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Titel142013

Bemerkungen

US-Präsident als Kurzzeitberliner
»Die ganze Welt wartet heute auf Obamas Botschaft« – war auf BILD online zu lesen, eine »historische Rede« hatten deutsche Medien sich erhofft. Ehefrau und Töchter des US-Präsidenten wußten es besser, sie mochten sich den Hitzeaufenthalt am historischen Ort nicht antun und blieben der Rede am Brandenburger Tor fern, überraschende rhetorische Einfälle oder gar politische Aussagen ihres Familienoberhauptes haben sie nicht erwartet.

Der Abstecher des prominentesten Globalpolitikers in die Provinz Deutschland brachte keine neuen Erkenntnisse. Daß Barack Obama kein Schwulen- und Lesbenhasser ist, war schon bekannt, ebenso, daß es auf dem Immobilienmarkt in den USA wieder aufwärts geht und in Guantanamo sich vorerst das Tor nicht öffnen wird. Washington als internationaler Internet- und Telefonkontrolleur – das hat doch seine Vorzüge für verbündete Regierungen, die selbst noch nicht so richtig fit sind in diesem Geschäft. Über die Freihandelszone besteht längst deutsch-amerikanische regierende Einigkeit. Und nichts ist sensationell an der Absichtserklärung, einen Teil der Atomraketen zu verschrotten; auch in der Waffenbranche braucht es Innovation.

Barack Obama genießt, so die Demoskopen, beim deutschen Publikum hochgradige Beliebtheit, vor allem bei jungen Leuten, er steht im Sympathie-Ranking besser da als Angela Merkel. Möglicherweise wird er, was den Job angeht, einem Stadtteil von Los Angeles zugeordnet, er verfügt in der Tat über beachtliche darstellerische Fähigkeiten. Aber in dieser Hinsicht hat er beim jetzigen Besuch in Berlin enttäuscht, selbst seine Versicherung, er sei Berliner, klang müde. Das muß man ihm aber nicht übelnehmen: Das Wetter war leistungsfeindlich. Und Berliner bleibt der Präsident, wo kämen NATO und US-Notenbank sonst hin.

A. K.


Freundschaft
Ich war nicht eingeladen, dem US-Präsidenten Barack Obama zuzuhören, der auf dem Pariser Platz, dicht vor der Botschaft seines Landes, hinter Panzerglas ein paar Nettigkeiten sagte und vor allem Bundeskanzlerin Angela belobigte. Hätte ich eine Einladung bekommen, wäre ich ihr hoffentlich nicht gefolgt, statt mich zunächst einer Leibesvisitation unterziehen lassen und dann stundenlang bei 36 Grad plus auf den Redner warten zu müssen. Was mögen das für Menschen sein, die solche Qualen ertragen und darauf auch noch stolz sind. Ihr Gehirn muß schon vorher ausgetrocknet gewesen sein. Und das nennt sich dann deutsch-amerikanische Freundschaft.
Arnold Venn


Orwell in Potenz
Dem Obama-Slogan »Yes we can!« hat sich mittlerweile ein »s« beigesellt: »Yes we scan!« – Gar nichts könnt Ihr, werden sich die regierungsoffiziellen Datensammler flüstern, wir hingegen durchleuchten Eure Hirne! Der totale Überwachungsstaat in Form eines grenzenlosen Abgriffs auch privatester Informationen übertrifft noch die repressiven Bestimmungen des »Patriot Acts«, gesetzliche Grundlage für Georg W. Bushs »Kreuzzug gegen den Terrorismus« – und gegen die eigene Bevölkerung.

