Beginnen wir mit Stalin. Als er starb, war ich sieben Jahre alt und lebte in Budapest. In der Schule sollten wir unsere Gedanken und Gefühle zum Tod des großen Mannes schildern; wir alle kannten ihn von den Fotos im Klassenzimmer. Ich wußte – oder spürte – genau, daß ich vorsichtig sein mußte mit meinen Bekenntnissen. Zu Hause redeten wir darüber, was ich lieber nicht erwähnen sollte.
Dabei waren meine Eltern keineswegs aktive Gegner des Systems. Der Krieg war erst acht Jahre zuvor beendet worden; die Erzsébet-Brücke über die Donau, die die Deutschen bei ihrem Rückzug vor der Roten Armee gesprengt hatten, war noch nicht wieder aufgebaut. Aber es herrschte im Land eine Stimmung von Enttäuschung, Angst und Mißtrauen. Die wenigsten Menschen hätten die Zustände als gerecht und demokratisch bezeichnet.
Aber ich habe immerhin diesem System unter Stalin und dem damaligen ungarischen Parteichef Rákosi zu verdanken, daß ich mich aus den ärmlichen, »bildungsfernen« Verhältnissen heraus entwickeln konnte. Während meine Eltern in der halbfeudalen, von Großgrundbesitzern, Adligen, dem Großbürgertum und der katholischen Kirche beherrschten Vorkriegswelt mit 14 Jahren ihre Familie verlassen mußten, um bei den »Herrschaften« zu dienen, war es für mich schon im Grundschulalter selbstverständlich, daß ich später mal studieren würde. Und für meine Schwester genauso. Der Clou dabei war, daß diese Kinderphantasien überhaupt nicht unrealistisch waren – ganz im Gegenteil.
Nach dem Aufstand 1956 und der Flucht in das Wirtschaftswunder-Deutschland unter Adenauer war das allerdings anders. Klavierunterricht, den wir in Budapest bei Musikhochschülern unentgeltlich besuchten, konnten wir in Deutschland nicht nehmen. Wer hätte das bezahlen sollen. Wir wurden schon ohnehin schräg angeschaut, weil wir als Kinder eines Kellners und einer Verkäuferin zwar kaum Geschirr im Schrank und keine Tapeten an den kahlen Wänden hatten, aber selbstverständlich mit dem Bus ins Gymnasium in die Stadt fuhren.
Ich habe also schon früh ein Gefühl dafür bekommen, daß demokratische Freiheiten für gutes Leben wesentlich sind – selbst dann, wenn soziale Gerechtigkeit groß geschrieben wird. Später lernte ich in Deutschland, daß Freiheiten nicht viel wert sind, wenn sie wegen mangelnder Gerechtigkeit nur wenige genießen können. Und inzwischen befürchte ich, daß Deutschland und Europa dabei sind, beides ad acta zu legen: die soziale Gerechtigkeit und die Demokratie.
Immer mehr MitbürgerInnen scheinen das Gefühl zu haben, daß Demokratie wenig mit ihrem Leben zu tun hat und daß sie ohnehin keinen Einfluß auf ihr Funktionieren nehmen können. Als hätten sie akzeptiert, daß das einfache Volk nicht mitreden kann und darf, denn bei den großen Themen der Wirtschaft oder von Krieg und Frieden ist ihre Meinung sowieso nicht gefragt. Bei einer repräsentativen Forsa-Umfrage vom November 2010 sagten 79 Prozent der Befragten, auf die Interessen des Volkes werde kaum Rücksicht genommen. Und nur vier Prozent sind der Überzeugung, daß Wahlentscheidungen die Richtung der Politik in starkem Maß beeinflussen.
Der Zustand der Welt bestätigt den Eindruck, daß es ein »politökonomisches Gravitationsgesetz« gibt: Die politisch Mächtigen machen die Reichen reicher und die Reichen die Mächtigen mächtiger. Je mehr ihnen das gelingt, umso mehr muß die macht- und besitzlose Mehrheit verzichten und ihre in jeder Hinsicht ärmliche Rolle hinnehmen. Ist die bürgerliche Demokratie in der Lage und gewillt, dieses »Gesetz« und die damit verbundene erlernte Hilflosigkeit und Unmündigkeit aufzubrechen?
»Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.« Und: »Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.« (GG Artikel 1 und 20) Schöne, gewichtige Sätze, obwohl sehr viel von Gewalt die Rede ist. Vor allem wäre aber die Frage zu klären: Welche Voraussetzungen müssen unbedingt erfüllt sein, damit diese Grundsätze nicht nur präsidiale Reden füllen und Gedenksprüche fürs bürgerliche Poesiealbum bleiben, sondern in unserem alltäglichen Leben wirken? Vielleicht wäre es möglich, sich jenseits aller staatsrechtlichen Definitionen auf folgende »Zutaten« zu einigen:
Erstens: In einer Demokratie werden Macht und Reichtum wirksam kontrolliert und begrenzt, damit »nicht nur ein Teil auf der Sonnenseite des Lebens steht«, wie der Bundesverfassungsrichter Siegfried Broß einmal sagte.
