Wie in mehreren rot-grün regierten Bundesländern steht in Niedersachsen die Einführung einer Pflegekammer vor der Tür, in der die circa 70.000 examinierten niedersächsischen Pflegekräfte zwangsweise organisiert werden sollen. Aufgabe der neuen Behörde soll die Definition von Pflegestandards und damit verbunden von berufsfachlichen Fortbildungsverpflichtungen sowie die Organisation derartiger Veranstaltungen sein. Ein hauptamtlicher Apparat mit nach gegenwärtigem Stand 53 Mitarbeitern soll hierzu geschaffen werden und sich überwiegend aus den Beiträgen der Kammermitglieder finanzieren. Der monatliche Pflichtbeitrag der einzelnen Pflegekräfte wird angekündigt zwischen 4 und 8 Euro, wahrscheinlicher jedoch bei 10 bis 15 Euro liegen.
Weniger Zuhörer als das Thema verdient, hatten sich am 13. Juni im Tagungshaus der St. Clemenskirche in Hannover eingefunden, um auf Einladung der Arbeitsgemeinschaft der SozialdemokratInnen Gesundheit (ASG) der SPD in Niedersachsen über das Thema zu diskutieren. Auf dem Podium die SPD-Landtagsabgeordnete Thela Wernstedt, Geschäftsführer Henning Steinhoff vom Bund der Privaten Anbieter in der Pflege (bpa), Burghardt Zieger, Geschäftsführer des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe (DBfK) und Gregor Kritidis vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB). In ihrem Eingangsstatement verteidigte Wernstedt das Pflegekammerprojekt mit dem Argument, die Pflege brauche eine gesellschaftliche »Aufwertung«, Pflegestandards, selbstorganisierte Qualifikation und eine politische Vertretung. Der Vertreter des DBfK sekundierte mit der Forderung nach Sicherung und Fortentwicklung berufsfachlicher Standards. Henning Steinhoff vom bpa sprach sich als Arbeitgebervertreter gegen die Pflegekammer aus: Diese sei neben hoher Arbeitsbelastung und relativ niedriger Entlohnung (sic!) ein weiteres Moment, daß zur Unattraktivität der Pflegeberufe beitrüge. Aufgrund des demographischen Wandels habe er große Sorge, daß zukünftig nicht mehr ausreichend junge Menschen bereit sein werden, einen Pflegeberuf zu erlernen und dann langfristig darin zu arbeiten. Realistisch wies er außerdem darauf hin, daß seine Verbandsmitglieder keineswegs an Vorgaben der Pflegekammer gebunden seien. Wenn die Kammer ihren Mitgliedern Fortbildungspflichten auferlege, könne das ihrer Fachlichkeit zwar guttun, bezahlen müßten sie dies allerdings selbst. Wenn Heimbetreiber ihre Mitarbeiter zu Fortbildungen (in der Arbeitszeit) schickten, dann aus eigenem Entschluß, eine Pflegekammer könne hierauf keinen Einfluß nehmen. Auch der Vertreter des DGB sprach sich gegen die Einrichtung einer Kammer aus, da er keine positiven Effekte für die Arbeitnehmer erkennen könne: Er habe nicht den Eindruck, daß es bisher an guter Pflegearbeit oder definierten Qualitätsstandards mangele, das Problem seien vielmehr Pflegeschlüssel und Arbeitsbedingungen, die es immer schwerer machten, den Ansprüchen nachzukommen. Es sei kein Zufall, daß die Verweildauer im Pflegeberuf nach der Ausbildung immer geringer werde, auch die Rückkehr von Müttern nach einer Familienpause sei unter den gegenwärtigen Bedingungen praktisch keine Option. Hier wußte der Vertreter des DBfK zu ergänzen, daß die Arbeit im Pflegeberuf bis zum regulären Renteneintritt unter den gegenwärtigen Bedingungen gesundheitlich kaum möglich sei.
