Das Zweite Deutsche Fernsehen, ZDF, bricht mit der Gepflogenheit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, zumindest in der Woche vor einer Wahl auf politische Meinungsumfragen und Ergebnisvorhersagen zu verzichten. Intendant Thomas Bellut will das ZDF-Politbarometer noch am 19. September, nur drei Tage vor der Bundestagswahl, orakeln lassen: »Wenn am Sonntag Wahl wäre, dann ...« Freilich: Das »wenn ... wäre, dann« entfällt. Am besagten Sonntag wird wirklich gewählt. Die Sorge, mit den ohnedies fragwürdigen Demoskopiedaten die Wähler unvertretbar zu beeinflussen, ist beim CDU-dominierten »Jesus-TV« in Mainz der Neigung gewichen, auf journalistischen Restanstand zu pfeifen.
Berufsethisch ungehemmtes ZDF-Sendungsbewußtsein soll fortan unmittelbar vor allen Wahlterminen leuchten, auf Länder-, Bundes- und Europaebene. Vor dem ZDF-Fernsehrat ließ Bellut die Programmplanungshosen runter und entblößte bare publizistische Dürftigkeit: »Wechselwähler machen heute einen viel größeren Teil der Wählerschaft aus«, erklärte er laut Deutsche Presse-Agentur GmbH (dpa). Das ZDF sei in der Pflicht, »die Wähler mit aktuellen Stimmungsbildern zu versorgen«. Stimmungsbilder? Ach so. Ja. Nee, klar.
Da darf, kann, will ein stockkonservativer Massensender nicht einmal hypothetisch die Alternative zu dem erbärmlichen kapitalistischen Ideearium verbreiten und vertiefen, das ihm die bürgerlichen Parteien aufgeben. Obwohl die damit den Zeitgenossen nichts Visionäres anzudienen haben: sozialpolitisch nichts, bildungs- und kulturpolitisch nichts, rechtspolitisch nichts, finanzpolitisch nichts, mitwelt- und verbraucherpolitisch nichts, außenpolitisch nichts und friedenspolitisch schon gar nichts. Diese Fülle von Nichts kompensiert man im staatsfrommen Fernsehen mit »Stimmungsbildern«. So wie Bellut kann man den Informations- und Bildungsauftrag, an den die öffentlich-rechtlichen Anstalten gesetzlich gebunden sind, allerdings auch auslegen.
Aus Parteien-, nicht aus »Politikverdrossenheit« mögen sich viele Stimmbürger nicht mehr festlegen. Auf was auch? Sie haben keine Wahl zwischen Unterschiedlichem, geschweige denn Gegensätzlichem. Sie dürfen sich nur für eine der Nuancen vom gleichen Politikimitat entscheiden, und viele tun das eben häufig erst unmittelbar vor dem Wahltermin. In diese kurze Spanne drückt das ZDF nun seine demoskopisch-demagogischen Gehirnprothesen.
Wer ist das, dem Bellut Wahlbeihilfe leisten lassen will? Es ist der mit Banalinformation zugedröhnte, denkentwöhnte Fernsehkonsument, der täglich stundenlang fernsieht, aber nicht mehr durchblickt und nicht interpretieren kann, womit man ihn abfüllt. Weil aber auch ein politisch desorientierter, irrational wählender Mensch spürt, daß in unserem Alltag fast alles aus dem Lot ist, soll ihm ein systemkonformer Journalismus die Hand bei der Stimmabgabe führen, auf daß er die herrschenden Verhältnisse bestätige und sein X auf die »richtige« Stelle male, vorzugsweise neben die CDU. Potentielle PDL-Wähler kennt ja der Verfassungsschutz bereits. Daß es auf dem Zettel Kommunisten – Gottseibeiuns! – gar nicht anzukreuzen gibt, haben Parteienoligarchie, politische Justiz, Geheimdienste, Kirchen und Wirtschaftsverbände eh längst durchgesetzt. Unter Beihilfe von ARD und ZDF, zu schweigen von den kommerziellen Sendern.
Bellut, liest man bei dpa, ist noch auf Komplizensuche: »Da wäre ich froh, wenn die ARD diese Regelung übernehmen würde.« Ah ja: Wenn Theo Koll sich das »ZDF-Politbarometer« rauszieht, ist vom Ersten Deutschen Fernsehen eine zeitgleiche anale Phase mit Jörg Schönenborns »ARD-Deutschland-Trend« erwünscht. Nur zu! Rein in den Club der Kaffeesatzleser, die Meinungsmache als Meinungsforschung ausgeben.
Frohsinn herrscht schon bei der »Forschungsgruppe Wahlen«. Sie macht gegen gutes Geld Umfragen und deren Auswertung fürs ZDF. Die Gruppe habe ihren Service ursprünglich sogar auf den Samstagabend unmittelbar vor der Bundestagswahl legen wollen, ließ Ruprecht Polenz, Vorsitzender des ZDF-Fernsehrats und CDU-MdB, die dpa wissen und gab sich bedächtig: »Das wiederum hätte diesen Umfragen ein zu großes Gewicht beigemessen.« Was Polenz für den Abend vor der Wahl problematisch nennt, gilt ihm, zwei Tage früher gesendet, als unbedenklich?
Wer freut sich sonst noch? Kanzlerin Merkel bekommt, da Demoskopie noch stets den Mehrheitsführer privilegiert, vom ZDF ein zweites, ihrer Wahl förderliches Göttergeschenk. Das erste war Friede Springers Beschluß, am 22. September alle Haushalte kostenlos mit einer Extra-BILD-Zeitung zu bepflastern. Angela Merkel muß um den Ausgang des Bürgerentscheids ohnehin nicht bangen. Opposition, die den Namen verdient, beschränkt sich auf den medial heftig angefeindeten kleinen Kreis um Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine. Merkel bestimmt nach dem 22. September, wer unter ihr ins Kabinett kriechen darf: Sozialdemokraten oder Grüne. Mit den Gelben wird es diesmal wohl eher nichts.
Und wir? Was bedeuten uns die kindischen, postdemokratischen Rituale? Welchen Sinn hat eine Wahl am Büffet für Einheitsbrei, deren Ergebnis das ZDF und mutmaßlich auch die ARD obendrein schon drei Tage vor der Stimmenauszählung verkünden, mit einer behaupteten Fehlertoleranz von nur 1,5 Prozent? Wir könnten zwar für das kleinste der Übel votieren, doch dabei litte die Selbstachtung. Alternative: Strich durch den Stimmzettel, ungültig machen. Dafür eignen sich auch Zusätze, Beispiel: »Meine Partei ist hier nicht dabei.« Die Stimme muß dennoch als abgegeben gezählt und im Gesamtergebnis berücksichtigt werden.