Die Bürgermeister-Stichwahl am 14. Juni endete um Mitternacht in den Augen vieler mit einem Desaster: Nur noch 47 Prozent der wahlberechtigten Venezianer stimmten – allerdings zu 53 Prozent – für den umtriebigen Leiharbeitsunternehmer und Sportpromotor Luigi Brugnaro, der sich rühmt, erst vor 81 Tagen »in die Politik« gegangen zu sein. Er ist ein Berlusconi-Verschnitt, der eine eigene Bürgerliste anführte und alle zerstrittenen Rechtskräfte von der Forza Italia bis zur Lega und den Fratelli d'Italia im zweiten Wahlgang auf sich vereinigen konnte. Deren Anteil am großen Korruptionsskandal Venedigs geriet offensichtlich völlig in Vergessenheit. Immerhin war zwei Wochen zuvor auch der Lega-Landesherr Luca Zaia im Veneto mit triumphalen 60 Prozent bestätigt worden, aber diese Region ist von jeher »schwarz«, das heißt in der Hand der Rechten und der Kirche.
Die Stadt Venedig war hingegen immer ein Licht in der Dunkelheit und wurde überwiegend vom sogenannten Centrosinistra regiert. In den letzten 20 Jahren waren es allerdings die Bürgermeister der Mitte, die sich mit ihrer heute sogenannten Partei der Demokraten (PD) den Interessen der »poteri forti«, weitgehend angepaßt haben. Damit sind jene Wirtschaftsinteressen gemeint, die sich nach der erfolgten Deindustrialisierung der Stadt auf dem Festland zunehmend der Ausbeutung der touristischen Ressourcen Venedigs verschrieben haben. Und die vor allem auch finanzielle Großprojekte, wie das Flutschutzprojekt MO.S.E., dominierten und damit alle Ressourcen der Stadt banden und teilweise veruntreuten, immerhin eine Milliarde Euro von sechs (s. Ossietzky 11/2015, 8/2014).
Seit Juni 2014 wurde Venedig daher nur noch kommissarisch verwaltet, nachdem die Stadtregierung hatte zurücktreten müssen. Der Stimmenverlust der PD (auf nur noch 16 Prozent) bei dem ersten Wahlgang am 31. Mai ist daher nicht verwunderlich. Und schon Mitte März hatten sich denn auch 58 Prozent der PD-Basis für einen Außenseiter als Kandidaten entschieden, der sowohl für die Partei als auch mit einer eigenen Liste in den Kampf um die Stadt ziehen sollte – ein nicht ungefährlicher Spagat für den Senator Felice Casson.
Viele Venezianer sahen in Casson, dem unbestechlichen Ermittlungsrichter, eine letzte Hoffnung verkörpert, der zerstörerischen Korruption und der touristischen Monokultur mit ihrem Ausverkauf der Altstadt zu Lasten der Einwohner Einhalt gebieten zu können. Noch am 31. Mai erhielt Casson mit 38 Prozent die meisten Stimmen, aber nicht die zum Sieg im ersten Wahlgang nötigen 51 Prozent. 13 Prozent der Stimmen von rechts und links waren an die Fünf-Sterne-Bewegung Beppe Grillos gegangen. Da hatten immerhin noch 63 Prozent der Bürger von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht. Doch bei der Stichwahl zwei Wochen später schaffte es Casson nicht mehr. Ihm beziehungsweise den Linken gelang nicht, was den Rechten immer gelingt: sich im letzten Moment zu vereinen. Ihm fehlten denn auch die Stimmen von mindestens 16 Prozent der Wähler vom 31. Mai: die der Grillo-Bewegung, die sich allen Bündnissen entzieht, die von radikalen und Umweltgruppen. Diese alle identifizieren ihn mit der PD und tragen zudem untereinander ihre persönlichen Fehden aus in der inselvenezianischen Kleinstadt, wo jeder jeden von jeher kennt. Aber vor allem fehlte auch die Unterstützung der PD selbst, die in Venedig allerhand Dreck am Stecken hat und in Casson immer einen »Extremisten« sah, der von Matteo Renzi politisch weit entfernt ist. Mein Eindruck aus dem Wahlkampf: Politisches Denken haben die meisten verlernt, und viele Venezianer möchten eigentlich doch keinen, der wirklich »durchgreifen« könnte, denn mit den immensen Interessen derjenigen, die seit langem ihre »Hände über die Stadt« halten, ist man doch irgendwie verknüpft. So hält der neue Bürgermeister Brugnaro die Privatisierung Venedigs durch internationales Kapital denn auch für einen Segen für die von ihm angestrebte »Modernisierung« der Stadt. Die Tatsache, daß der Emporkömmling der Sohn eines lokal bekannten kommunistischen Arbeiter-Poeten aus dem halbverlassenen Industriebezirk Marghera ist, scheint mir sinnbildlich für die Parabel Venedigs und seiner Linken. Die große Mehrheit der Venezianer glaubt an nichts mehr und überlebt zunehmend nach dem Prinzip: »Rette sich, wer kann.«