Doch man höre und staune: Das US-amerikanische Spähprogramm mit Namen »Prism« läßt sich sogar noch toppen. Nein, nicht die Millionen Sicherheitskameras in der Londoner City sind gemeint, die jeden Bürger auf Tritt und Schritt verfolgen. »Tempora« heißt das Programm, mit dem der britische Geheimdienst Government Communications Headquarters (GCHQ) die Glasfaserkabel anzapft, über die der transatlantische Datenverkehr abgewickelt wird. Was wird ausgespäht? Alles und jedes, allein die Speicherung der Daten dauert einen Monat. »Brit Brother« wurde die ganz reale Überbietung der Orwellschen Dystopie schon genannt.

Da kann sich derjenige glücklich schätzen, der seine Texte in einem herkömmlichen Printmedium veröffentlicht. – Aber ach! Auch die solchem Schriftgut zugrunde liegenden Daten wurden zunächst in digitaler Form abgespeichert und finden später ihren Weg ins Word Wide Web. Damit sind sie prinzipiell ungeschützt vor dem Zugriff der Spähhunde. Und wehe, da hat sich ein verdächtiges Schlüsselwort eingenistet! Dann wird etwa auch dieser Text beziehungsweise sein Autor zum Sicherheitsrisiko. – Ich bekenne mich schon einmal schuldig ...
Carsten Schmitt


Gegen den Hunger
Im Selbstbedienungsrestaurant des großen Karstadt-Warenhauses am Hermannplatz in Berlin beobachte ich bei der Geschirr-Rückgabe einen unauffällig gekleideten Mann an der anderen Seite des Laufbands, auf das man das Tablett mit dem gebrauchten Geschirr stellt. Auch was der Mann tut, fällt kaum auf: Mit einem sicheren schnellen Griff nimmt er von einem Teller eine übriggebliebene Kartoffel und steckt sie sich in den Mund, den er dafür nicht länger als zwei Sekunden öffnet und schließt. Auf einem anderen Tablett liegt ein Stückchen Fleisch, das ebenso unauffällig in seinem Mund verschwindet. Dann zwinge ich mich wegzusehen, damit nicht andere auf ihn aufmerksam werden. Womöglich würde er sonst an der Selbstbedienung gehindert.
*
In allen coop-Läden in der italienischen Region Umbrien hängen Plakate: »Pasta gratis tutti i giorni«. Jeder Kunde kann hier jeden Tag unentgeltlich einen Beutel Nudeln erhalten. Ein Zeichen für die wachsende Armut. Ein Zeichen der Solidarität mit den von Hunger Bedrohten. Oder ein Zeichen besonderer Geschäftstüchtigkeit: Wer sich hier die Gratis-Nudeln holt, wird hier auch mal etwas kaufen. Die anderen Kunden, die mit den dickeren Portemonnaies, fühlen sich jedenfalls beim Einkauf wohler, wenn sie sehen: Hier geschieht etwas, das die Armen zufrieden und dankbar stimmt.

Aber Vorsicht: Es könnten Zeiten kommen, in denen der Gedanke um sich greift, daß zu Nudeln auch Tomatensauce und Salat gehören.
Rita Rosmarin


Die Proteste in Brasilien
richten sich nicht nur gegen höhere Fahrpreise. Am Pranger stehen auch die staatliche Korruption und die ausufernde Geldverschwendung für die Fußballweltmeisterschaft 2014 und die Olympischen Spiele 2016.

Protest auch in Europa: So gingen am 15. Juni in der irischen Hauptstadt Dublin 1500 Brasilianer auf die Straße. Sie bekundeten ihre Solidarität mit den Demonstranten der Bewegung »Passe Livre« (Freifahrt), die seit Mitte Juni in São Paulo und Rio de Janeiro gegen die Erhöhung der Fahrpreise für Bus, Bahn und Metro um 20 Centavos pro Einzelfahrt kämpft. In São Paulo hat der Protest in den vergangenen Tagen zu Straßenschlachten zwischen meist jungen Demonstranten und der Polizei geführt.

Derartige Auseinandersetzungen hat man in Brasilien seit dem Kampf für die Redemokratisierung Anfang der achtziger Jahre nicht mehr gesehen.