Zweitens: Das Gemeinwohl darf nicht gleichgesetzt werden »mit den Interessen oder Wünschen einer bestimmten Klasse«, sagte Broß weiter. Ohne eine gut funktionierende gerechte Verteilung gibt es keine Demokratie und wird keine Gemeinschaft und auch kein Staat auf Dauer existieren können. Bedingung Nummer zwei einer Demokratie ist die Begrenzung der Möglichkeit, sich zu Lasten anderer Menschen zu bereichern; also die gerechte Verteilung aller Güter.
Drittens: Das Recht auf Teilhabe an allen materiellen und immateriellen Gütern, also auch Gesundheit, Bildung und Kultur, muß aber für alle tatsächlich und nicht nur auf dem Papier und in den Reden des Bundespräsidenten gelten. Sonst ist es so viel wert wie ein ungedeckter Scheck.
Viertens: Souveränität des Volkes beruht auf Autonomie, und die setzt Emanzipation voraus. Ein desinformiertes, entmündigtes Volk, auf »Verbraucher« reduzierte BürgerInnen sind kein »Souverän«. Und Parteien können nicht an ihre Stelle treten, auch wenn sie so tun. In einer Demokratie sind alle Institutionen verpflichtet, zu Autonomie, Emanzipation und direkter Beteiligung des Souveräns beizutragen.
Fünftens: Menschen können ihre Rechte und ihre Kontrollfunktion nur dann wahrnehmen, wenn sie über alle sie betreffenden Angelegenheiten im Bilde sind. Zwar müssen persönliche Themen geheim bleiben können – aber Planungen und Entscheidungen der Mächtigen in Politik und Wirtschaft, die eine Menge Menschen betreffen? Geheimhaltung ist da klar ein Feind der Demokratie.
Naiv? Blauäugig? Ja, genauso »naiv« wie die Grundrechte und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Danach hat nämlich jede/r Anspruch auf eine soziale und internationale Ordnung, in der die Rechte und Freiheiten der Menschenrechtserklärung voll verwirklicht werden können. Eine solche Ordnung könnte die Demokratie sein. Staat und Gesellschaft müssen demokratisch funktionieren – nicht, weil das Staatsrechtler und Philosophen postulieren, sondern weil sie zutiefst verankerten menschlichen Bedürfnissen entsprechen. Es sei denn, sie wurden mit und durch Gewalt deformiert. Dazu ein kleiner Exkurs in die Psychologie.
In Versuchen hat man Menschenaffen Arbeiten verrichten lassen und sie dafür belohnt. Das klappte problemlos, solange der Lohn gerecht war, also alle gleich belohnt wurden. Bekamen aber einige mehr und bessere Köstlichkeiten, haben die anderen »Niedriglöhner« nicht nur die Arbeit verweigert, sondern auch den Lohn abgelehnt. Die Affen agierten nach dem Prinzip: Wenn wir uns schon dem Versuchsleiter unterwerfen müssen, dann soll wenigstens die Behandlung gerecht sein. Auch bei Menschenbabys kann man Grundformen eines Gerechtigkeitsempfindens beobachten. Bevor sie auch nur das Wort »Gerechtigkeit« kennen oder Erfahrung mit gerechter oder ungerechter Behandlung machen konnten, reagieren sie spontan auf offensichtliche Ungleichbehandlung. Und: Babys kommen mit der Fähigkeit zu Empathie auf die Welt. Ob sie diese Anlagen dann auch nutzen können, hängt von der Welt ab, auf die sie treffen.
Und das sollte bei Erwachsenen keine Rolle spielen? Ein Staat ohne Gerechtigkeit und ohne Zusammenhalt schaffende Solidarität ist von Verrohung, Anomie und zunehmender Gesetzlosigkeit geprägt. Zwar kann eine Zeitlang eine Scheindemokratie mit formalen Regeln aufrechterhalten werden. Haben die Menschen genug Ablenkung und Ersatzbefriedigung durch Konsum und entpolitisierende Unterhaltung, dann kann eine Auflehnung recht lang hinausgeschoben werden. Das wissen alle Diktatoren und Formaldemokraten. Wenn aber die Unzufriedenheit überhand nimmt, entsteht Gewalt – Aufstand und/oder staatliche Repression. Rebellion gegen solche Scheindemokratie oder gegen offene Unterdrückung kann als Versuch gesehen werden, die Erfüllung grundlegender menschlicher Bedürfnisse für alle wieder herzustellen und damit auch die Würde unantastbar zu machen. Demokratie ist keine Regierungsform, sondern eine Garantie für eine Form des Zusammenlebens, in der alle gut leben können.
Fortsetzung folgt.