die Sätze: »Sei auf der Hut. Versetz Dich in die Denkweise des Feindes. Mach es wie ich auf der Jagd. Der Kopfschuß ist auf kurze Distanz das Beste. Deine Ehre heißt Treue. Vergiß das nie!« Die Redaktion hat sie ihren Lesern zur Kenntnis gebracht. Unkommentiert. Wie im gleichen Blatt den Wetterbericht.
Kurt Pätzold
Massaker erwünscht
Ein noch so kunstvoll ausgemaltes Feindbild ist ohne Massaker wenig wert. Heutzutage reicht ein einziges Massaker schon zum Völkermord. Auf Völkermörder dürfen dann unsere Jungs oder die befreundeten GI’s humanitär draufhauen. Wie wir es vier Jahre später gemacht haben – »wegen Srebrenica«. Da bombten wir die ganze serbische Industrie in Trümmer und unterwarfen endlich den ganzen Balkan.
Was vor 15 Jahren in Srebrenica geschehen ist, liegt nicht mehr im Dunkeln. Inzwischen sind darüber einige respektable Bücher erschienen; Autoren sind unter anderen Germinal Civicov und Alexander Dorin. Aber wer nimmt sie wahr? Anläßlich des Jahrestags wurden in den Massenmedien einfach wieder die alten erlogenen Geschichten veröffentlicht, damit sich ihre Wirkung fortsetzt und möglichst nie endet. »Die Serben« sollen in Srebrenica 8000 muslimische Jungen und Männer massakriert haben. Dafür gibt es keine Beweise, aber die Zahl ist sicher nicht zufällig aufgekommen. Gerade in Deutschland braucht die Hetzpropaganda gegen »die Serben«, nachdem innerhalb eines Jahrhunderts dreimal deutsche Truppen oder Bomberverbände in Serbien eingefallen sind, ein Massaker mit nicht weniger als 8000 Todesopfern. Denn 1941 haben die deutschen Invasoren in der serbischen Stadt Kragujevac annähernd 8000 Menschen innerhalb weniger Stunden erschossen. Ganze Schulklassen mußten mit Lehrer zur Erschießung antreten. Wer in Deutschland kennt den Namen Kragujevac? Fast niemand. Beim NATO-Bombardement 1999 wurde die Gedenkstätte schwer beschädigt. Den Namen Srebrenica aber kennen wir alle. Beispiellos sei das Verbrechen gewesen, las ich dieser Tage. Die Täter waren selbstverständlich »die Serben«. Ihnen ist ein für allemal die Verbrecherrolle zugewiesen. Daran darf sich nichts ändern, Wir brauchen wenigstens dieses eine Massaker, um weiter unsere Heldenrolle spielen zu können. Wir brauchen das serbische Massaker, damit niemals jemand auszusprechen wagt, Deutschland, der dreimalige Aggressor, könnte zu Entschädigungsleistungen an Serbien verpflichtet sein. Die serbischen Massenmedien, die inzwischen von deutschen Verlagskonzernen übernommen wurden, werden uns mit solchen Erinnerungen und Forderungen verschonen. Bald werden wir »die Serben« soweit haben, daß sie uns um Entschuldigung für Srebrenica bitten.
E.S.
Erfahrungsschatz der Deserteure
Berlin-Kreuzberg, Görlitzer Straße. Das »Archiv Soldatenrechte e.V.« ist im zweiten Stock. Kein Schild, nur ein Zettel am Türrahmen: »Dieter Brünn«. Die geräumige Altbauwohnung wirkt mehr als Bibliothek und Speicher denn als Wohnraum. Vor den vollgestellten Bücherregalen stapeln sich Kartons mit Zeitungen, Magazinen, Flugblättern und Plakaten. Material, das im Lauf von Jahrzehnten zusammengetragen wurde, um RITA (Resistance Inside The Army) zu dokumentieren.
