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Titel1414

Selbstbestimmung  (Eckart Spoo)

Vor dem Bundestag gab Kanzlerin Merkel am 4. Juni eine Regierungserklärung zum Thema Ukraine ab, in der sie Rußland wegen Destabilisierung des Nachbarlandes weitere Sanktionen androhte. Sie sagte: »Wir haben einen langen Atem, wenn es darum geht, Freiheit, Recht und Selbstbestimmung auf dem europäischen Kontinent durchzusetzen.«

Wem es darum geht ... Wem geht es darum? Ihr? Angela Merkel? Nein. Wenn sie einem Land mit Sanktionen droht, setzt sie es unter Druck, schränkt also seine Freiheit, seine Selbstbestimmung ein. Sie selbst will bestimmen, wie sich andere Staaten verhalten sollen.

Die Bevölkerung der Krim hat sich mit großer Mehrheit für die Rückkehr zu Rußland entschieden. Diesen Akt der Selbstbestimmung erkennt die Kanzlerin nicht an. Nicht weniger eindeutig als auf der Krim waren die Abstimmungsergebnisse in den ostukrainischen Regionen Donezk und Lugansk. Jetzt bestraft die Putschregierung in Kiew die Menschen auf der Krim, indem sie ihnen das Trinkwasser abstellt. Spärlichen Nachrichten war zu entnehmen, daß durch Bombardierung der Hauptwasserleitung auch mehrere ostukrainische Städte unter Druck gesetzt werden, damit die Menschen dort wieder lernen, andere über sich bestimmen zu lassen. Merkel wagt es, Rußland Destabilisierung der Ukraine vorzuwerfen – nachdem Victoria Nuland, zuständige Abteilungsleiterin des Washingtoner State Department, längst publik gemacht hat, daß die USA rund fünf Milliarden Dollar für den regime change in Kiew aufgewendet haben. Selbstbestimmung? Oder Destabilisierung?

Schon seit Jahrzehnten bezeichnet das Wort Destabilisierung eine Methode der US-Außenpolitik, die besonders wirkungsvoll zwischen 1970 und 1973 in Chile angewendet wurde. Faschistische Gewalt wurde in Dienst gestellt, um eine eigenständige Entwicklung des Landes, eine Demokratisierung der Gesellschaft, nicht zuletzt der Wirtschaft, zu verhindern. Vor solcher Selbstbestimmung, die auf Sozialismus hinausgelaufen wäre, wollten die USA Chile bewahren.

Jetzt in der Ukraine geht es den USA und anderen NATO-Staaten darum, das Land zum westlichen Frontstaat gegenüber dem großen, an Gas und anderen Bodenschätzen reichen Rußland zu machen. Aus solchen Absichten haben US-Strategen wie Zbigniew Brzeziński nie ein Geheimnis gemacht. Die Ukraine soll sich der Europäischen Union (EU) assoziieren, die nicht nur ein wirtschaftspolitisches, sondern auch ein militärpolitisches Bündnis ist.

Als die gewählte ukrainische Regierung zögerte, das Abkommen zu unterschreiben, begann die heiße Phase des regime change. An die Spitze des zunächst friedlichen Protests auf dem Maidan setzten sich faschistische Trupps – uniformiert, bewaffnet, offenkundig zu brutaler Gewalt gedrillt. Die Regierung gab nach, indem sie sich zum Vorziehen turnusmäßiger Wahlen bereit erklärte. Die Faschisten aber, deren Mitwirkung am regime change der Westen, auch in Gestalt des deutschen Außenministers Steinmeier, akzeptiert hatte, verstärkten die Gewalt, besetzten Regierungsgebäude, griffen Parlamentarier an, jagten Kommunisten und Gewerkschafter, setzten Gebäude in Brand – eben Faschisten in der Tradition der SA, durch deren Straßenterror einst die geschwächte Weimarer Republik dermaßen verprügelt, versehrt und geschwächt worden war, daß sie sich nicht mehr aufzurichten vermochte. Den Anführer der Nazi-Kollaborateure in der besetzten Ukraine, Stepan Bandera, hatte schon die zeitweilige Ministerpräsidentin Julia Timoschenko zum Nationalhelden erklärt.

Als die Faschisten bei der Präsidentenwahl Ende Mai keinen großen Stimmenanteil erlangten, äußerten sich hiesige Kommentatoren, die bis dahin über die strammen Kameraden milde geschwiegen hatten, ganz zufrieden mit diesem Ergebnis, zeige es doch, daß die Faschisten in der Ukraine keine nennenswerte Bedeutung hätten. Das war frech gelogen und geheuchelt. Denn eben erst hatte der faschistische Terror den Putsch zum Erfolg geführt. Und zur Belohnung hatten die Faschisten Schlüsselpositionen in der neuen, nicht gewählten Regierung übernehmen dürfen, nunmehr zuständig für den staatlichen Gewaltapparat.

