In diesen Tagen zieht sich die Bundeswehr aus Afghanistan zurück. Es ist allerdings nicht das erste Mal, daß deutsche Truppen nach erfolglosem Einsatz den Rückzug antreten müssen. Genau vor 100 Jahren hat eine unter deutscher Führung stehende Militärexpedition die Grenze zu Afghanistan überschritten, die Niedermayer-Hentig-Expedition, um – man glaubt es kaum – einen Dschihad zu entfachen. Ein höchst risikobehaftetes Unternehmen.
»Risiko« heißt darum auch der soeben erschienene Roman des 44 Jahre alten Schriftstellers Steffen Kopetzky, ein wegen seiner sprachlichen Virtuosität viel gelobter Autor (»Grand Tour oder die Nacht der Großen Complication«). In jahrelanger Recherche hat Kopetzky sich auf die Spuren dieser militärischen Unternehmung begeben, die im Rahmen des Ersten Weltkriegs stattfand, aber in unserer Gedächtniskultur nicht den Platz einnimmt wie manche Schlachten. Eine regelrechte Schlacht hat allerdings auch nie stattgefunden, dazu war der bunte Haufen aus Deutschen, Österreichern, Türken und für ihre Unabhängigkeit kämpfenden Indern gar nicht in der Lage. Der Plan war vielmehr, den afghanischen Emir Habibullah dazu aufzuwiegeln, seine Stämme gegen die sein Reich bedrängenden Briten im Süden und die Russen im Norden, damals in der Entente vereinigt, in kriegerische Aktionen zu verwickeln (s. Ossietzky 25/2014). Unbedingt brauchte man für eine solche Unternehmung einen muslimischen Verbündeten, die Türkei, um von dort aus über Persien in das umlagerte Afghanistan eindringen zu können. Der Pascha in Konstantinopel, obwohl an der Seite Deutschlands und Österreich-Ungarns stehend, hielt sich mit kriegerischer Handlung gegen die Entente zurück. Da machten ihm die Deutschen ein Geschenk.
An dieser Stelle setzt der Roman von Steffen Kopetzky ein. Der Autor erfindet eine Figur, die er durch all das wirre Kriegsgeschehen führen wird, den Funkobermaat Sebastian Stichnote. Der Funker tut anfangs Dienst auf der »SMS Breslau«, einem kleinen, aber damals technisch modernen Kreuzer, der vor der albanischen Küstenstadt Durazzo (Durrës) liegt, um den deutschen Prinzen Wilhelm zu Wied, 1914 für ein halbes Jahr Fürst von Albanien, zu beschützen. Als dann der Krieg ausbricht, müssen die »Breslau« und die größere »Goeben« vor der im Mittelmeer präsenten überlegenen britischen Flotte fliehen und begeben sich in die Arme des osmanischen Herrschers. Und das Geschenk sind eben diese beiden deutschen Kriegsschiffe, die von nun ab unter türkischer Flagge fahren. Daraufhin tritt die Türkei in den Krieg ein. Die Achse der Mittelmächte – deutsches, habsburgisches und osmanisches Reich – ist gefestigt.
Jetzt ist auch der Weg frei für den 5000-Kilometer-Trip von Konstantinopel bis Kabul. Allen Teilnehmern war klar, daß es eine beschwerliche Reise werden würde, aber welche ungeheuren Schwierigkeiten ihnen begegnen sollten, das übertraf jegliche Vorstellung. Hatte der Autor schon spannend dargestellt, welche Gefahren den beiden Schiffen auf der Flucht drohten, so schildert er nun in allen Einzelheiten den Kampf der Landexpedition ums nackte Überleben. Die Natur, vor allem die glühendheiße, wasserlose persische Salzwüste, ist ohne Erbarmen. Finden sie Brunnen, ist das Wasser faulig oder versalzen oder vielleicht sogar vergiftet. Die Folgen sind Krankheiten und Wahnsinn, nicht zuletzt durch Opium verursacht. Ausgemergelt, verlottert, stark dezimiert erreicht das traurige Häuflein tatsächlich Kabul, wird scheinbar freundlich empfangen, tatsächlich aber interniert. Denn der Emir denkt gar nicht daran, sich auf die unsichere Seite der Mittelmächte zu begeben. Habibullah sollte seine schwankende Politik letztlich mit dem Leben bezahlen.
Und hier verkürzt der Autor die Geschichte etwas. Im Roman ist es Sebastian Stichnote, der Ende 1915 den Emir im Auftrag von dessen Bruder Nasrullah umbringt. In Wirklichkeit wurde Habibullah 1919 ermordet. Drei Jahre zuvor aber hatte die Expedition schon ihr Vorhaben aufgegeben und Afghanistan verlassen.
So genau auch Steffen Kopetzky historische Linien verfolgt, der Autor verweist darauf, daß es sich nur um einen Roman handelt. Was heißt »nur«? »Risiko« ist ein historischer Roman, der weit über das hinausgeht, was man von einer belletristischen Historienschreibung erwartet. Und zu einem Roman, in dem ein junger Mann im Mittelpunkt steht, gehört natürlich eine Liebesgeschichte. Zu einem Roman zwischen Kriegsfronten gehört eine Agentengeschichte. Manchmal ist der Leser irritiert. Gab es die Figur nun wirklich oder ist sie ein Gespinst des Autors? Bei allem bleibt der Autor – was einen guten historischen Roman schließlich ausmacht – immer ganz dicht an der Wirklichkeit. Da ist genau recherchiert worden, da stimmt jedes Detail, von den Einrichtungen des Schiffs bis zu Botanik, Menschen, Religionen und Bräuchen der jeweiligen Region. Die Niedermayer-Hentig-Expedition, die Verfolgungsjagd im Mittelmeer sind gut dokumentiert. Bei der Lektüre einen Atlas, möglichst einen historischen, neben sich liegen zu haben ist empfehlenswert. Denn so präzise der Autor auch erzählt – um sich zurechtzufinden im historischen Wirrwarr, braucht es nicht nur den im Text vorgegebenen Leitfaden, sondern eine stabile Reling. So sehr sich Kopetzky an Fakten hält, ein Faktenhuber ist er nicht. Dazu ist er viel zu sehr dem Literarischen, ja, dem Poetischen verpflichtet. Eingestreut sind feine, kleine Wiedergaben antiker Mythologie oder paschtunischer Erzählkunst. Den spannenden Erzählstrang mögen sie aufhalten, das Buch bereichern sie.
Klappt man es nach 730 Seiten zu, dann schwirren einem die Namen, Orte, Ereignisse im Kopf herum. Es ist wie ein Déjà-vu-Erlebnis. Verlorene Kriege, verspielter Frieden. 1914/15 nahm es einen Anfang, und 100 Jahre später kein Ende. Nein, Steffen Kopetzky hat keinen »historischen« Roman geschrieben, sondern einen tief in der Historie wurzelnden, höchst gegenwärtigen.
Steffen Kopetzky: »Risiko«, Klett-Cotta, 731 Seiten, 24,95 €