Hefte wie
Left Face oder
Military Law Review aus der Zeit des Vietnamkriegs finden sich neben Biographien von Malcolm-X und allerlei Flugblättern mit der Parole »Fuck the Army«. »Nur Dieter wußte genau, wie alles geordnet ist«, erzählt mir Vicky Marx, Witwe des einstigen GI Dave Harris, der vor 20 Jahren gemeinsam mit Dieter das Archiv begründete. Mit Dieters Tod im April 2010 hat das Herz der Sammlung aufgehört zu schlagen. Küche und Schlafzimmer zeigen, daß Dieter mit den Büchern lebte, aß und schlief. Unentgeltlich kümmerte sich um alles, auch als Verleger im angeschlossenen Harald-Kater-Verlag, wo er unter anderem über soldatischen Widerstand publizierte. Nebenher war er für den Paul-Singer-Verein mit der Umgestaltung des Berliner Friedhofs der Märzgefallen beschäftigt]
Und nun? Über den künftigen Standort des Archivs besteht Unklarheit. Eine Möglichkeit ist das Internationale Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam. Allerdings könnte das Archiv dort nur gelagert, nicht fortgeführt werden, bedauert der in Australien lebende
Ossietzky-Autor Max Watts, der sicht seit Jahrzehnten für RITA einsetzt und vielen Deserteuren zur Flucht verhalf. Die Sammlung verdankt ihm wesentliche Teile ihrer Bestände. Dem Amsterdamer Institut ist er verbunden, seit er 1977 beim
Informations-Dienst für unterbliebene Nachrichten über die angeblichen Selbstmorde von Häftlingen in der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim recherchierte.
Die geschätzten 120 Regalmeter Material sind vielleicht weltweit das bedeutendste Zeugnis für RITA. Eine Fundgrube für Dissertationen oder Diplomarbeiten. Wer die Schätze heben will, braucht freilich Englischkenntnisse, andere Sprachen sind hilfreich. Nähere Information über Max Watts in Sydney: rosiek@bigpond.com, Telefon 0061 295641147 (12 Uhr Berlin = 20 Uhr Sydney).
Markus Schlotterbeck
Rudolf Olden
verteidigte Carl von Ossietzky, als dieser sich als verantwortlicher Redakteur der
Weltbühne dafür zu rechtfertigen hatte, daß Kurt Tucholskys wahre Worte »Sagte ich Mord? Natürlich Mord. Soldaten sind Mörder« im Blatt erschienen waren. Oldens Verteidigungsrede, gespickt mit Zitaten von Friedrich II. von Preußen, Goethe, Klopstock, Herder, Raabe und vielen anderen, führte letztlich zum Freispruch.
Als die Filmprüfungsstelle Ernst Ottwalds und Bertolt Brechts Film »Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt« 1932 verbot, gehörte Olden als Beisitzer dieser Einrichtung an. Im
Berliner Tageblatt schrieb er: »Soll man dabei sein? Soll man dabei bleiben? Soll man seinen unbescholtenen Namen hergeben, daß er auf einer solchen Anwesenheitsliste figuriert? Ich komme zu dem Ergebnis: Dabeibleiben! Solange sie uns nicht hinauswerfen.«
Im Exil engagierte sich Olden mit seiner Frau Ika für die Verleihung des Friedensnobelpreises an Ossietzky, er war Sekretär des PEN, wurde durch seine Hitler-Biographie bekannt, arbeitete journalistisch und befaßte sich intensiv mit der Frage, wie es möglich gewesen war, daß sich in Deutschland das Nazi-Regime durchsetzte. In einem Brief aus Oxford an Gabriele Tergit schrieb er: »Ich lese in diesem Semester hier über ›Rise and Decline of Liberalism in Germany‹, und ich kann nicht umhin, zu dem Schluß zu kommen, daß wir mit dem Liberalismus dem Nazitum den Weg geöffnet und gebahnt haben.«
Die Deutsche Nationalbibliothek in Frankfurt am Main erinnert noch bis zum 28. Juli mit der Ausstellung »Journalist gegen Hitler – Anwalt der Republik« an Rudolf Olden. Das Begleitbuch kostet 15 Euro. Die Ausstellung sollte unbedingt auch an anderen Orten gezeigt werden.
