Es muß Absicht gewesen sein. Ich tappte in den Tunneln der »Lost Places« herum, fand nicht mehr heraus. Da stand plötzlich der Kunsthallendirektor Hubertus Gaßner und erklärte mir, wie ich ins obere Stockwerk gelange. Erfolgreich: Ich verirrte mich wieder. Oben gelangte ich durch das imaginäre Kaninchenloch zu »Alice im Wunderland der Kunst« – einer Ausstellung der Kunsthalle Hamburg (bis 30. September, Katalog 29,80 €). Alice ist überall: Im ICE von Hamburg nach Berlin werden die beiden Alice-Bücher von Lewis Carroll vorgelesen. Und im Kaufhaus »Karstadt« am Berliner Hermannplatz führt eine Theatertruppe mit Alice in die Wunder der Konsumwelt ein. Wie schnell von Anfang an die Figur vermarktet wurde, zeigt in Hamburg schon eine Vitrine mit Spielzeug, Geschirr, Bilderbögen, Briefmarkenheften. Die Präraffaeliten griffen das Motiv des unschuldigen, träumenden Kindes auf. Carroll, der eigentlich Charles L. Dodgson hieß, fotografierte mit seiner unförmigen Kamera das Mädchen Alice Liddell und ihre Schwestern. Er hatte ihnen – vor nunmehr 150 Jahren – auf einer Bootsfahrt auf der Themse, die bei Oxford Isis heißt, die Geschichte vom Wunderland erzählt. Dodgson, Mathematikdozent am Christ Church College, später auch Diakon, veröffentlichte diese Geschichte 1865. Die Illustrationen von John Tenniel halfen mit, das Buch bald bekannt zu machen.
Schnell entdeckten das Theater und die Operette (1886) Carrolls Alice – und bald auch der Film. Schon 1903 entstand ein zwölfminütiger Streifen. Im 20. Jahrhundert fühlten sich Maler und Schriftsteller, besonders die Surrealisten, von den Alice-Büchern angezogen. 1928 weist André Breton auf Carroll hin. Louis Aragon übersetzt Carroll und betont die politische Dimension und die subversive Gesellschaftskritik. Max Ernst kam von Carroll und den Alice-Büchern nicht los. Hamburg zeigt neben Lithografien sein Gemälde »Alice im Jahre 1941«. Entstanden ist das Bild während seiner Flucht in die USA oder gleich nach der Ankunft. Schon im Internierungslager Les Milles in Frankreich hatte er mit einer besonderen Technik experimentiert. Was zeigt das Bild? Eine nackte Alice, kein Kind mehr, Brüste und Beine sehen aus dicker Vermummung hervor, vielleicht Pelz, der Schutz bieten soll in einer Urweltlandschaft, einer Unwelt, die bedroht. Zu Alices Füßen der Vogel Loplop, sein Alter Ego. Hier eher eine Eule. Schon davor war sein Bild »Alice im Jahre 1939« entstanden. Auch hier ist Alice völlig von einem Pelz oder wuchernden Gewächs verhüllt, nur oben greift ein Arm in die Luft.
Das Gemälde von Oskar Kokoschka »Anschluß – Alice im Wunderland 1942« ist auf den ersten Blick verwirrend. Rechts steht eine blonde Nackte mit Zöpfen und Rotkreuzbinde am Arm. Eine ungewöhnliche Alice. Eine Hand hält ein Feigenblatt auf die Scham, der Zeigefinger der rechten Hand ist zaghaft erhoben. Diese Alice ist eingezäunt von Stacheldraht, unfrei. Hinter ihr eine Maria mit Kind – beide geköpft. Links drei Männer, die wie die bekannten Affen nicht sehen, nicht sprechen, nicht hören wollen. Ein Engländer mit Schirm und Schlips und einer Zeitung: Our Times mit der Jahreszahl 1934 – oder heißt es 1939? 1934 wurde der österreichische Klerikalfaschist Engelbert Dollfuß ermordet. Wollte Kokoschka, daß man seine Unsicherheit bei der Jahreszahl bemerkt? Denn: Wann begann was? Der Anschluß an Hitler-Deutschland war 1938. Die zweite Figur ist ein SA-Mann im Braunhemd mit Hakenkreuzbinde und Handgranate. Der Dritte in Violett mit Bäffchen, ein Gesangbuch im Schoß, ein Pfaffe? Neben den Männern eine Frau: Sie trägt keinen Stahlhelm wie die anderen, sondern ein Trachtenhütchen. Blut läuft ihr vom Gesicht auf das Kind, das sie bei sich hat. Sie blickt als einzige auf Alice. Eine Österreicherin? Ihr Kind trägt eine Gasmaske. Im Hintergrund, brennende Gebäude, Erschießungen.
