Je mehr die Gewalt in Syrien eskaliert und je weniger der Nachschub von Waffen über die Grenzen vertuscht werden kann, desto weniger läßt sich der wahre Charakter dieses Konfliktes und seiner Akteure verhüllen. Bislang wurde uns ein Bild gezeichnet, das die syrischen Sicherheitskräfte mit ihrem rücksichtslosen und brutalen Vorgehen gegen eine friedlich demonstrierende Bevölkerung für die Eskalation und 10.000 Tote allein verantwortlich macht. Bedenkenlos werden die täglichen Berichte der in London ansässigen »Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte« verbreitet, da sie so gut der manichäischen Vorstellung vom bösen Assad-Regime und der guten Opposition entsprechen. Inzwischen sind die Quellen, aus denen wir uns informieren können, vielfältiger geworden. Bereits im Juli 2011 veröffentlichte die International Crisis Group (ICG) eine eigene Untersuchung, in der sie der einseitigen Schuldzuweisung an Assad widersprach. Es sei wahrscheinlicher, daß »kriminelle Netzwerke, bewaffnete Islamisten-Gruppen, von außen unterstützte Elemente und einige in Selbstverteidigung handelnde Demonstranten zu den Waffen gegriffen haben«. Auch die Behauptung, die unter anderem von Human Rights Watch bis vor kurzem verbreitet wurde, daß sich die Opposition erst spät und nur zur Verteidigung bewaffnet hat, läßt sich nicht mehr aufrecht erhalten. Zunehmend berichten glaubwürdige Quellen davon, daß die Rebellen von Anfang an bewaffnet gewesen sind. Nach Angaben der Washington Post sollen auf Seiten der Aufständischen inzwischen etwa 60 Gruppen kämpfen: Sie verfügen über eigene und unabhängig agierende Milizen mit immer mehr Kämpfern, die besser organisiert und bewaffnet seien. Neu sei eine »Front der Syrischen Rebellen«, die 12.000 Männer unter Waffen haben soll. Und wenn jetzt selbst die New York Times und das Wall Street Journal aufdecken, daß die CIA von der Türkei aus die Waffenlieferungen nach Syrien koordiniert, so rundet sich das Bild von einem Krieg, den die Frankfurter Allgemeine mit dem Bürgerkrieg in Spanien 1936 vergleicht. Auch damals habe sich das Ausland offiziell nicht eingemischt. Die inoffizielle Unterstützung durch das faschistische Deutschland und Italien sei aber nun das Beispiel, dem Qatar und Saudi-Arabien offensichtlich folgen. Die Zeitung hätte durchaus die USA und die Türkei hinzufügen können.
Der Vergleich zwischen Spanien 1936 und Syrien 2012 mag in vielen Aspekten falsch sein. Er stimmt jedoch insofern, als es sich in Syrien schon lange nicht mehr um einen internen Konflikt handelt, sondern um einen Krieg, der vielleicht nicht von außen entfacht wurde, aber nachhaltig genährt und angeheizt wird: mit Geld, Waffen, Söldnern, Kommunikationstechnik, Logistik und Beratung. Manches erinnert an die Unterstützung, die Anfang der achtziger Jahre die USA den von Honduras aus gegen Nikaragua agierenden Contras hat zukommen lassen und gegen die sich Nikaragua nur mit einer Klage vor dem Internationalen Gerichtshof hat wehren können.
Ziel des Krieges ist die Beseitigung des Assad-Regimes, mit dem die meisten der jetzt im Krieg engagierten Regierungen Jahrzehnte lang zusammengearbeitet haben – trotz oder wahrscheinlich wegen seines repressiven Charakters und der bekannten Folterpraxis. Es ist der vorletzte Stein in dem großen Mosaik des Mittleren Osten, an dem die USA mit ihren Verbündeten seit über 20 Jahren bauen. Der letzte Stein ist Iran, und eine alte militärische Devise lautet: der Weg nach Teheran führt über Damaskus. Auf diesem Weg ist man jetzt und überlegt, wie man am schnellsten und sichersten ans Ziel kommt. Reicht die Ausrüstung und Unterstützung der Aufständischen, um das Regime von innen zu stürzen, oder bedarf es doch einer Intervention à la Libyen? Da Rußland und China dazu diesmal nicht die Entscheidung im UN-Sicherheitsrat freigeben werden, wird in den USA offen über das Modell Irak 2003, eine Intervention ohne Mandat des Sicherheitsrats, nachgedacht. Doch ist diese Variante derzeit wenig realistisch. Denn sie fände wohl nur einen Bündnispartner, Israel, welches sich ohnehin nicht durch Völkerrecht und UNO gebunden fühlt. Zudem werden sich die USA vor den Wahlen im November einen solch offenen Bruch des Völkerrechts nicht noch einmal leisten können.
So bleibt nur die immer offenere – zwar völkerrechtswidrige, aber deutlich billigere – Parteinahme in einem Bürgerkrieg. Die Abtrennung syrischen Territoriums an der Grenze zur Türkei als »befreite Gebiete« für Flüchtlinge und Aufmarschgebiet und Versorgungsbasis für die Aufständischen wird bereits erwogen. Dem widerspricht nicht der russische Vorschlag einer internationalen Konferenz unter Einschluß Irans. Im Gegenteil, er schafft Zeitgewinn, der zur weiteren Organisation und Festigung der Aufständischen genutzt werden könnte. Die Russen werden ihre – auch militärische – Unterstützung der Syrer nicht aufgeben. Sie ist zumindest ein deutliches Argument gegen eine ausländische Intervention. Denn es handelt sich um Flugabwehr- und Land-See-Raketensysteme, die offensichtlich ernster einzuschätzen sind als die Waffenlieferungen seinerzeit an Irak und Libyen, wie jetzt der Abschuß eines türkischen Kampfflugzeugs beweist. Die Perspektiven sind düster. Die Gewalt wird weiter eskalieren und droht auf den Libanon überzugreifen. Die syrisch-türkische Grenze entgleitet immer mehr der Kontrolle Bagdads. Sie ist schon jetzt eine offene Flanke, an der die Türken die Souveränität Syriens täglich in Frage stellen. Eine Begrenzung des Bürgerkrieges auf Syrien wird mit der zunehmenden Einmischung von außen und angesichts der langen Grenzen zum Irak (600 Kilometer) und zu Jordanien (375 Kilometer) immer schwieriger. Sollte die Verhandlungsinitiative der Russen scheitern, könnte der Sicherheitsrat schon bald mit der Forderung konfrontiert werden, in einen internationalen Konflikt einzugreifen, der die ganze Region in Flammen zu setzen droht. Wenn auch dann die Russen und Chinesen bei ihrem Veto bleiben, könnte sich doch noch die Warnung erfüllen, die der damalige UN-Generalsekretär Kofi Annan von seiner Nahost-Reise Ende November 2005 nach New York zurückbrachte, daß Syrien der nächste Irak werde. Damals war das die Befürchtung der arabischen Führer, heute arbeiten sie daran.