Andreas Stahl
Kuby-Ausstellung
Anfang 1943, gleich nach dem kriegsentscheidenden Sieg der Roten Armee in Stalingrad, notierte Erich Kuby: »Das habe ich nicht gewußt, das habe ich nicht gewollt. So heißt es jetzt, wo ich hinhöre, das ist der billige Text einer tief verlogenen Komödie, von der ich glauben soll, es sei die Götterdämmerung von Wagner. Mitleid? Wer von einer Brücke springt und glaubt, er lande unten in einem Polsterstuhl, beunruhigt mich. – ... und wenn ich hundert Jahre alt werde, dieses Volk werde ich nie sicher an der Kette der Vernunft, ja auch nur an der Kette seiner eigenen wohlverstandenen (hierauf liegt der Ton!) In- teressen sehen. Sie werden von Hitler reden statt über sich – ach, die Armen!« Ihm war »vollkommen klar, daß unser Volk zu einer Aktion, wie sie nötig wäre, nicht die Spur einer Spur einer Spur fähig ist. So anmaßend unser Volk im Besitz der Macht ist, so servil, wenn es sie verspielt hat, es ist mit ihm nichts zu wollen.«
Kuby urteilte hart über sein Volk, ihm war klar, daß er auch über sich selbst urteilte. Er leistete keinen Widerstand, desertierte nicht aus der verbrecherischen Wehrmacht. Er wollte überleben, und dieses Verlangen machte ihn zum scharfsinnigen Beobachter. Er durchschaute und reflektierte. Lange bevor der Krieg zu Ende war, wußte er: Die Deutschen werden keine Revolution machen, nicht einmal am Ende dieses Krieges. Sondern: »Das Mehl wird von einer Tüte in die andere geschüttet.« Und angesichts der Möglichkeiten der Propaganda, das Volk zusammenzuschmieden, sagte er nüchtern voraus, die dem Nationalsozialismus »nachfolgenden Systeme« würden »das gleiche nur eleganter machen und den Leuten ihre Illusionen noch geschickter lassen«.
Dieser illusionslose Autor, vor 100 Jahren geboren, vor fünf Jahren gestorben, ist mir in verschiedenen Situationen, als es galt, gegen Aufrüstung und Haßpropaganda aufzustehen, ein verläßlicher Mitstreiter gewesen. Jürgen Pelzer hat ihn im vorigen
Ossietzky-Heft gewürdigt. Wer Kuby näher kennenlernen möchte, hat dazu eine Gelegenheit bis zum 5. September in einer Ausstellung im Foyer des Willy-Brandt-Hauses in Berlin, Ecke Stresemann-/Wilhelm-straße. Viele seiner Zeichnungen aus dem Krieg sind dort mit Zitaten aus seinen Kriegsnotizen verknüpft. Die Ausstellung war schon in München im Monacensia-Literaturarchiv zu sehen und wird sicher noch weiter wandern. Der vorzügliche Katalog kostet 10 Euro.
Eckart Spoo
Helmut Ridder
»Helmut Ridder war der Staatsrechtslehrer der deutschen Nachkriegsgeschichte, dessen Veröffentlichungen aus der historischen Distanz in ganz ungewöhnlicher Weise immer mehr an Gewicht gewinnen«, schreiben die Herausgeber im Vorwort. Ist Ridder der einzige, über den sich das sagen läßt? Oder gewinnen nicht auch Wolfgang Abendroths Veröffentlichungen an Gewicht? Er und Ridder haben sich gegenseitig sehr geschätzt und waren sich einig in der wissenschaftlichen Kritik am damals eingeführten politischen Strafrecht, am Verbot der KPD, an der Wiederbewaffnung und am Streben nach Atomwaffen, an der Notstandsgesetzgebung, den »Berufsverboten« (nach Ridder: Demokratieverboten) und der Behauptung vom Fortbestehen des deutschen Reiches. Einig waren sie sich auch im politischen Kampf dagegen.
Ridder war nicht »Staatsrechtslehrer«, wie die Verfasser, die ihn so bezeichnen, später selbst ausführen. Verfassungsrecht, nicht Staatsrecht war seine Forderung, weil es nicht mehr an Staat geben dürfe, als die Verfassung normiert. Er verstand sich also in erster Linie als Verfassungs- und Völkerrechtler und als Politikwissenschaftler.
Gewinnen Ridders Analysen wirklich »immer mehr an Gewicht«? Schön wäre es ja und dringend notwendig auch, aber die Verhältnisse, sie sind nicht so. Und daß sie so nicht sind, daran hat der Mitherausgeber Steinmeier mit beträchtlichem Erfolg mitgewirkt: durch »Hartz IV«-Gesetzgebung, Rente mit 67, rigorose Deregulierung und Befreiung der Finanzmärkte von jeglichen Beschränkungen, durch eine Einkommens- und Vermögensverteilung von unten nach oben, durch verfassungswidrige Einsätze der Bundeswehr, durch die Unterstützung einer »Basta!«-Politik, die Entpolitisierung und Entdemokratisierung in Gesellschaft und Staat forcierte.
