erstellt mit easyCMS
Titel1412

Sozialabbau 2012, Folge 7  (Franziska Walt und Tilo Gräser)

4. Juni: Der »Hartz IV«-Regelsatz ist so knapp bemessen, daß die verspätete Auszahlung des Geldes schwerwiegende Folgen haben kann. So geschehen in Essen, wie der Westdeutsche Rundfunk auf seiner Website schreibt. Die Stadt hat den rund 80.000 »Hartz IV«-Empfängern das ihnen zustehende Geld nicht am 31. Mai, sondern erst am 1. Juni überwiesen. »Für viele, die auf ›Hartz IV‹ angewiesen sind, ist gerade der Monatswechsel eine kritische Zeit«, zitiert der WDR Rainer Mathes vom Paritätischen Wohlfahrtsverband in Essen. Das Geld sei so bemessen, daß es maximal einen Monat lang reiche, an Sparrücklagen sei nicht zu denken. Der Essener Sozialdezernent hat sich entschuldigt und ließ über die Pressesprecherin ausrichten, es sei ein »Fehler auf der Arbeitsebene« passiert. Ein Mitarbeiter habe ein Gesetz falsch interpretiert und den Auszahlungszeitpunkt geändert.

5. Juni: Das Arbeitslosengeld II (ALG II) sei von Anfang an dazu gedacht, die Lohnkosten zu senken. Das schreibt die Politologin Julia Graf in ihrer Dissertation, wie der Gießener Anzeiger online berichtet. Für ihre Doktorarbeit über »Aufstocker« habe Graf verschiedene Statistiken ausgewertet und Interviews mit Betroffenen geführt. Die Befragten hätten berichtet, daß schon beim Abschluß des Arbeitsvertrages eingeplant werde, wie der geringe Lohn mittels »Hartz IV« aufgestockt werden könne: »Das ist zwar nicht viel, was wir zahlen«, werde seitens der Unternehmen geäußert, »aber den Rest können Sie beim Amt beantragen.«

6. Juni: Die Grünen, die in der Regierung Schröder die Einführung von »Hartz IV« mitverantwortet haben, bleiben laut taz online ihrem Kurs treu. Auch wenn die Partei im Wahlprogramm 2009 von »gerechter Verteilung« und der »sofortigen Anhebung der Regelsätze auf 420 Euro« gesprochen habe, will sie jetzt im Falle einer Regierungsbeteiligung nur noch dafür eintreten, den »Hartz-IV«-Satz 2014 auf 391 Euro im Monat anzuheben. Dies gehe aus einem internen Fraktionspapier hervor, welches der taz vorliege.

9. Juni: »Vor fünf Jahren bin ich selbst ›Hartz IV‹-Empfänger geworden«, berichtet Thomas Cillessen aus dem Kreis Warendorf der Online-Ausgabe der Zeitung Die Glocke. Er habe sich damals gegen Fehlentscheide des Jobcenters mit Erfolg zur Wehr gesetzt. Die Abhängigkeit von »Hartz IV« konnte er hinter sich lassen, heute hilft er ehrenamtlich als Experte für Fragen rund um ALG II-Leistungen und reist als Berater durch Deutschland. Etwa 130 Fälle hat Cillessen bislang betreut, mit der beachtlichen Erfolgsquote von rund 80 Prozent, so die Zeitung. Inzwischen stehen ihm auch zwei versierte Rechtsanwälte mit Rat und Tat zur Seite. Am Ende des Artikels hat die Redaktion vermerkt: »Wegen mißbräuchlicher Nutzung für Anfeindungen und Beleidigungen wurde die Kommentarfunktion zu diesem Artikel durch die Redaktion gesperrt.«

15. Juni: »Allein von ›Hartz IV‹ zu leben ist schwierig. Okay, ich kann zur Tafel gehen, aber wenn ich da rauskomme, fühle ich mich noch mieser«, zitiert Der Westen online die Sozialhilfe-Empfängerin R. aus Gelsenkirchen. Bei regelmäßigen Frühstücksgesprächsrunden im Haus des Evangelischen Kirchenkreises in Gelsenkirchen treffen sich der evangelische Sozialpfarrer Dieter Heisig und Betroffene. Es werden Neuigkeiten und Meinungen ausgetauscht. Einen der Teilnehmer zitiert das Blatt folgendermaßen: »374 Euro, das ist fürchterlich wenig Geld. Aber damit wird ja auch Druck gemacht auf die Leute.«

