Die Dolomiten, seit Juni 2009 Weltnaturerbe der UNESCO, waren im Ersten Weltkrieg ein Nebenkriegsschauplatz, wenn es denn so etwas gibt, im Mehrfrontenkrieg der Mittelmächte gegen die Entente entlang der Kampflinie von Ostpreußen über die Karpaten, den Balkan bis zu den Dardanellen auf der einen Seite und entlang der Westfront bis nach Ypern, Verdun, zum Atlantik auf der anderen Seite und weiter in die afrikanischen Kolonien, nach Palästina, nach Mesopotamien und noch globaler. Warum gab es überhaupt diesen Krieg in den Dolomiten?
1881 hatte das Deutsche Reich mit Österreich-Ungarn und Rußland das Drei-Kaiser-Abkommen geschlossen, 1882 zusätzlich noch ein Bündnis mit Italien. Der Konflikt war absehbar: Italien war auf dem Bankensektor von Frankreich abhängig, schloß mit diesem ein Neutralitätsabkommen für den Fall eines deutschen Angriffs auf Frankreich – und wollte von der Donaumonarchie unter anderem das italienischsprachige Südtirol. 1915 schien die Gelegenheit günstig, diese Forderung mit Waffengewalt durchzusetzen. »Berge in Flammen« war nicht nur der Titel eines Films von Karl Hartl und Luis Trenker aus dem Jahre 1931, in dem Trenker seine Erlebnisse an der Alpenfront verarbeitete, es war grausame Realität. »Eine der schönsten Landschaften Europas verwandelte sich im Ersten Weltkrieg in einen seiner schrecklichsten Schauplätze«, heißt es in der Betextung des Verlages Berenberg zu der bebilderten Neuausgabe »Der Dolomitenkrieg« von Uwe Nettelbeck. Sie war 1979 im Verlag Zweitausendeins erstmals separat erschienen, nachdem sie 1976 schon einmal in einer Textsammlung veröffentlicht worden war.
Uwe Nettelbeck (1940–2007) hat sich in den 60er Jahren einen Namen mit Film- und Literaturkritiken in der Zeit und mit Gerichtsreportagen gemacht, war 1969 Chefredakteur von konkret – zur Redaktion gehörten damals auch Ulrike Meinhof und Stefan Aust – und zog sich noch im selben Jahr voller Überdruß aus dem Medien- und Literaturbetrieb zurück. Er wurde Musikproduzent und schuf ab 1976 ein literarisches Werk aus Montagen und Glossen, das vor allem in der Zeitschrift Die Republik erschien, die seine Frau Petra herausgab.
»Was Uwe Nettelbeck bewogen hat … ein Buch über einen Nebenschauplatz des Ersten Weltkriegs zu machen, weiß ich nicht«, schreibt der Publizist und Soziologe Detlev Claussen, Adorno-Spezialist und Professor an der Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Universität Hannover, in seinem engagierten Nachwort zum Wiedererscheinen der literarischen Dokumentation. »Und wie die Wiener Presse mit ihrem Kriegsgeheul … den verstummten Karl Kraus wieder zum Reden und Schreiben« gebracht hat, so hat Uwe Nettelbeck »den Kriegsberichterstattern des Dolomitenkriegs aufs Maul geschaut«.
Einen Hochgebirgskrieg wie diesen hatte es vorher noch nicht gegeben. Er war die Folge des Ausbruchs des Krieges zwischen Österreich und Italien im Mai 1915. Ab sofort töteten sich die Soldaten »mit Schußwaffen, Sprengstoff, Bajonetten und Morgensternen. Sie starben in Lawinen, bei Abstürzen oder durch Erfrieren. Sie bestiegen zuvor als unzugänglich geltende Berge, nur um sich gegenseitig herunter zu schießen. Sie durchbohrten die Landschaft, sprengten Felsen und entstellten die Landschaft« (Berenberg). Und: »Die einst zahlreichen Gemsen wurden schon in den ersten Kriegsmonaten erlegt« (Nettelbeck).
Nettelbeck ist der Chronist. Sein Buch sollte jedem Urlauber an die Hand gegeben werden, der im Sommer oder Winter zum Wandern, Klettern oder Skilaufen nach Südtirol in die Dolomiten fährt, denn, so Claussen in seinem Nachwort: »Vom Dolomitenkrieg gibt es nicht viel zu erzählen. Auf ihn muß man hingewiesen werden.«
Ich selbst mache seit über einem Dutzend Jahren in einem in 1636 m Höhe gelegenen, privat geführten Hotel auf dem Kreuzbergpaß im Hochpustertal Bergurlaub, mitten im ehemaligen Kampfgebiet. Ich habe die Stellungsanlagen, Schützengräben und Stollen auf dem Plateauberg Monte Piana (von den Italienern besetzt) und seinem Nordgipfel Monte Piano (in der Hand der Österreicher) gesehen, mit den immer noch begehbaren Laufgräben, teilweise nur wenige Meter voneinander entfernt. Ich bin angeseilt über fußbreite Steige gegangen, die Alpini vor 100 Jahren in die Steilwände gehauen haben, und ich bin durch den von den Soldaten in den Paternkofel gehauenen Tunnel zum Gipfelkreuz geklettert. Die freundliche Hotelchefin ist mütterlicherseits eine Urenkelin des berühmten Bergführers Sepp Innerkofler, Gastwirt aus Sexten. Nach ihm wurde vor wenigen Jahren die 2438 Meter hoch gelegene Dreizinnenhütte benannt, die er vor über 100 Jahren bewirtschaftete. Innerkofler hatte 1915 nach der Kriegserklärung Italiens an Österreich einen Trupp aus Bauern und Bergführern innerhalb der örtlichen Standschützen gebildet. Er fiel schon am 4. Juli 1915 bei dem Versuch, den von italienischen Alpini besetzten 2744 m hohen Gipfel des Paternkofel zurückzuerobern. Im kommenden Jahr wird man erneut seiner gedenken.
Sein in zigfacher Auflage – ich besitze die 56. – erschienener und bis heute erhältlicher Lebensroman »Der Sepp«, Erstausgabe 1931, wurde von Karl Springenschmid verfaßt, einem nationalsozialistischen österreichischen Schriftsteller, Hauptverantwortlicher für die Salzburger Bücherverbrennung am 30. April 1938 (Näheres dazu siehe Wikipedia). Sepp Innerkofler hätte einen anderen Biographen verdient.
Uwe Nettelbeck: »Der Dolomitenkrieg«, Nachwort Detlev Clausen, Berenberg, 152 Seiten, mit Fotografien, 20 €