Mit der Herausgabe dieser Schriften haben die Herausgeber allerdings viel und sehr Verdienstvolles dafür getan, daß Ridders Werk die ihm zukommende Beachtung erhalten kann, damit sich die Orientierung am Gesetz im Sinne eines kritischen Positivismus durchsetzt, die Trennung von Staat und Gesellschaft aufgehoben wird und die Demokratie als ihrer beider umfassendes Prinzip sich verwirklicht.
Der Band ist nobel ausgestattet, der Preis mit 148.- € prohibitiv. Das Fehlen eines Stichwort- und Personenverzeichnisses ist sehr zu bedauern, gerade weil sich wesentliche Aussagen Ridders in »Inkursen« und Exkursen, in Anmerkungen und umfänglichen Parenthesen verbergen.
In den Sammelband wurde ein Schriftenverzeichnis aufgenommen, erstellt von Marga Pfeffer, auf deren umsichtige und tatkräftige Hilfe Ridder stets zählen konnte. Es ermöglicht einen guten Überblick über die Fülle der Themenbereiche und den staunenswerten Umfang des ridderschen Werks, kann aber auf Vollständigkeit keinen Anspruch erheben.
Die Herausgeber klären nicht darüber auf, nach welchen Kriterien sie die Auswahl der Schriften vorgenommen haben, und verweisen nicht auf die nicht aufgenommenen Schriften. Doch gerade im Zusammenhang mit der sich verstärkenden unsäglichen Rechtsstaats-Unrechtstaats-Debatte wäre es interessant zu wissen, warum sie zum Beispiel Ridders Aufsatz »Die neueren Entwicklungen des Rechtsstaats«, in dem er seine vielfach geäußerte Kritik an der bundesrepublikanischen Rechtsstaatsidee zusammenfaßte, nicht in die Sammlung aufnahmen. Dieser Text erschien 1987 in der Festschrift für den Marxisten Hermann Klenner; ein Umstand nicht zuletzt auch von biographischer Bedeutung.
Peter Römer
Dieter Deiseroth/ Peter Derleder/ Christoph Koch/ Frank-Walter Steinmeier (Hrsg.) »Helmut Ridder. Gesammelte Schriften«, Baden-Baden 2010, 785 Seiten, 148 €; wesentlich preiswerter kann man sich über Ridders Werk orientieren bei Friedrich-Martin Balzer (Hrsg.): »Helmut Ridder. Das Gesamtwerk«, Werkausgabe in sechs Bänden, CD-Rom, Bezug über www.friedrich-martin-balzer.de
Ästhetische Gründe?
Auch in der DDR kamen clevere Kulturfunktionäre auf den Dreh, Bücher, die ihnen aus politischen Gründen nicht paßten, aus »ästhetischen« Erwägungen abzulehnen. Seit zwanzig Jahren leben wir gelernten DDRler nun in der Bundesrepublik, wo man uns einreden und beweisen will, Kunst und Politik hätten hier gar nichts miteinander zu tun. Erscheint jedoch ein neues Buch von Christa Wolf, erleben wir es wieder: Angeblich aus ästhetischen Gründen – die Autorin habe die Sprache verloren (und das bei über 400 Seiten!), der Roman sei kein Roman und so weiter – verreißen Kritiker das Buch, wenn es ihnen politisch nicht paßt.
Mir paßt es, weil die Autorin, die unverhohlen »Ich« sagt und sich kaum in einer Kunstfigur versteckt, auf der Wahrheit und dem Recht ihres Lebens, wie sie es gelebt hat, besteht. Mit allen Irrtümern und Werten.
Dazu gehört auch, daß es sie ungeheuer quält, feststellen zu müssen, daß sie die eigene IM-Tätigkeit vergessen, verdrängt, vielleicht auch für unwichtig gehalten hat. Sie spricht sich mit »Du« an. Fern der Heimat, in den USA, gewinnt sie Abstand, beobachtet den ihr fremden Alltag, bewundert das Licht über dem Ozean, findet Gesprächspartner, stärkt sich mit Liedern, Erinnerungen, Vergleichen, wird wieder das »Ich«, das ihre Fans lieben, mit Fragen an sich und die Welt, die weh- und zugleich guttun. Eine andere Ästhetik war bei Christa Wolf nie zu haben. Nur ist die Schriftstellerin heute müder und desillusioniert.