Am selben 4. Juni, als Merkel im Bundestag eine Rede voll mütterlicher Fürsorge für die angeblich von Rußland bedrohten Länder hielt, verkündete der joviale US-Präsident Obama in Warschau: »Jedes Volk und jedes Land hat das Recht, seine Zukunft selber zu bestimmen. [...] Die Zeiten von Imperien und Einflußsphären sind vorbei.« Sätze, die von den Hörern nur beklatscht werden konnten. Wer denkt denn beispielsweise gleich an Kuba, das seit 52 Jahren unter einer Wirtschafts-, Handels- und Finanzblockade leidet, mit der die USA das erklärte Ziel verfolgen, das wirtschaftliche Leben des Inselstaates zu schwächen, »um Hunger, Verzweiflung und den Sturz der Regierung herbeizuführen«. Hinzu kamen militärische Aggression, nicht nur die Invasion in der Schweinebucht, sondern auch biologische und chemische Kriegführung, Mordversuche gegen Fidel Castro und andere Politiker und das Attentat auf ein kubanisches Verkehrsflugzeug, bei dem 73 Passagiere ermordet wurden. Vor einigen Wochen wurde ein US-Programm zur Ausbildung kubanischer Jugendlicher für den Sturz ihrer Regierung aufgedeckt. Die USA, wer auch immer gerade im Weißen Haus präsidiert, wollen eben nach wie vor entscheiden, wie sich andere Staaten entwickeln dürfen. Daß die UN-Generalversammlung Jahr für Jahr fast einstimmig die Blockade gegen Kuba verurteilt, hat Reagan, Clinton, Bush oder Obama nie gestört.

Zwar reden US-Politiker immer gern vom Freihandel; gerade in diesen Wochen bedrängen sie Westeuropa, ein Abkommen zu unterschreiben, das den freien Handel fördern soll. Sie würden aber nicht so heftig auftreten und wären nicht so strikt auf Vertraulichkeit der Verhandlungen bedacht, wenn sie sich nicht große Vorteile von dem Abkommen versprächen. Woran sie dabei jedenfalls nicht denken, ist die Aufhebung des Embargos gegen unerwünschte Staaten, die niedergezwungen werden sollen, zum Beispiel Iran oder Weißrußland. Und was sie sich keinesfalls nehmen lassen möchten, ist ihr Führungsanspruch, den Obama dieser Tage in einer Rede vor US-Offizieren bekräftigt hat. Dieser Anspruch schließt Selbstbestimmung derjenigen, die sich führen lassen sollen, schlicht aus.

Zum Führungsanspruch gehört die Kontrolle. Dank Edward Snowden wissen wir, daß der Geheimdienst NSA in einigen Ländern die gesamte elektronische Kommunikation überwacht. Die Bundesrepublik Deutschland stört sich nicht daran; ihr einziges Bestreben scheint zu sein, daß die deutschen Geheimdienste die gleichen Möglichkeiten erhalten wie die NSA, soweit sie sie noch nicht haben, denn die USA und die BRD sollen sich ja, wie schon Bush der Ältere sagte, als »partners in leadership« verstehen.

Laut Grundgesetz haben wir, jede und jeder, in Deutschland ein Recht auf »informationelle Selbstbestimmung«, das Behörden und Gerichte zu schützen haben; aber was ist davon übrig geblieben? Der klägliche Generalbundesanwalt Range wagt nicht einmal, wegen systematischer Mißachtung dieses Grundrechts die Zuständigen in Washington mit der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens zu behelligen. Wo ein imperialistischer Staat glaubt, sich in die inneren Angelegenheiten anderer, kleinerer, schwächerer Staaten einmischen zu dürfen bis hin zu ferngesteuerter Tötung mit Bomben, Raketen oder Drohnen, da werden die Menschenrechte ebenso außer Kraft gesetzt wie das Völkerrecht. Es kann uns nicht trösten, wenn die Bundesregierung auf die US-amerikanischen Drohnen mit der Ankündigung deutscher Kampfdrohnen antwortet.

Wir werden einen sehr langen Atem brauchen, um Freiheit, Recht und Selbstbestimmung durchzusetzen – wir in Deutschland, andere in ihren Ländern, möglichst gemeinsam, solidarisch.