Die Größenverhältnisse, das Schrumpfen Alices macht die Installation von Pipilotti Rist spürbar: zwei knallrote Riesensofas, schwer zu erklimmen. In den Raum mit der »Ichkuppel« von Stephan Huber kommt nur, wer durch die winzige Tür kriecht. Da hängt ein Hut, groß und beherrschend von der Decke – und er spricht. Aufmunternde und zerstörende Worte der Eltern: »Wir glauben an dich, du hast Führungsqualitäten.« Und: »Du schaffst es nie – du hast keine Sprache, alles, was deine Hände schaffen, wird vernichtet ...« Dieser Hut erhebt und er erdrückt. »Kopf ab mit ihr« schrie die Königin aus Leibeskräften. Zum Land hinter den Spiegeln geht‘s einen Stock höher. Manches hier ist spielerisch und fordert zum Mitmachen auf. So die Installation »Space of two categories« von Hanna Haaslahti. Ich nähere mich einer leeren Fläche, und mein Schatten wird sichtbar. Da taucht das Bild eines kleinen weißgekleideten verschmitzt lachenden Kindes auf, versucht, sich hinter meinem Schatten zu verstecken, kommt zwischen meinen Beinen hervor, rennt um mich herum. Nie weiß ich, wo es gerade steckt. Dann ein Raum, dem Wasser vorbehalten. Dem Tränensee, aus dem Alice sich vom Selbstmitleid befreien muß. Sie schafft es, bis sie im letzten Raum als poppige Skulptur von Veronika Veit Kopfstand macht und sich als merkwürdiges Zwitterwesen den Erwachsenen annähert.
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Zurück zum Anfang, in den Untergrund der Galerie der Gegenwart zu den »Lost Places – Orte der Photographie« (noch bis zum 23. September, Katalog 24 €). Dorthin, wo ein Tunnelsystem den Besucher zu den Endpunkten führt, wie in der Installation »Dead End Heedfeld« von Jan Köchermann. Die dunklen Tunnel führen zu einer Stelle, an der in einem Video ein Wildhüter aus Ästen eine Falle baut. Dann in einen Raum mit zwei Monitoren. Zwei Schauspieler führen ein Gespräch in einer Migrationsbehörde. Falle? Der dritte Ort birgt eine Großbildprojektion. Hier wird alles umgekehrt. Europäer versuchen, sich durch ein System von Tunneln auf den afrikanischen Kontinent zu retten. Aber die Falle von Polizisten und Behörden schnappt zu. Die Video-Installationen von Omer Fast aus Jerusalem heißen »Nostalgia I bis III«.
Die »Lost Places« können menschenleer sein wie bei Candida Höfer oder überfüllt von Menschen wie die Metrostation »Sao Paulo Sé« von Andreas Gursky. Die Müllhalde in Mexiko-Stadt ist belebt. Es leben Menschen dort, sie leben vom Abfall. Auf dem Foto von Gursky bleiben die Menschen unsichtbar. Die, wie Gursky, in der DDR geborene Sarah Schönfeld versucht, Orten ihrer Biographie nachzuspüren. Ihr »Wende-Gelände« (2006) gibt den Blick frei auf eine leere Schwimmhalle. Im Becken stapeln sich Bettgestelle und Sprungrahmen. Die dazugehörenden Menschen – sind sie im Westen? Fotos mit dem verwirrenden Titel »Mama Du Sau« (2005) zeigen Räume, die systematisch zerstört wurden, die Fenster mit Brettern vernagelt. Ein kleines Schwarzweiß-Foto an der Wand – die Erinnerung. Es ist ihr alter Kindergarten. Thomas Ruffs Serie »Nächte« führt Straßen und Hinterhöfe Düsseldorfs vor, nachts, nur von fahlem grünem Licht erhellt. Ruff schuf diese Bilder als Reaktion auf den Irakkrieg 1990–1991. Das kalte grüne Leuchten war das einzige, was die Welt sehen durfte. Die verlorenen Orte – im Kopf. Oder ganz real: Jörn Vanhöfen bildet einen Strand ab, an dem nur ein paar Knochen liegen und der zum Sperrgebiet erklärt wurde. 200 Kilometer um eine Diamantmine in Südafrika. Ein Unort ohne Menschen. Genauso wie das verfallene Gefängnis »Carabanchel« in Madrid – berüchtigt seit der Franco-Zeit. Als Foto, als Bild exzellent. Guy Tillim aus Johannesburg zeigt den imposanten Komplex des Grande Hotels in Beira, Mosambik, nun halb verfallen und doch wieder bewohnt. Es ist kein Luxus mehr, was Tausende in das postkoloniale Gebäude zieht, es ist die Armut. Auch diese Bilder sind: schön. Für den Betrachter in Europa. Vielleicht.