Vielleicht sind für Leser aus dem Westen manche Anspielungen weniger verständlich, bestimmt sind sie nicht so emotional besetzt, denn plötzlich steigen – mit einer Liedzeile oder einem Begriff – eigene Erinnerungen auf: ein Kosmos gelebten Lebens, den es nach heutigem Mainstream am liebsten nicht gegeben haben soll. Wer freilich nicht verstehen kann oder will, daß man in der DDR leben, träumen, hoffen, zweifeln und sogar verzweifeln konnte, ohne das Land verlassen zu wollen, wird keinen Zugang zum Buch finden und es verteufeln – natürlich aus ästhetischen Gründen.
Christel Berger
Christa Wolf: »Stadt der Engel oder The overcoat of Dr. Freud«, Suhrkamp, 415 Seiten, 24.80 €
Nachbemerkung
Im Dreiundneunzigerjahr in einem Leserbrief an den
Spiegel geschrieben zu haben, daß Christa Wolfs mich betreffender Stasi-Bericht angesichts ihrer literarischen Leistung nicht ins Gewicht falle, war gut und richtig – und ist es noch. Wenn ich aber heute das
Spiegel-Heft Nr. 4 jenes Jahres im Internet aufrufe und aus heutiger Sicht darin lese, daß sie mich für »recht talentiert« hielt, allerdings gefährdet »durch mangelhafte theoretische Kenntnisse« und zu sehr »Impressionen ausgesetzt«, fühle ich mich an Lehrerinnenzeugnisse erinnert. Das Ganze ist eine Lappalie, ein Stürmchen im Wasserglas. Mußte sie sich damit neun kalifornische Monate lang auseinandersetzen, zumal sie damals auch einen Entschuldigungsbrief an mich schrieb? Möge es ihr eine Genugtuung sein, daß aus jener Zeit das preisgekrönte Buch »Stadt der Engel« entstanden ist.
Walter Kaufmann
Dank an Diebe?
Im Juni dieses Jahres, so berichtete die
Märkische Oderzeitung, erhielt die Stiftung preußische Schlösser und Gärten in Potsdam zehn Gemälde, die seit 1945 vermißt worden waren. Laut Zeitungsbericht war es »die umfangreichste Rückführung verschollener Bilder, seit 1958 die Sowjetunion 300 Güterwaggons mit beschlagnahmten Kunstwerken nach Deutschland zurückschickte«. Auffällig: Von dreihundert Waggons ist die Rede, nicht von Anzahl und Bedeutung der Kunstwerke.
Nun also wurden zehn Gemälde »rückgeführt«. Sie befanden sich in einer Berliner Wohnung. Die Frau des Rheinsberger Schloßkastellans, Olga Birkemeier, hatte die Gemälde, die aus dem Schloß Sanssouci ins Schloß Rheinsberg »evakuiert« worden waren, »an sich genommen, um sie vor der Roten Armee in Sicherheit zu bringen«, so der Erklärungsversuch aus der Stiftung. Warum sagt man nicht einfach: Die Frau hat gestohlen?
Später gab sie die Beutekunst einer Schwester in Berlin. Den schweren Diebstahl nannte sie laut Zeitungsbericht »eine Art Wiedergutmachung für das, was sie durch den Krieg und die Besetzung an Hab und Gut verloren hatte«.
Die Gemälde blieben in Privatbesitz, bis die vermeintlichen Besitzer einem Berliner Auktionshaus drei davon anboten, angeblich um zu erfahren, ob sie denn tatsächlich Wert hätten. Bei Kunstsachverständigen schrillten die Alarmglocken, denn die Inventarnummern auf den Rückseiten waren eindeutig erkennbar. Der eben noch ahnungslose Anbieter, offenbar durch das Interesse des Auktionshauses gewarnt, packte schnell alle Gemälde ein und brachte sie zur Schlösserdirektion nach Potsdam. »Die behalten Sie jetzt da. Das sind ja Ihre«, soll er gesagt haben, bevor er mit einem »Finderlohn in nicht genannter Höhe« abgefunden war.