Im Vorfeld des Eröffnungsspiels zum Confederations Cup in Brasília kam es zu einer Kundgebung von rund 700 Personen. Sie forderten mehr Investitionen in Bildung und Gesundheit anstatt Milliarden staatlicher Gelder für die sportlichen Großveranstaltungen und kritisierten die Zwangsräumungen im Zuge der Vorbereitungen der sportlichen Großereignisse. Die Kundgebung wurde von einem Heer von Polizeikräften unter Einsatz von Tränengas und Gummischrot aufgelöst.

Inzwischen demonstrieren Millionen Menschen im ganzen Land. Die Proteste haben eine Dimension erreicht, die darauf hindeutet, daß es um viel mehr geht als nur um den Preis einer Fahrkarte oder die Kosten der Fußballstadien. Die Mobilisierung war gezielt auf den eröffneten Fußball-Cup gelegt, der das Vorbereitungsturnier für die Fußballweltmeisterschaft 2014 ist. Die Demonstranten finden in der Bevölkerung von São Paulo Rückhalt. Laut einer Umfrage der Zeitung Folha de São Paulo sind es 55 Prozent der Befragten, die hinter dem Protest stehen. Nach den letzten und unverhältnismäßig harten Polizeieinsätzen dürfte der Wert noch gestiegen sein. Im Moment deutet noch nichts auf ein Ende der Proteste hin. Die Bundesbehörden in Brasíla zeigen sich zum Gespräch bereit, eine Aufstockung der Mittel für Bildung und Gesundheit ist nicht ausgeschlossen. Anders das Verhalten der Bundesstaaten São Paulo und Rio de Janeiro. Wohl wurden die Fahrpreiserhöhungen zum Teil zurückgenommen, nur Gespräche gibt es bisher nicht.

Eine neue Qualität gibt es bei den Demonstranten. Gewaltbereite Demonstranten werden von anderen Demonstrierenden entwaffnet und abgedrängt.

Solidarisch erklärte sich mit den Demonstranten die brasilianische Fußballnationalmannschaft und ihr Trainer Luiz Felipe Scolari. Der Abwehrspieler von Bayern München Dante teilte über Twitter seinen Landsleuten mit: »Laßt uns zusammen marschieren, Brasilien. Ich liebe mein Volk und werde euch immer unterstützen.«

Zielscheibe des Protests ist Fernando Haddad, seit 1. Januar 2013 Bürgermeister von São Paulo, der größten Stadt Brasiliens. Er ist ein Ziehsohn des früheren brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva. Haddad und seine Fahrpreiserhöhung in São Paulo waren es, die die Prostete in Brasilien auslösten.
Karl-H. Walloch


Nur dies
Stephan Hermlin stellte Walter Jens, der in der Wendezeit zu einem Vortrag in die DDR-Akademie der Küste eingeladen war, mit einem einzigen Satz vor: »Über Walter Jens ist nur dies zu sagen, aber dies genügt: Früher hätte er in der Weltbühne geschrieben.« Zehn Jahre später, in der Anfangszeit der Zweiwochenschrift Ossietzky, schickte Jens mir dieses Zitat und merkte an: »Ich habe in langen Jahren keine Laudatio gehört, die mich mehr bewegte als diese Charakterisierung im Aufblick zu Tucholsky und Ossietzky.« Nachzulesen in der Ossietzky-Nullnummer.

Hinzufügen will ich nur dies: Walter Jens, der nach langer Krankheit 90jährig gestorben ist, bleibt mir vor allem als ein Humanist und Kriegsgegner in Erinnerung, auf dessen Solidarität Verlaß war: gegen den Vietnamkrieg, gegen Raketen-Stationierung in Deutschland, gegen die sogenannte humanitäre Intervention in Jugoslawien. Er und seine Frau Inge nahmen während des Golfkriegs 1991 US-amerikanische Deserteure bei sich auf und wurden wegen Beihilfe zur Fahnenflucht angeklagt. Beispielhaft. Ehren wir ihn, indem wir bei jeder Gelegenheit Beihilfe zur Fahnenflucht leisten.
Eckart Spoo


Berlin – Wladiwostok per Rad
Ukraine: Ich stoße auf Zerfallserscheinungen, Gastfreundschaft bis zur Selbstverleugnung, auch große Offenheit.

