Marx-Anhänger hier, Anarchos dort – Feinde auf ewig? Oder streitende Brüder? Die Frage hat eine lange Geschichte, abgeschlossen ist diese nicht.
Im Fokus der anarchistischen Tradition der Arbeiterbewegung stand stets der »subjektive Faktor« gesellschaftlicher Veränderung.
In Bakunins Anthropologie erhielt der »sich empörende Mensch« eine zentrale Bedeutung. Immun zeigte sich der Anarchismus gegen einen – im Extremfall – subjektlosen Objektivismus, handelte sich im Gegenzug von orthodox-marxistischer Seite den Vorwurf ein, die Reflexion auf ökonomische Gesetzmäßigkeiten zu vernachlässigen oder gar zu unterschlagen, ahistorisch und romantisierend im »Hier und Jetzt« zu verharren, letztlich eine kleinbürgerlich-reaktionäre Angelegenheit zu sein.
Indes suchen heutige Marxisten und Anarchisten in Anbetracht neuer sozialer Bewegungen – von der »Arabellion« bis zur weltweiten Occupy-Bewegung – eine (Wieder-)Annäherung vormals festgefahrener Positionen. Zwei Beispiele können das verdeutlichen.
Der empörte Mensch ist ebenfalls Ausgangspunkt bei dem irisch-mexikanischen Marxisten John Holloway: »Am Anfang war der Schrei.« Auflösen möchte Holloway, der stark von den Befreiungskämpfen der südmexikanischen »Zapatistas« inspiriert ist, den seiner Meinung nach die ganze Arbeiterbewegung durchziehenden »Dualismus von Subjekt und Objekt«. »Sogar bei sozusagen linksradikalen Analysen, in denen die Rolle des subjektiven Kampfes in der Veränderung der Gesellschaft betont wird – wie bei Pannekoek, Mattick oder Luxemburg – wird ein Dualismus zwischen der objektiven, ökonomischen Analyse der Entwicklung der Widersprüche des Kapitalismus und den durch diese Widersprüche aufgemachten Möglichkeiten des subjektiven Kampfes angenommen.« Dieser Dualismus befinde sich heute »offensichtlich in einer Krise«. Es gelte, den Kampf von einer radikal subjektiven Perspektive konkreten und am Gemeinwohl orientierten Tätigseins aus erneut aufzunehmen, als Kampf gegen die abstrakte, entfremdete Arbeit unter dem Diktat anonymisierter kapitalistischer Märkte. Die Macht des Geldes und des Staates, so Holloway, soll von unten her »gebrochen« werden. Wen wundert es, daß Holloway sich als vehementer Fürsprecher der Occupy-Bewegung mit ihrer Idee der sukzessiven Schaffung »kapitalfreier Räume« engagiert?
In kurzer Zeit recht populär geworden ist der amerikanische Anarchist und Occupy-Aktivist David Graeber, derzeit Professor für Anthropologie in London. Graeber bezeichnet sich selbst als »small-a-anarchist«, als Anarchist also, »dem weniger an der Klärung seiner Stellung in der Bewegung gelegen ist als daran, ganz undogmatisch in einem breiten Spektrum von Koalitionen zu arbeiten«. Die Form einer Konsensfindung ist für Graeber entscheidend, nicht die Festlegung auf bestimmte Positionen. »Überlegen Sie mal, bei welchem Team die Wahrscheinlichkeit einer kreativen Lösung für ein Problem größer ist: bei einer Gruppe von Leuten mit einer jeweils unterschiedlichen Sicht der Dinge oder bei einer Gruppe von Leuten, die alle genau der gleichen Ansicht sind?« Und so öffnet sich der »anarchistische« Diskurs auch für marxistische Denkrichtungen aller Art. Vorausgesetzt ist jedoch die Bereitschaft, »horizontale« – und das heißt: hierarchiefreie – Kommunikationsformen zu akzeptieren, über deren symbolische Darstellung auch in großen Gruppen sich Graeber viele Gedanken macht. Den auch vermehrt über soziale Medien sich vernetzenden Protestbewegungen scheinen die Überlegungen Graebers, selbst leidenschaftlicher »Internet-Aktivist«, durchaus entscheidende Stichworte zu liefern. Der Erfolg der Occupy-Bewegung mit zuletzt mehr als 25.000 TeilnehmerInnen bei der Abschlußdemonstration in Frankfurt am Main gibt »Vordenkern« wie Graeber oder Holloway offensichtlich Recht.
John Holloway: Vom Schrei der Verweigerung zum Schrei der Macht (www.wildcat-www.de/zirkular/34/z34holl1.htm); David Graeber: »Inside Occupy«, übersetzt von Bernhard Schmid, Campus 2012