Merke: Schwerer Diebstahl wird zur Kunstrettungsaktion, wenn er zum Schutz vor dem Zugriff der Roten Armee begangen wurde. Hehlerei wird eigentlich mit Haft oder Geldstrafe geahndet. So kenne ich es noch aus dem vielzitierten Unrechtsstaat, in dem ich aufgewachsen bin. Nicht so im Rechtsstaat. Hier bekommt man unter den dargestellten Bedingungen einen »Finderlohn«, denn der Generaldirektor der Schlösserstiftung sieht in dem skandalösen Diebstahl schlicht eine »private Übernahme«. Können die Angehörigen des einstigen Kastellans vielleicht auch noch Aufbewahrungsgebühr für mehrere Jahrzehnte geltend machen? Und Schmerzensgeld, weil ihnen die Bilder jetzt bitter fehlen?
Gerhard Hoffmann
Rücksichtslos ehrlich
Der Dichter, der sich an sein Tagewerk begibt, muß sich erst einmal die Mitesser ausdrücken; Erasmus Schöfer beschreibt das genau. Dann muß er an einem Zahnstocher so lange herumbeißen, bis das Holz zu Brei wird; einzelne Holzfasern muß er dann mühsam zwischen den Zähnen oder Zahnkronen herausziehen. Dann muß er über seine Handschrift nachdenken, mit der er seit jeher unzufrieden ist. Und es stellt sich heraus, daß er, obwohl es ihm eigentlich an nichts mangelt, mit allem unzufrieden ist, zum Beispiel auch mit seiner berufstätigen Ehefrau, die nicht immer gebührendes Interesse an seinen Produkten zeigt.
»Er selbst war überzeugt, ein Autor der literarischen Bundesliga zu sein, aber er konnte wenig mehr als diese Überzeugung zum Beweis dafür anführen.« – »Er gehörte zum Adel der verkannten Genies.« Solche Sätze können nur selbstironisch gemeint sein – denke ich. Und wünsche es, weil ich nicht will, daß sich der Autor lächerlich macht. Aber dann sehe ich Schöfer, wie ich ihn seit Jahrzehnten kenne: immer als wandelnden Vorwurf an seine Mitmenschen, daß sie ihn nicht hinreichend wahrnehmen und würdigen. Und mir wird klar: Jeder dieser Sätze ist ernst zu nehmen, auch diese: »Obwohl er die absolute Unzuverlässigkeit der Rezensenten bei der Einschätzung neuer Werke am eigenen Text und Herzblut kennengelernt hatte, beruhigten ihn Verrisse der Neuerscheinungen andrer dennoch. Sie hinterließen das erleichternde Gefühl, daß zumindest die hier zerpflückte Arbeit erst mal keine ernsthafte Konkurrenz bilden werde.«
Hier berichtet ein Autor außergewöhnlich ehrlich über die Nöte des Künstlers, der immerzu darum kämpft und kämpfen muß, wahrgenommen zu werden. Gerade das macht den Wert dieses Buches aus. Wer sonst schreibt so rücksichtslos offen über sich selbst! Dafür verdient er Respekt und Anerkennung – und vielleicht stellt sich sogar doch auch ein bißchen Sympathie ein, obwohl Schöfer mit diesem Buch alles andere als Sympathiewerbung für sich betreibt.
Übrigens: Schöfers Hauptwerk, die Romantetralogie über die außerparlamentarische Opposition in Westdeutschland in den 60er bis 90er Jahren, bietet der Verlag auf der letzten Seite »zum Sonderpreis von nur € 77.00« an. Ein günstiger Preis für die vier dicken Bände. Hoffentlich ist das kein Indiz für beginnende Verramschung, sondern für die Erschließung breiterer Leserschichten.
Evelyn Enzian
Erasmus Schöfer: »Der gläserne Dichter«, Dittrich Verlag Berlin, 143 Seiten, 16.80 €
Medienmacht oder Demokratie
Momentan zürnen mal wieder manche lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger dem Volk. In Hamburg hat es gegen gemeinsames Lernen in den Klaasen 5 und 6 votiert. Mehr Demokratie? Mehr Volksbegehren und Volksentscheide? Mehr Mitbestimmung? Nein, doch lieber nicht. Das Volk verdient kein bißchen Volksherrschaft.
Aber wie, bitte, ist das Hamburger Ergebnis zustande gekommen?
Man braucht nur nachzublättern, wie die Massenmedien instrumentalisiert, die Massen manipuliert wurden. Eine erfolgreiche Kampagne.
