Die deutsche Bundesrepublik ist reich an Gedenktagen und -jahren. Noch ehe ein Jahr lang der 20. Jahrestag der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands begangen wird, ist jetzt erst einmal mindestens ebenso lang ihrer Zerschlagung vor 60 Jahren zu gedenken, also der Währungsreform und in ihrem Gefolge auch der glorreichen »Berliner Luftbrücke«. Gerade letztere hat es verdient, denn es handelt sich, wie auf der Internationalen Luft- und Raumfahrtausstellung »ILA 2008« so treffend formuliert wurde, um ein »einzigartiges weltpolitisches, humanitäres und fliegerisches Ereignis ... in der deutschen Geschichte«.
Der Reigen der Veranstaltungen ist lang und bunt:
Ausstellungen über die Leiden der Bevölkerung im Westteil Berlins und über die Anstrengungen, Leistungen und Opfer der Alliierten; »Rosinenbomber« vom Typ DC 3 am Boden und während der »ILA« im »Memorial Flight« in der Luft; Kranzniederlegung durch den Regierenden Bürgermeister in Anwesenheit ausländischer Botschafter, umrahmt vom Bundespolizeiorchester Berlin; Empfang im Berliner Roten Rathaus für US-amerikanische, britische und französische Veteranen; Festsitzung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion an historischer Stelle auf dem Noch-Flughafen Berlin-Tempelhof; Verkauf eines »Rosinenbomberbrotes« zum Preis von 2,20 Euro, wovon 20 Cent in »Care«-Hilfsprojekte fließen.
All das und vieles andere dient, wie ein Beschluß des Vorstandes der CDU/CSU-Bundestagsfraktion aufklärt, der Erinnerung an den »Versuch der Sowjets unter dem Beifall ihrer einheitssozialistischen Helfer, ganz West-Berlin und seine 2,2 Millionen Menschen durch Sperrung aller Zugangs- und Versorgungswege auszuhungern«. Das von der Berliner Senatskanzlei kurz und klar formulierte erinnerungspolitische Motto, das über allen Ausstellungen, Ehrungen und »Rosinenbomberbrot«-Backstuben steht, lautet: »Dank der Luftbrücke konnte Berlin damals als Insel der Freiheit und Demokratie überleben.«
Das Gedenken macht stolz. Beinahe rührt es zu Tränen – wenn nur einige historische Lappalien nicht verrutscht wären. Dazu gehört die vielleicht nicht ganz nebensächliche Tatsache, daß in den westlichen Besatzungszonen mit der 1948 verkündeten Währungsreform die bis dahin in West und Ost gültige Reichsmark abgeschafft und durch die bereits im Herbst 1947 in den USA gedruckten, in einer filmreifen Geheimaktion nach Westdeutschland gebrachten DM-Geldscheine ersetzt wurde. Wozu auch sollte man sich die schönen Feierlichkeiten durch den Hinweis trüben lassen, daß die damalige Reform in krassem Widerspruch zu der im Potsdamer Abkommen vereinbarten Behandlung Deutschlands als einheitliches Ganzes stand, daß sie das besetzte Land ökonomisch spaltete und die staatliche Teilung entscheidend vorantrieb? Es würde doch nur die gute Laune verderben, wenn man etwa den Zeitzeugen Wilfried G. Burchett zu Wort kommen ließe, der in seinem Buch »Der Kalte Krieg in Deutschland« konstatierte: »Deutschland wurde wie mit dem Messer eines Chirurgen in zwei Hälften geteilt, als die Banken der drei westlichen Zonen am Sonntag, dem 20. Juni 1948, jedem der fünfzig Millionen Einwohner der britischen, amerikanischen und französischen Zone vierzig neue gegen vierzig alte Mark eintauschten.«
Vergessen wird folglich auch, daß der Chefchirurg, der Militärgouverneur der US-amerikanischen Zone, General Lucius D. Clay, dem Chef der sowjetischen Militäradministration in Deutschland, Marschall Wassili D. Sokolowski, noch am 18. Juni hoch und heilig versichert hatte, daß sich die währungspolitischen Maßnahmen nicht auf die Berliner beziehen würden. Schall und Rauch! Bereits am 23. Juni wurde die separate Währungsreform auf Westberlin ausgedehnt. Die Gefahr, daß über die offenen Grenzen Unsummen der entwerteten Reichsmark in die sowjetische Besatzungszone einfließen und ein ökonomisches Chaos anrichten würden und daß Westberlin entgegen den Vereinbarungen der Siegermächte den Westzonen angeschlossen würde, vergrößerte sich rapide. Angesichts dessen sah die sowjetische Besatzungsmacht keinen anderen Ausweg, als in der Ostzone die Reichsmark in Eile mit Klebekupons zu versehen und alle Verkehrsverbindungen zwischen den Westzonen und Westberlin zu sperren; gleichzeitig bot sie an, die Versorgung Westberlins mit allen lebensnotwendigen Gütern zu übernehmen, was umgehend abgelehnt wurde. Die Blockade Westberlins begann, und die grandiose, zutiefst humane Luftbrücke – so humanitär wie bekanntermaßen jegliche US-amerikanische Regierungspolitik – wurde errichtet.