Wie froh war ich, als ich mit meinem Fahrrad an der viele Kilometer langen Warteschlange der Last- und einzuführenden Personenkraftwagen bis zur Grenze vorbeirollen konnte. Ich erhielt einen ersten Eindruck von der Leidensfähigkeit der Einheimischen (Berufskraftfahrer in diesem Fall), denn die Wartezeit beträgt oft 24 Stunden, und von der Willkür eines Apparates. »Fahrräder dürfen bei Dorohusk nicht über die Grenze« – ich bekam einen Schreck –, »aber so wichtig bist Du nicht. Wir müssen Dich bloß einem Auto zuordnen, mit dem Du dann über die Grenze rollst.« Ich atmete auf, auch wenn ich’s nicht verstand. Mit der Autobahn nahm es der Gesetzgeber hier auch nicht so genau. Solange du nur am rechten Rand fährst, hupt niemand.

In Kovel lande ich das erste Mal in einem staatlichen Hotel. Vorteile: zentral gelegen, den Charme besserer (sowjetischer) Zeiten atmend, wenn man dem etwas abgewinnen kann (ich kann), nicht teuer; Nachteile: schlechter Zustand und damit verbundene Komforteinbußen. So mußte ich beim Duschen das warme Wasser fünf Minuten laufen lassen, ehe es handwarm spärlich fließt. Aber die neueren Motels und Hotels, die teilweise direkt an der Trasse nach Kiew liegen, reizen mich nicht, ich will die Atmosphäre der Orte spüren.

Sarni, eine Kleinstadt, erschüttert mich. Die Neubauten, die einmal der Stolz der Gesellschaft waren, weil sie jeder Familie ihren eigenen Wohnraum gewährten, sind in einem erbärmlichen Zustand. Die Dame an der Rezeption des aus öffentlichen Mitteln bestrittenen Hotels des Ortes drückt ihre nicht unbegründeten Befürchtungen mit den Worten aus: »Bald sind wir alle Bettler.« Die Wegeinfassungen des Boulevards sind teils weggebrochen, abends erleuchten nur einige Geschäfte die Straße. Dafür existiert ein Supermarkt, der wie im Westen ausgestattet ist und alles kompensieren muß. Vor der Alkohol- und Zigarettenabteilung tummeln sich Jugendliche.

Als ich in Korosten nach unendlich langen 160 Kilometern im Restaurant die Tagesetappe mit einem Bier beschließen will, schart sich das jugendliche Bedienpersonal um mich. (Ich bin der einzige Gast, und dann noch ein Ausländer.) Die jungen Menschen erzählen mit so erstaunlicher Offenheit von ihrem Leben, ihren Plänen, daß ich denke: Welcher Jugendliche in unserem Land würde sich mir so freimütig offenbaren?

Irpen vor Kiew: Meine erste planmäßig angesteuerte Station seit Berlin. Hier hat mir die hilfsbereite Nadja (eine Schülermutter) Freunde vermittelt, die mich bei sich aufnehmen. Sofort machen meine Gastgeber das Wohnzimmer frei, so daß ich den Eindruck bekomme, sie ziehen sich aus ihrer Privatsphäre in ein Dienstverhältnis zurück, nur darauf bedacht, meinen nächsten Wunsch zu erfüllen ...