In ihrer Beurteilung der Krisensituation in der Pflege waren sich die Diskutanten weitgehend einig: zu knappe Pflegeschlüssel und eine immer weiter ausgedünnte Personaldecke, die eine verantwortliche Betreuung immer mehr erschweren. Arbeitsbedingungen, die MitarbeiterInnen bei geringer Entlohnung hohe physische und psychische Belastungen aufbürden. Arbeitszeiten, die ein normales Familienleben massiv beeinträchtigen und dazu führen, daß die Mehrheit der ausgebildeten Pflegekräfte nach wenigen Jahren ihren Beruf verläßt. Dieser Situation stehen Untersuchungen gegenüber, die von einem Mehrbedarf von 20.000 Pflegekräften bis zum Jahr 2030 ausgehen. Eine Pflegekammer kann zur Lösung der Probleme allenfalls marginal beitragen: Arbeitsentgelte werden zwischen den Tarifparteien ausgehandelt, diese haben auch die Möglichkeit, Mindeststandards bei den Arbeitsbedingungen und – arbeitgeberbezahlte – Berufsfortbildungen zu vereinbaren. Die Beratung von Ministerien bei einschlägigen Gesetzesvorhaben und die Mitgestaltung von Ausbildungsanforderungen werden bereits heute von Berufsverbänden wie dem DBfK wahrgenommen; ob dieselben Personen, wenn sie zukünftig nicht mehr als Vertreter von Berufsverbänden, sondern als Abgesandte einer Pflegekammer auftreten, effektiver arbeiten werden, erscheint zweifelhaft. Schließlich ist eine Kammer ein berufsständisches Instrument nach innen, in den eigenen Berufsstand hinein, als dem Ministerium unterstehende Behörde ist sie für eine offensive Außenvertretung denkbar ungeeignet.
Bleibt das Argument der »Aufwertung« der Pflegeberufe, die nun in die Lage versetzt würden »mit einer Stimme« zu sprechen. Zunächst muß der Ehrlichkeit halber zugegeben werden, daß eine Kammer immer nur für den examinierten Teil der Beschäftigten sprechen kann, Hilfskräfte sollen vor der Tür bleiben. Weiterhin bedeutet »eine Stimme« bei einer zwangsverkammerten Mitgliedschaft nichts weiter als die Marginalisierung der Mindermeinungen. Es ist fraglich, ob nicht für eine engagierte sachbezogene Diskussion die gegenwärtige Struktur, in der verschiedene Berufsverbände, Gewerkschaften und Parteien mit unterschiedlichen Positionen um die richtigen Lösungsvorschläge ringen, demokratischer und erfolgversprechender ist.
Nach alledem fragt sich, ob der massive Grundrechtseingriff, den eine Zwangsverkammerung für die Betroffenen bedeutet, überhaupt geeignet ist, Probleme in der Pflege zu lösen. Beantwortet man die Frage positiv, so stellt sich die nach ihrer Erforderlichkeit. Andere Bundesländer haben andere Modelle entwickelt, etwa der Freistaat Bayern den Pflegering, in dem die bereits bestehenden Pflegeverbände und Gewerkschaften zusammenarbeiten sollen. In Berlin schlägt die ASG die Einführung eines gesetzlichen Pflege-Berufsverbandes mit freiwilliger Mitgliedschaft für Examinierte und Pflegehelfer vor. Auch über die Einrichtung eines Pflegebeauftragten, analog zur Gleichstellungsbeauftragen oder dem Datenschutzbeauftragten, der nicht der Weisungsbefugnis eines Ministeriums unterstellt wäre, verweigert die niedersächsische Landesregierung überhaupt die Diskussion. Zuletzt sollte die Politik wahrnehmen, daß ein ganz erheblicher Teil der von der Zwangsverkammerung bedrohten Pflegekräfte die autoritäre Verregelung ihrer Arbeitswelt als unangemessen ablehnt. Es geht dabei nicht nur um den Zwangsbeitrag, sondern vor allem um das demokratische Selbstverständnis. Interessenpolitik, sowohl gewerkschaftlicher wie berufsfachlicher Art, setzt Freiwilligkeit voraus. Engagierte Kranken-, Kinder- und AltenpflegerInnen können selbst für ihre Interessen eintreten, nicht aus Zwangsbeiträgen finanzierte Behördenvertreter!
Hinzu kommt, daß es sich bei der Art und Weise, wie in unserer Gesellschaft alte und kranke Menschen gepflegt werden, um eine gesamtgesellschaftliche Frage handelt. Die Politik muß selbst darüber befinden und gegebenenfalls Geld in die Hand nehmen, um angemessene Standards auch finanzierbar zu machen. Es drängt sich der böse Verdacht auf, die Pflegekammer komme angesichts der nahenden Schuldenbremse für öffentliche Haushalte gelegen, um die Kosten gestaltender Politik für die Pflege auf die Beschäftigten auszulagern. Das hätte auch noch den weiteren Vorzug, daß es im Falle des absehbaren Scheiterns dieser Politik und Fortdauer der Misere auch gleich einen Schuldigen gibt, auf den man verweisen kann.
Thela Wernstedt teilte jedenfalls mit, sie gehe unabhängig von aller Diskussion davon aus, daß Ende dieses Jahres oder im nächsten die Pflegekammer in Niedersachsen eingerichtet werde.