Wenn der Blockade gedacht wird, bleibt regelmäßig ein weiterer vielleicht nicht ganz nebensächlicher Umstand außer Acht. Offensichtlich aus lauter Vergeßlichkeit klammern die Gedenkredner und -schreiber die langen erbitterten Auseinandersetzungen darüber aus, ob das in vier Sektoren gegliederte Berlin die Hauptstadt eines zukünftigen einheitlichen, keinem Militärblock angehörenden deutschen Staates wird, wie es Moskau bis zur Ablehnung der »Stalin-Note« vom 10. März 1952 anstrebte, oder ob der Westteil der Stadt in einen westdeutschen Separatstaat eingegliedert wird, dessen Gründung bereits im März 1947 auf der Londoner Außenministerkonferenz beschlossen worden war, um über kurz oder lang den von Washington geplanten antikommunistischen Militärblock zu verstärken.
Bei solcher Gedächtnisstörung ist es kein Wunder, daß die Luftbrückenverklärer auch die damalige Kriegshysterie unerwähnt lassen. Schon drei Monate vor dem Bau der Luftbrücke hatte General Clay in einem Telegramm an seine Regierung vor einer sowjetischen Aggression gewarnt, die »mit dramatischer Plötzlichkeit« beginnen könne. Und während im Pentagon Pläne für ein Strategisches Bomberkommando mit mindestens 630 neuen Fernbombern vom Typ B-29 geschmiedet wurden, die Atombomben in jedes Ziel in der Sowjetunion tragen könnten, stürzte sich der Hauptbefürworter dieser Pläne, der US-Ex-Verteidigungsminister James V. Forrestal, im Mai 1948 mit dem Ruf »Die Russen kommen« aus dem 16. Stock des Bethesda-Marinehospitals in den Tod.
Nun, die Russen kamen nicht, aber die Luftbrücke erwies sich, wie die Londoner Times im Februar 1949 konstatierte, als »ein großes strategisches Übungsfeld«, das »alle früheren Erfahrungen mit der Luftversorgung im Krieg ... völlig über den Haufen geworfen hat«. Das bestätigte auch der Nazigeneral und Kriegsverbrecher Hans Speidel, der, nachdem er zum »Sicherheitsberater« Konrad Adenauers geworden war, »die praktischen Erfahrungen bei der Luftbrücke Berlin« für eine künftige Luftkriegsführung würdigte.
Während der Feierlichkeiten 60 Jahre danach bleibt der militärische Nutzen der Luftbrücke ausgeklammert, ebenso, und das gewiß rein zufällig, der propagandistische. Dabei hatte doch US-Außenminister John Foster Dulles schon im Januar 1949 in einer Rede vor Schriftstellern in Paris die Katze aus dem Sack gelassen: »Zu jeder Zeit hätte man die Situation in Berlin klären können ... Die gegenwärtige Lage ist jedoch aus propagandistischen Gründen für die USA sehr vorteilhaft. Dabei gewinnen wir das Ansehen, die Bevölkerung von Berlin vor dem Hungertod bewahrt zu haben, die Russen aber erhalten die ganze Schuld wegen ihrer Sperrmaßnahmen.«
Diese weisen Sätze des Großmeisters im Kalten Krieg haben die Zeit überdauert. Zwar bleiben sie ebenfalls sicherheitshalber unerwähnt, aber die offizielle Würdigung der Geschehnisse, die bis zum Jahrestag der Beendigung der Luftbrücke am 12. Mai kommenden Jahres geplant ist, werden sie auch fürderhin bestimmen. Für die bisher vergessenen kleinen historischen Wahrheiten wird da schwerlich Zeit und Raum bleiben. Schließlich geht es wie damals in der »Insel Berlin« auch heute um den Schutz von »Freiheit und Demokratie«.