Es besteht dringender Anlaß, endlich wieder die Macht des Springer-Konzerns zum Thema zu machen – gerade in Hamburg.
Hier gelang es ihm vor einigen Jahren, innerhalb weniger Wochen den vorher unbekannten »Richter Gnadenlos« Barnabas Schill zum Volkshelden hochzuschreiben, der bei der Bürgerschaftswahl prompt auf 20 Prozent kam und dem CDU-Kandidaten von Beust zum Bürgermeisteramt verhalf. Und jetzt wurden die Köpfe der Hamburger derart verdreht, daß das Volk gegen die Volksbildung stimmte und Beust resignierte.
Man lese bitte auch, was Max Watts am Anfang dieses Heftes über eine Kampagne in Australien berichtet, die jüngst den dortigen Premierminister zum Rücktritt zwang. Der australische Springer heißt Murdoch.
Von dem
Ossietzky-Sonderdruck »Keine Demokratie ohne Demokratisierung der Medien« sind noch einige Exemplare vorrätig.
Red.
Notizen zur Kommunikation
Erklärungen, die man nicht findet, erfindet man.
*
Manch einer denkt, weil er zu Massen spricht, die Massen würden ihm zuhören.
*
N.N. ist es leider gar nicht wert, daß man ihn eines Blickes würdigt.
*
Der Sinn des Lebens besteht insofern darin, Kinder aufzuziehen, als einen das Aufziehen der Kinder weitgehend daran hindert, über den Sinn des Lebens nachzudenken, und zwar so lange, bis einem der Sinn des Lebens ohnehin gleichgültig geworden ist.
*
Was Kalle betrifft, so dachte ich anfangs, er lächle, bis ich merkte, daß er lediglich die Zähne zeigt.
*
Mit dem Ehepaar sind wir gesellschaftlich eng verbunden. Morgen trinken sie bei uns Kaffee, und übermorgen sind wir bei ihnen zum Abendessen eingeladen und so weiter, um zumindest durch unsere Anwesenheit zeitweise zu verhindern, daß sie sich gegenseitig verprügeln.
*
Wer einen Mitmenschen ohne zwingenden Grund aus dem Schlaf zu reißen vermag, ist zu allem fähig.
Felix Mantel
Was das Gesagte bedeutet
Talleyrand hat einmal gesagt, der Mensch habe die Sprache, um seine Gedanken zu verbergen. Damit meinte er die eigenen Gedanken. Heutige Staatsmänner legen auf die eigenen Gedanken nicht mehr so großen Wert. Dafür kümmern sie sich ausgiebig um die Gedanken derer, die, oft sehr ungern, von ihnen regiert werden. Und sie benutzen die Sprache, um deren Gedanken zu vernebeln. Norbert Blüm ist landauf landab gereist und hat überall versichert, die Rente sei sicher; er hatte sogar Rentensteigerungen in beträchtlichem Umfang angekündigt. Jetzt, wo sich das als unwahr erweist, denken die Vielen, die es geglaubt haben, der Mann habe geschwindelt. Gegen diese Gedanken geht er sprachlich an. Was er gesagt habe, seien gar keine Versprechen gewesen, sondern Modellrechnungen, die auf Annahmen von Sachverständigen beruhen. Die Enttäuschten tun ihm sozusagen bitter Unrecht, weil sie, was er gesagt hat, für ein Versprechen gehalten haben, obwohl es gar keines war, und ihm nun auch noch die Schuld für ihren Irrtum in die Schuhe schieben wollen. Das ist ein Lehrbeispiel mit Allgemeingültigkeit. Ein Politiker kommt ohne alle möglichen Fähigkeiten aus, aber nicht ohne semantische Einfalt. Obama hat gesagt, er werde Mitte 2011 mit dem Truppenabzug in Afghanistan beginnen. Das besagt nicht, daß Obama Mitte 2011 mit dem Truppenabzug in Afghanistan beginnt. Denn diese Zusage ist nach den Erläuterungen eines hochrangigen ehemaligen Beraters des Präsidenten keine Zusage, sondern lediglich eine »Vorgabe eher symbolischer Natur«. Leute, die schon dreimal geschieden sind, gehen mit solcher Einstellung zum vierten Mal zum Standesamt. Und wenn ein Staatspräsident mit dem Finger in der Nase bohrt, ist das kein ordinäres Popeln; sondern die manuelle Beseitigung eines nasalen Fremdkörpers.
