Wenn die friedens- und freiheitsliebenden demokratischen NATO- und EU-Staaten Rußland anklagen, diskriminieren, verketzern und mit Sanktionen belegen, dann dient ihnen vor allem die »völkerrechtswidrige Annexion der Krim« als Begründung. Die Dauerquotenerste auf der Rangliste der beliebtesten bundesrepublikanischen Politiker, unsere Kanzlerin Angela Merkel, hat die »Annexion« auf einer Pressekonferenz nach ihrer verspäteten Ehrung der im Zweiten Weltkrieg gefallenen Sowjetsoldaten und nach einem »partnerschaftlichen« Gespräch mit Präsident Wladimir Putin »verbrecherisch« genannt. Die Äußerung empört, aber überrascht nicht. Schließlich verfügt die deutsche Regierungschefin nach der Teilnahme der Bundeswehr am verbrecherischen, völkerrechtwidrigen Überfall auf Jugoslawien und am Aggressionskrieg in Afghanistan über einen reichen Erfahrungsschatz in Sachen verbrecherischer Völkerrechtsverletzungen. Keineswegs unerwartet war es auch, daß die G7-Größen im Schloß Elmau die »Verurteilung der unrechtmäßigen Annektierung der Halbinsel Krim durch die Russische Föderation« bekräftigten.
Überraschend ist allerdings die Tatsache, daß die Mehrheit der Spitzenpolitiker der Partei Die Linke bei der Einschätzung der Wiedereingliederung der Krim in die Russische Föderation zwar auf das Adjektiv »verbrecherisch« verzichtet, sie jedoch ebenfalls als »völkerrechtswidrige Annexion« betrachtet. Wenige Tage nach dem Referendum auf der Krim verurteilten die Parteivorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger »das völkerrechtswidrige Vorgehen der Russischen Föderation auf der Krim«, und eine Woche später schloß sich der Parteivorstand dieser Bewertung nahezu wortgleich an. Erstaunen muß diese Haltung umso mehr, da der historische Hintergrund, die Ergebnisse des Referendums der Krimbewohner, die russischen politisch-strategischen Beweggründe, der Ablauf und die rechtlichen Aspekte der Wiedervereinigung der Schwarzmeerhalbinsel mit Rußland zumindest unter dem Führungspersonal der Linken bekannt sein müßten.
Da es sich um das Vorgehen Rußlands handelt und dort der Satz »Повторение – мать учения« (»Wiederholung ist die Mutter der Weisheit«) äußerst populär ist, seien einige Aspekte in Erinnerung gebracht.
Erstens: Die 26.844 Quadratkilometer große Halbinsel Krim war seit den Zeiten der Zarin Katharina I., der Großen, genauer: seit 1783, integraler Bestandteil des Russischen Reiches und später der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik. Nahezu zwei Jahrhunderte lang bestritt niemand diese Tatsache. Die Konferenz in der Krimstadt Jalta, auf der Josef Stalin, Franklin D. Roosevelt und Winston Churchill die Staatsgrenzen Osteuropas nach der sich abzeichnenden Niederwerfung Hitlerdeutschlands festlegten, fand in eben dieser russischen Republik statt.
Zweitens: Erst im Februar 1954 »schenkte« der damalige Kreml-Chef, der Ukrainer Nikita Sergejewitsch Chruschtschow, wie allgemein bekannt nach reichlichem Wodkagenuß, die russische Halbinsel seinem Heimatland, der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Die Eingliederung der mehrheitlich von Russen bevölkerten Krim verstieß gegen die Verfassung der UdSSR von 1936. Sie erfolgte mit einem Federstrich, ohne Referendum. Die Krim-Bewohner erfuhren von der Entscheidung erst nach deren Vollzug durch eine Mitteilung im regierungsamtlichen Blatt Vedomosti.
Drittens: Nach der Auflösung der Sowjetunion, endgültig beschlossen am 21. Dezember 1991 in Alma-Ata, blieb die »verschenkte«, strategisch außerordentlich wichtige Halbinsel Bestandteil der nunmehr unabhängigen Ukraine. Die Rechte der Russischen Föderation auf den Flottenstützpunkt in Sewastopol wurden vertraglich abgesichert.
Viertens: Der vor allem von den USA und der BRD massiv und offen unterstützte Putsch gegen den gewählten ukrainischen Präsidenten Janukowitsch, die Machtübernahme durch russophobe, prowestliche Oligarchen im Bündnis mit starken faschistoiden Kräften und die Hinwendung der Ukraine zu EU und NATO stieß unter den Bewohnern der Autonomen Republik Krim auf Ablehnung. Das Faß zum Überlaufen brachte das in Kiew beschlossene (und später zurückgenommene) Verbot des Russischen als zweite Amtssprache, worauf das Regionalparlament unter Berufung auf das Recht auf Selbstbestimmung die Abtrennung von der Ukraine und die Durchführung eines Referendums über den Beitritt zur Russischen Föderation beschloß. In der am 16. März 2014 unter dem Schutz der auf der Halbinsel stationierten russischen Militäreinheiten stattgefundenen Volksbefragung stimmte bei einer Wahlbeteiligung von über 83 Prozent eine überwältigende Mehrheit für eine Wiedervereinigung mit Rußland. Wenig später nahm die Duma in Moskau den Vertrag zur Aufnahme der Krim in die Russische Föderation an.
