2004 wurde von der schwarz-gelben Koalition die Gründung von sogenannten Medizinischen Versorgungszentren (MVZs) gesetzlich zugelassen. Nach der Privatisierungswelle im Krankenhausbereich können seither Investoren auch in die ambulante medizinische Versorgung einsteigen. (Haus- und Kinderärzt_innen blieben zunächst außen vor und sollten weiter auf eigene Rechnung wirtschaften.)
Bis 2004 lag die gesamte nichtstationäre Diagnostik und Therapie ausschließlich in den Händen selbständig wirtschaftender Ärzt_innen. Die Kassenärztlichen Vereinigungen mit ihrem Recht auf Selbstverwaltung – und damit zumindest formal frei von nichtärztlichen Fremdeinflüssen – hatten (und haben) die Sicherstellung der flächendeckenden Versorgung zu garantieren.
(Fach)ärzt_innen kooperierten schon vor Einführung der MVZs in Gemeinschaftspraxen oder Ärztehäusern, gründeten dann auch selbst MVZs. Doch blieben sie immer selbständige Freiberufler, die auf eigene Rechnung mit den Krankenkassen abrechnen. Als einst in den 1970er Jahren engagierte Jungmediziner_innen – inspiriert vom Konzept der Poliklinik – in der Alt-BRD interdisziplinäre Gesundheitszentren als Genossenschaften gründeten und kollektiv mit den Kassen abrechnen wollten, wurde ihnen das per Gerichtsbeschluß untersagt.
Mit der Zulassung von MVZs gerät nun das zäh verteidigte Privileg der ständisch organisierten Ärzteschaft in bezug auf die ambulante Versorgung ins Wanken. Investoren können auch im ambulanten Bereich Ärzt_innen anstellen, die ihre medizinischen Dienste gegen Gehalt verrichten, ohne die ökonomischen Risiken der Selbständigkeit zu tragen. Im Gegenzug sind sie den Unternehmenszielen ihrer »Arbeitgeber« verpflichtet. Damit dabei der Schein medizinischer Professionalität und Ethik zumindest auf dem Papier gewahrt bleibt, ist mittlerweile ein ärztlicher Leiter verbindlich vorgeschrieben.
Der Griff gewinnorientierter Investoren nach der ambulanten Facharztversorgung bleibt nicht folgenlos. Es vertiefen sich die Disparitäten in Gestalt von Überversorgung mit profitablen Segmenten in kaufkräftigen städtischen Quartieren einerseits und wachsenden Problemen bei der Versorgung auf dem Lande, wo die Schließung von kleinen Krankenhäusern um sich greift und zugleich der medizinische Nachwuchs wenig Interesse zeigt, frei werdende Landarztpraxen zu übernehmen, solange es sich andernorts leichter praktizieren und Geld verdienen läßt.
So sah sich die Große Koalition veranlaßt, die MVZ-Regelung zu modifizieren. Seit 2014 können nicht nur interdisziplinäre, sondern auch fachgleiche Zentren entstehen, dürfen also auch Haus- und Kinderärzt_innen in MVZs arbeiten. Und – dies läßt aufhorchen – auch Kommunen können als Träger auftreten. Diese Vorgabe findet allerdings zur Zeit noch wenig Anhänger_innen. Denn es bleibt das Problem, Jungmediziner_innen für die Perspektive zu begeistern, sich von klammen Gemeinden anstellen zu lassen, selbst wenn diese es wollten.
Ärzt_innen im Angestelltenstatus – das gab es hierzulande immer nur in Krankenhäusern. Jenseits der Grenzen der alten Bundesrepublik allerdings, zum Beispiel in Skandinavien, Großbritannien und in den Polikliniken und Ambulatorien des staatlichen Gesundheitsdienstes der DDR existierte diese strikte strukturelle Trennung von ambulant und stationär nicht. Die medizinische Breitenversorgung lag dort im wesentlichen in den Händen von öffentlich Beschäftigten aller medizinisch-pflegerischen Berufsgruppen.
Manch Bürger_in aus der ehemaligen DDR mag sich fragen: Warum wurden in den 1990er Jahren Polikliniken systematisch dichtgemacht und die dort angestellten Ärzt_innen und Apotheker_innen zu (Klein-)Unternehmer_innen umgeschult, wenn nun dieser Berufsgruppe das Angestelltendasein in Medizinischen Versorgungszentren – sei es bei Kommunen, sei es bei privaten Investoren – neuerlich schmackhaft gemacht werden soll? Kommunale MVZs als Wiedergänger der einst im Westen verteufelten Polikliniken, denen zu DDR-Zeiten gern unterstellt wurde, sie unterminierten die freie Arztwahl und trügen den Makel einer staatlich verordneten Einheitsmedizin auf niedrigerem Niveau als die Standards jenseits der Systemgrenze?
Die erste Poliklinik entstand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Wien. Sie diente einer Minimalversorgung der armen Stadtbevölkerung und gehörte zum System der Zweiklassenmedizin im Kapitalismus. Zunächst finanziert von wohltätigen Vereinen, wurde sie 1938 von der Gemeinde Wien übernommen und 1998 schließlich geschlossen.
Die gute alte Poliklinik aus DDR-Zeiten war eine Einrichtung der Breitenversorgung, staatlich finanziert und allen Bürger_innen kostenfrei zugänglich. Mit den MVZs in ihrer neuen Doppelgestalt wird hingegen die Zweiklassenmedizin weiter zementiert. Und angesichts der chronischen Unterfinanzierung der Gemeinden ist auch zu bezweifeln, daß sich der Niedergang kommunaler und Kreiskrankenhäuser und die weitere Ausdünnung der Breitenversorgung auffangen lassen, solange keine grundsätzliche Wende in der Gesundheitspolitik durchzusetzen ist.