Günter Krone
Baustelle
»Wir haben da eine Baustelle«, die Wortwendung erfreut sich hierzulande von Politikern bis zu Fußballtrainern seit einiger Zeit besonderer Beliebtheit. Häufig wird ihr zudem das Wörtchen
noch eingefügt. Das Bild taugt zu vielerlei. Denn: Baustelle, das ist ein positiv konnotierter Begriff. Zur Zeit vielleicht nicht in Köln. Aber außerhalb der Domstadt entsteht vor jedermanns geistigem Auge ein Bild von sich bewegenden Kranen, heranfahrenden Schwerlastwagen mit Beton und anderen Materialien, behelmten Männern, die nach festen und erprobten Plänen zu Werke gehen. Baustelle! Dazu gehört ein fest umrissenes Ziel, von dem die Handelnden eine klare Vorstellung besitzen, das zu einem Termin erreicht sein wird, vorausgesetzt einzig, daß dem Bauherrn nicht das Geld ausgeht. Und das »Noch«? Es besagt, daß der Bau im großen ganzen bereits gemeistert ist. Nur mit einem Anbau oder etwas Ähnlichem haben wir eben noch zu tun. Dann wird das Ganze in vollem Glanze fertiggestellt sein. Geduldet Euch, liebe Leute, und stört unsere Kreise nicht.
Baustelle ist in den Mündern der Macher zu einer Vokabel der Selbst- und Fremdberuhigung geworden. Im Fußball nach einem schlechten Spiel, das wenig Gutes erwarten läßt. In der Politik als ein Offenheit, Ehrlichkeit bezeugendes Geständnis und zugleich als Versprechen, daß die fragliche Sache in festem Blick und Griff ist. Weitere Erkundungen sind also überflüssig. Und die Mehrheit der Reporter von Fernsehen, Radio und Presse, glaubensfähig, wie sie geboren ist, gibt sich damit zufrieden. Sie ist vor Sehern, Hörern und Lesern ihrer Informationspflicht nachgekommen und sicher, daß ihnen das nächste Interview, sind sie doch nicht lästig gefallen oder gar zudringlich geworden, nicht verwehrt werden wird.
Achtung Baustelle! Derlei Warnung verbindet sich auf Straßen und Plätzen gemeinhin mit dem Verbot: Nicht weiter gehen. Das ist im eigenen Interesse zu respektieren. Wo heute Politiker von Baustelle reden, ist es als Gebot zu entschlüsseln: Nicht weiter denken. Das sollte besser ignoriert werden.
Kurt Pätzold
Press-Kohl
In einem Gespräch mit Reinhard Marx, dem Erzbischof von München und Freising, das Christian Schlüter und Joachim Frank für die
Berliner Zeitung und andere Blätter des DuMont-Konzerns führten, erklärte der kirchliche Würdenträger unter anderem: »... Wenn ein Mensch über das Leben eines anderen Menschen entscheidet, ist der fundamentale Grundsatz der Gleichheit aller Menschen aufgehoben. Damit ist letztlich die Demokratie gefährdet.« Über die besonderen Aufgaben und Wirksamkeiten der in militärischen Diensten stehenden Geistlichkeit äußerte sich Erzbischof Marx mit keinem Wort.
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Peter Ustinov (1921–2004), der unvergessene und unvergeßliche Schauspieler, Regisseur, Stückeschreiber und Lebenskünstler, begeisterte sein Publikum noch anno 2003 im Hamburger Hotel Vier Jahreszeiten. Der Verlag Hoffmann und Campe hat Ustinovs Vortragskunst in einem Hörbuch aufgezeichnet. Im Begleittext steht »1990 wird Peter Ustinov durch Königin Elizabeth II. von Großbritannien in den Adelsstand erhoben.« Und dort steht auch: »Sir Peter Ustinov wurde 1921 in London geboren.« Warum hat ihn die Königin nachträglich in den Adelsstand erhoben, obwohl er schon bei seiner Geburt Sir Peter war?
Felix Mantel
Die 28 Seiten übers Sparen und die Sparpolitik in diesem Heft können bei Abnahme von mind. zehn Exemplaren als Sonderdruck bezogen werden. Preis 1.50 € pro Exemplar plus Porto.