Den folgenden Ruhetag verbringe ich fotografierend in der ukrainischen Hauptstadt, die sich wenig von unserer Hauptstadt unterscheidet: Hier konzentrieren sich Menschen und Finanzen, es ist bunt, teuer, hektisch.
Uwe Meißner


Wahn-Sinn
»Der Weg in die Psychose war mein Befreiungsschlag.« – »Ich bin gerade durch diese Erkrankung geheilt.« – »Rückblickend möchte ich keine Psychose missen in meinem Leben, weil sie mein Verständnis für das Sein in einer unfaßbaren Dimension erweitert haben.« Was die Psychiatrie als Folge eines gestörten Hirnstoffwechsels diagnostiziert, mit Etiketten wie »Schizophrenie« belegt und unter Zwangsanwendung medikamentös unterdrückt, erleben die Betroffenen selbst trotz massiver Ängste oft als letztlich sinnvoll und heilsam, als Bewußtseinserweiterung, als Reifungsschritte der Persönlichkeit zu innerer Ganzheit und gesteigerter Lebendigkeit.

In dem von Hartwig Hansen herausgegebenen Sammelband »Der Sinn meiner Psychose« berichten 20 Frauen und Männer von ihrem Leben mit und nach der Psychose und von ihren Erfahrungen mit der Psychiatrie, die für die meisten das eigentliche Schrecknis sind: Gefangenschaft, Isolation, Entwürdigung, Stigmatisierung. Es sind Menschen, die Probleme haben mit der Anpassung an das, was Michel Foucault als Terror der Vernunft beschrieben und der Psychoanalytiker Arno Gruen als »Wahnsinn der Normalität« analysiert hat. Verweigert wird ihnen, was helfen kann: Zuwendung, Ernstnehmen ihrer Erfahrungen, verständnisvolles Gespräch. Aufgezwungen wird ihnen, was sie als »Zubetonierung«, als Abtötung ihrer Gefühle erleben. Dies zu ändern ist nicht allein eine medizinische Aufgabe; es ist eine gesellschaftliche und damit eine politische. Es ist eine Herausforderung an den künstlich verengten Realitätsbegriff im kapitalistischen Materialismus. Und es ist eine Einladung, kreative Potentiale zu entdecken. »Wenn wir diese Menschen ausschließen, dann wird die Welt um uns ärmer und kälter«, heißt es in einem der Texte.
Hans Krieger

Hartwig Hansen (Hg.): »Der Sinn meiner Psychose«, Paranus-Verlag, Neumünster, 200 Seiten, 19,95 €


