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Titel1414

Beginnende Kernschmelze  (Manfred Sohn)

Senator John McCain kritisierte Präsident Obamas Abwarten angesichts des Zerfalls des Iraks mit den Worten: »Wir hätten zweifellos Truppen dort belassen können, wie wir das in Korea und Deutschland […] taten, aber wir taten das nicht und nun ist da Chaos.«

Der Satz des alten Kriegers enthüllt gleichzeitig den Kern der sich von Libyen bis Afghanistan vollziehenden Kriegs- und Zerfallsprozesse und das Unverständnis der herrschenden Klassen gegenüber diesen Prozessen.

Ihr Weltbild ist nach wie vor – das haben sie übrigens leider mit vielen Linken gemein – geprägt von der Weltkriegsphase 1914 bis 1945. In der Normandie konnten wir jüngst erleben, wie das Muster der dortigen Operationen vom 6. Juni dazu herhalten mußte, den Bogen von Omaha Beach nach Kiew zu schlagen. Das ist Geisterbeschwörung. Denn der fundamentale Unterschied zwischen den Jahrzehnten nach 1945 und denen, in die wir jetzt eintreten, liegt nicht auf der Ebene von Militär und Politik. Dort tritt er nur in Erscheinung. Der Kern liegt tief im kapitalistischen System, dort wo es um die Mehrwertproduktion geht. Und dort läuft die Kernschmelze. Etwas weniger abstrakt ausgedrückt: Die Tatsache, daß in Korea und (West-)Deutschland nach 1945 kein Chaos ausbrach, lag nicht an den amerikanischen Truppen. Es lag daran, daß damals kapitalistische Produktion noch in der Lage war, große Mengen Menschen in seinen Verwertungsprozeß zu ziehen. Die Weltkriege jener längst versunkenen Periode waren Kriege zur Eroberung von Ressourcen und Arbeitskräften. Der gewaltige Produktivitätsschub der letzten Jahrzehnte hat aber dazu geführt, daß der moderne Kapitalismus mit Arbeitskräften immer weniger anfangen kann. Er kann sie nicht mehr verwerten. Er kann die Gebiete außerhalb seiner Zentren aber auch nicht sich alleine entwickeln lassen – wegen der dort liegenden Rohstoffe nicht, vor allem aber, weil er weiter Inseln der Produktion und Absatzmärkte überall in der Welt braucht. Also zerstört er alternative Strukturen, ohne strukturell noch in der Lage zu sein, sein eigenes Verwertungs- und Gesellschaftsregime aufzubauen. Das Ergebnis ist Chaos und im übrigen die schiere Unmöglichkeit, soviele Truppen aufzustellen und auszurüsten, um erfolgreich gegen die Gespenster zu kämpfen, die der eigene Systemzusammenbruch heraufbeschwört. So hatten die USA zwar die Kraft, Hussein zu lynchen, aber züchteten selbst ISIS und Al Kaida, die es beide 2003 im Irak noch nicht gab.

Die Linke – die groß wie vor allem die klein geschriebene – ist gefordert, sich dieser Prozesse intensiv und weniger nostalgisch, sondern vor allem analytisch anzunehmen, wenn sie eingriffsfähig werden will in dem sich weltweit abzeichnenden Chaos von Zerfall und kapitalistischer Kernschmelze. Die Ereignisse in der Ukraine sind keine Wiederholung von Deutschlands Griff nach der Weltmacht, und der Feldzug der Amerikaner in den Wüsten Afrikas und der Golfstaaten ist kein Remake von Rommel-Feldzügen. Der Kern ist vielmehr die wachsende Unfähigkeit des zum Weltsystem gewordenen Kapitalismus, menschliche Arbeitskraft verwerten zu können. Also wird sie – wie in der Ukraine – zur verzweifelten Manövriermasse dumpfrechter und im Mittelmeerraum zu verzweifelten Manövriermasse dumpfgottesgläubiger Organisationen. Das ist der gemeinsame Kern der Ukraine, des Iraks, der in Deutschland anlandenden Verzweifelten aus jenen verlorenen Regionen und dessen, was noch auf uns zukommt.

Vom Autor ist jüngst im Verlag PapyRossa das Buch »Am Epochenbruch. Varianten und Endlichkeit des Kapitalismus« erschienen (222 Seiten, 14,90 €).