16. Juni: Die Absurdität des »Hartz IV«-Systems zeigt ein Beitrag der Website gegen-hartz.de: Einer schwerbehinderten Frau aus dem Kreis Karlsruhe, deren linker Arm amputiert werden mußte und deren rechter schmerzhafte gesundheitliche Probleme aufweist, wurden die »Hartz IV«-Leistungen komplett gekürzt, es blieben ihr nur noch Lebensmittelgutscheine. Der Grund: Die Frau konnte wegen ihrer Behinderung die vom Jobcenter vorgeschriebenen Bewerbungen nicht schreiben. Als ein eingereichter Widerspruch auf taube Ohren stieß, klagte die Frau und bekam vom Sozialgericht Recht. Das Gericht urteilte (Aktenzeichen: S 4 AS 2005/11), daß eine einarmige Leistungsbezieherin nach dem Sozialgesetzbuch II aufgrund einer Verletzung des verbliebenen Armes keine Bewerbungen schreiben kann, weshalb das Jobcenter trotz der unterschriebenen Eingliederungsvereinbarung die ALG II-Leistungen nicht sanktionieren dürfe. Schließlich habe die Klägerin »einen gewichtigen Grund«, die Auflagen nicht einzuhalten, zitiert die Website die Urteilsbegründung.

20. Juni: 220 Euro bekommen Asylbewerber hierzulande im Monat, rund 140 Euro weniger als ein »Hartz IV«-Empfänger. Nun hat das Bundesverfassungsgericht erhebliche Zweifel angemeldet, daß dieser Betrag zum Leben reicht, schreibt Stern online. Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen habe die Beträge für zu niedrig gehalten und das Gesetz dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe zur Prüfung vorgelegt. Die Richter sollen deutliche Zweifel daran geäußert haben, daß die Leistungen für Asylbewerber ausreichend seien. Diese müßten sich genauso wie die »Hartz IV«-Sätze »am Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums messen lassen«, zitiert der Stern den Vizepräsidenten des Gerichts, Ferdinand Kirchhof.

25. Juni: Die Zahl der Haushalte mit mindestens einem erwerbstätigen »Hartz IV«-Bezieher stieg von 2007 bis 2010 in den ostdeutschen Ländern um elf und in den westdeutschen Ländern um 14 Prozent. Dies belegt eine aktuelle Studie des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Am stärksten sei der Zuwachs in Berlin mit einem Anstieg um ein Viertel sowie in Nordrhein-Westfalen mit plus 18,5 Prozent. In der Spitzengruppe folgen Bremen (+16,5 Prozent), Hessen (+15,3 Prozent) und Hamburg (+15,2 Prozent). »Hartz IV« sei nicht nur ein Fürsorgesystem für hilfebedürftige Arbeitslose, sondern zunehmend auch für Erwerbstätige.

26. Juni: Immer mehr »Hartz IV«-Empfänger beantragen bei ihrem Jobcenter ein zinsloses Darlehen. Nach den aktuellsten Daten vom Februar stieg die Zahl der sogenannten Bedarfsgemeinschaften, die eine entsprechende Unterstützung erhielten, binnen Jahresfrist von 14.600 auf 17.600 an, schreibt die Süddeutsche online. Im Schnitt erhalte jede Familie rund 250 Euro, die sie dann in kleinen Raten zurückzahlen müsse, so eine Sprecherin der Bundesagentur für Arbeit. Häufig seien Stromnachzahlungen der Grund für einen Antrag, aber auch eine kaputte Waschmaschine oder die nötige Reparatur eines Autos.

27. Juni: Ein weiteres Beispiel für das absurde »Hartz IV«-System: Sandra B. aus Tornesch versucht seit einem Monat erfolglos, ihren Vater zu bestatten, berichten die Uetersener Nachrichten online. Die 26jährige »Hartz IV«-Bezieherin hatte seit Jahren keinen Kontakt zu ihrem Vater und hat nach dessen Tod auch sofort ein eventuelles Erbe ausgeschlagen. Da sie als nächste Angehörige verpflichtet ist, ihren Vater zu beerdigen, sich dies aber finanziell nicht leisten kann, ging sie auf Anraten des Bestatters zum Sozialamt Pinneberg. Nachdem sie dort alle geforderten Unterlagen abgegeben hatte, verlangte der Beamte einen Beleg über den Nachlaß. Diesen Beleg hätte B. in der Wohnung des Toten finden sollen, welche jedoch versiegelt war. Doch im Sozialamt hieß es laut der Zeitung, solange sie den Nachlaß nicht belegen könne, bleibe das Verfahren liegen – und damit der Tote. Inzwischen meldete sich das Ordnungsamt. Die Neun-Tages-Frist zur Beisetzung war verstrichen. B. solle ihren Vater einäschern lassen, zur Not einen Kredit aufnehmen. »Als »Hartz IV«-Empfängerin bekomme ich aber keinen Kredit«, zitiert das Blatt die Frau.