Walter Kaufmanns Lektüre
Man sollte dieses Buch lesen – junge Leute besonders, denn es ist eindringlich, in schnörkellosem Deutsch geschrieben. Wir erfahren, wie der weitläufig gebildete Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799) bei einem längeren Aufenthalt in England ein sogenanntes waste-book anlegte, in dem er allerlei Merkwürdigkeiten festhielt, die bis heute fesseln; und lesen, daß Goethe dem Freund Schiller, fern jeder Rivalität, den Stoff für den »Tell« lieferte, nebst allen Aufzeichnungen, die er dafür gemacht hatte (man nenne mir einen Gegenwartsschriftsteller, der ähnlich selbstlos handeln würde!). Daß der viel zu jung gestorbene Georg Büchner (1813–1837), dieser Bedeutende der deutschen Literatur, für seine Schriften über die Grenzen des Landes hinaus wie ein flüchtiger Verbrecher steckbrieflich verfolgt wurde, zeigt Parallelen auf zum Schicksal lebender Schriftsteller weltweit. »Wer uns so lachen und zürnen machte«, schreibt Arnold Zweig nach Tucholskys Freitod, »wer so herrlich zu spaßen und weise zu sehen vermochte wie Sie, der mag gern ausruhen wie Heinrich Heine. Er ist ein Lebender wie er ...« Im »Tagebuch der totgesagten Dichter« holt Eberhard Panitz Tucholsky aus der Vergangenheit – macht ihn für uns zum Lebenden. Und tut das auch für Heinrich Mann, der 1933 Nazideutschland floh, um in Frankreich seinen »Henri Quatre« zu vollenden, einen Roman, in dem von Hindenburg bis Goebbels unter historischer Maske etliche Zeitgenossen entlarvt werden. »... und so auch floh Brecht unter das dänische Strohdach«, schreibt b. b. in einem seiner Gedichte und flieht sehr bald danach in die USA. Wie es ihm dort erging, und wie er bei der Vernehmung durch den Washingtoner Untersuchungsausschuß, der ergründen sollte, ob Brecht ein Revolutionär sei, gelassen feststellte, ja, er habe Gedichte, Lieder und Stücke im Kampf gegen Hitler geschrieben und »die kann man natürlich für revolutionär halten, denn ich war selbstverständlich für den Sturz dieser Regierung«. Was zur Folge hatte, daß er sich alsbald genötigt sah, die USA zu verlassen. »Tagebuch der totgesagten Dichter« bleibt aufschlußreich bis zum Schluß – Panitz schreibt über die große Anna Seghers und ihr Schaffen im Exil, schreibt über Erwin Strittmatter, der »trotz alledem ein hartgesottener und unbeirrbarer Anti-Antikommunist« blieb, und mit Hochachtung über die einstige Kundschafterin und spätere Schriftstellerin Ruth Werner. Bewegt nimmt er Abschied von dem Freund Günter Görlich. Letztlich, großartig wie ich meine, erinnert er an Peter Hacks, der sich früh für die DDR entschied und dem »anderen Deutschland« unbeirrt die Stange hielt. »Was immer wir tun«, sagte einst ein Freund zu Hacks, »es zeitigt keine Folgen.« »Wer weiß«, entgegnete Hacks. »Heute nein, morgen doch.«
Walter Kaufmann

Eberhard Panitz: »Tagebuch der totgesagten Dichter«, Verlag am Park, 205 Seiten, 14,99 €



Träume der Jugend
Auch wenn sich in meinem Regal ein Stapel nicht besprochener, für Preise auserkorener und mit großem Lob bedachter Bücher türmt – die meisten haben mich enttäuscht und machen wenig Lust, darüber zu schreiben. Nur ein Buch bildet eine Ausnahme, und ich will es zur baldigen Urlaubslektüre dringend empfehlen. Es macht gute Laune!
»Nilowsky« von Torsten Schulz ist ein Roman über das Erwachsenwerden eines stinknormalen Jungen – Markus Bäcker, der mit seinen Eltern in den achtziger Jahren aus der Stadtmitte an den Rand von Ostberlin zieht. Triste Gegend. Aber statt der gängigen DDR-Tristesse erwartet uns ein Buch mit herrlichen Alltagserlebnissen und einer Romantik voller Komik und dennoch ernst. Der Ich-Erzähler begegnet dem etwas älteren Nilowsky, der nebenan in der Kneipe des Vaters kellnert. Ihm verdankt er den originellen Blick auf die Wirklichkeit mit afrikanischen Vertragsarbeitern, die die Arbeit im Chemiewerk zum Ausruhen für die Revolution nutzen und die die Liebe mit ungewöhnlichen Ritualen herbeizaubern wollen. Überhaupt die Liebe! Plötzlich scheint es, als ob Carola Markus und Nilowsky entzweien könnte. Bahngleise werden zu Geheimnisträgern, und eigentlich ist alles voller Rätsel. Rätsel der Jugend, die Träume braucht.

Als ich las, mußte ich an Huckleberry Finn oder an Salingers »Fänger im Roggen« denken und staunte, daß auch die sonst so schmählich behandelte DDR das Zeug für einen solchen Roman hergibt. Lesen!
Christel Berger

Torsten Schulz: »Nilowsky«, Roman, Klett-Cotta Verlag, 285 Seiten, 19,95 €