Fünftens: Bei der Beurteilung der Wiedereingliederung der Krim in den russischen Staatsverband (in Moskau und Sewastopol wird nicht zu Unrecht häufig das Wort »Wiedervereinigung« verwendet) kann aus völkerrechtlicher Sicht mitnichten von einer »Annexion«, also einer gewaltsamen Inbesitznahme fremden Territoriums, gesprochen werden. Schon allein deshalb nicht, weil in dem gesamten Prozeß kein einziger Schuß fiel. Ausschlaggebend ist die Tatsache, daß die vorangegangene Sezession der Autonomen Republik Krim eine innerstaatliche Angelegenheit der Ukraine war, für die das Völkerrecht nicht zuständig ist und folglich auch nicht verletzt werden konnte. Ipso facto sind auch der per demokratischem Referendum bekundete Wunsch der übergroßen Mehrheit der Bewohner der nunmehr selbständigen Krimrepublik nach Aufnahme in den russischen Staatsverband und die danach erfolgende Zustimmung seitens des russischen Parlamentes, der Duma, ebensowenig völkerrechtswidrig. Namhafte Völkerrechtler und Juristen, darunter der Professor für Rechtsphilosophie Reinhard Merkel, haben der Behauptung, Rußland habe die Krim »völkerrechtswidrig annektiert«, entschieden widersprochen. Der Letztgenannte stellte dazu in der FAZ unmißverständlich fest: »Aber das ist Propaganda. Was auf der Krim stattgefunden hat, war etwas anderes: eine Sezession, die Erklärung der staatlichen Unabhängigkeit, bestätigt von einem Referendum, das die Abspaltung von der Ukraine billigte. Ihm folgte der Antrag auf Beitritt zur Russischen Föderation, den Moskau annahm. Sezession, Referendum und Beitritt schließen eine Annexion aus.«
Sechstens: Die nicht zu bestreitende Völkerrechtskonformität der Sezession der Krim und ihre Aufnahme in die Russische Föderation ändert allerdings nichts daran, daß, innerstaatlich betrachtet, die Sezession der Krim ein Verstoß gegen die ukrainische Verfassung war, nach deren Artikel 2 die Ukraine ein »Einheitsstaat« ist. Aber eine derartige Bewertung wirft zwangsläufig andere Fragen auf. War die Sezession der Krim nicht eine unmittelbare Folge des Staatsstreiches in Kiew, der einen schweren Verfassungsbruch darstellte? Waren die Initiierung und Unterstützung des Putsches vor allem durch Washington und Berlin nicht eine völkerrechtswidrige Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates, die laut Artikel 2, Absatz 7 der UN-Charta untersagt ist? Erinnert sei nur an die Verbrüderung des damaligen BRD-Außenministers Guido Westerwelle mit den Aufständischen auf dem Maidan, an die dort Brötchen verteilende für Europa zuständige Abteilungsleiterin des US-Außenministeriums der USA Victoria Nuland und an den stockreaktionären US-Senator John McCain, der sich mit dem Führer der nationalistischen Partei Swoboda, Oleh Tjahnybok, traf und auf dem Maidan eine Rede hielt, in der er ausrief: »Wir sind hier, weil Ihr friedlicher Protest die ganze Welt inspiriert … Die freie Welt ist mit Ihnen, Amerika ist mit Ihnen, und ich bin mit Ihnen.«
Freilich gibt es ein gern gebrauchtes Argument, um die Aufnahme der Krim in die Russische Föderation als einen völkerrechtswidrigen Akt zu betrachten. Auch Gregor Gysi benutzte es. Auf dem Berliner Parteitag der Linken im Mai 2014 führte er aus: »Die Krim zu holen war völkerrechtswidrig, auch deshalb, weil bei der Übergabe der Atomwaffen von der Ukraine an Rußland nochmal die territoriale Integrität der Ukraine vertraglich bestätigt worden ist – und zwar einschließlich der Krim.« Das klingt gut, aber das Argument hinkt. Es mißachtet den Sezessionswillen und den legitimen Wunsch der überwältigenden Mehrheit der Krimbewohner, nach dem Maidanputsch die Ukraine zu verlassen und nach Rußland zurückzukehren. Aber selbst wenn das formaljuristisch – und Gysi ist nun einmal Jurist – nicht ausreichend wäre, was aber unzutreffend ist, so geht es doch um weitaus mehr: Sollten die Einwohner der Krim, sollte Rußland fatalistisch und tatenlos zusehen, wie in absehbarer Zeit die NATO auf der Krim Fuß faßt, den strategisch außerordentlich wichtigen Stützpunkt der Schwarzmeerflotte in Sewastopol übernimmt und auch von der Krim aus ihre Raketen gegen Moskau richtet? Die Antwort muß sich jeder selbst geben. Ein altes Sprichwort könnte hier hilfreich sein: Erst wäg’s, dann wag‘s. Erst denk’s, dann sag’s. Oder man befolgt einfach Großmutters Ratschlag: Erst denken, dann urteilen, also wie die Russen sagen: Подумайте, прежде чем судить.