»Der Wert der Pflege« – so titelt die FAZ auf Seite eins am 11. Juni. Wert der Pflege? Das kommt einem irgendwie bekannt vor. Als Anreißer dient folgendes Zitat der Autorin Lucia Schmidt: »Der ›Notstand‹ [in Anführungszeichen] in der Pflege hat nicht nur mit Geld und Macht zu tun. Es geht um Anerkennung.« Die Autorin hofft, dass die »Suche nach einer Lösung für den Pflegenotstand in Deutschland« – jetzt Notstand nicht in Anführungsstrichen – nicht länger stocken möge. Der Anlass für die Äußerung dieses Wunsches: die Kontroversen zur anstehenden Reform der Pflegeausbildung, die aufgrund der Differenzen der beteiligten Interessengruppen vorläufig vertagt wurde.
Aus Anlass der Ausbildungsreform skizziert Frau Schmidt ein Mantra, das seit Einführung der Pflegeversicherung in der öffentlichen Debatte gebetsmühlenartig wiederholt wird: Die Zahl der Pflegebedürftigen werde weiter und weiter steigen, eine nun mit einer halben Million bezifferte Anzahl von Pflegefachkräften werde fehlen, um die Menschen zu versorgen. Die finanzielle Belastung der Bürger (und wohl auch der Bürgerinnen?) werde weiter steigen, nicht aber – so die Autorin – das Gefühl, besser versorgt zu sein. Stur, wie sie halt sind, legten »Politik und Verbände« das Gewicht trotzdem auf die Beitragshöhe von Kranken- und Pflegeversicherung und stellten so einen Bezug zum Vergütungsniveau her. Frau Schmidt hingegen glaubt zu wissen, dass »die Scheu davor, in der Pflege zu arbeiten«, nicht nur mit Geld, Tarifen und Arbeitsbelastung zu tun habe. Pflegekräfte betonten doch immer wieder, sie fühlten sich »von Krankenhausleitungen, Kollegen anderer medizinischer Berufe und auch von Patienten nicht mehr wertgeschätzt«. Es gehe ihnen »ausdrücklich nicht um materielle Interessen, um ihr Gehalt, sondern um die ideelle Anerkennung ihrer Arbeit«. Dies aber ist – das wissen selbst FAZ-Leser_innen – eine von der Empirie nicht gedeckte Aussage. Frau Schmidt bringt da etwas durcheinander: Den Pflegenden ist – so belegen entsprechende Befragungen – die Minderung der Arbeitsbelastung durch ausreichende personelle Besetzung wichtiger als die Lohnhöhe, die ihnen ebenfalls nicht gleichgültig ist.
»Das Gesundheitssystem«, so fährt die Autorin fort, setze falsche Akzente. Nicht die Erwartungen »der Gesellschaft« an die Versorgung in Kliniken und Heimen bildeten den Maßstab. Klinik-Rankings setzten auf schmuck renovierte Häuser, moderne Technik. Doch all die »Insignien eines der modernsten Gesundheitssysteme der Welt« dürften nicht, wie es üblich sei, auf Kosten von Zwischenmenschlichkeit, Zuspruch und Zeit am Patienten gehen. Die Autorin beklagt: Aufwendige Diagnostik und Therapie werde geschätzt, zugewandte Pflege aber nicht.
Und sie fragt: »Warum werben Kliniken und Heime nicht damit, dass ausreichend Pflegepersonal im Einsatz ist? Dass es genügend Zeit für eine Betreuung des Patienten gibt? Warum fragen Patienten nicht nach, wie viele von ihnen auf einer Station von einer einzelnen Schwester versorgt werden? Warum nicht, wie gut diese Schwestern ausgebildet sind?« Sie beantwortet diese Fragen nicht. Hätte sie nach einer Antwort ernsthaft gesucht, wäre sie nicht auf die absurde Idee gekommen, der beklagte Notstand habe nichts mit Geld und Macht zu tun, sondern nur mit fehlender ideeller Anerkennung.
Schmidt plädiert dafür, bei der Lösung des Problems »Pflegenotstand« »gesellschaftliche« und »ethische« Kategorien »mindestens gleichrangig« zu berücksichtigen und beschwört die Tradition der »Nächstenliebe« und »Fürsorge« in der Geschichte der Pflege. Dieser Verweis deutet auf einen Bezug der Autorin zu jenen Trägern von Kliniken, Heimen und Pflegediensten hin, die in kirchlich-karitativer Tradition ihren Beschäftigten gern betriebliche Mitbestimmung, gewerkschaftliche Organisierung und Tarifverträge verweigern.
Die Autorin nimmt zur Kenntnis, dass die organisierte Pflege, Gewerkschaften und Berufsverbände diesen Pfad der Bescheidenheit und Dienstbarkeit längst verlassen haben und mehr Macht und Geld für die Berufsgruppen fordern, die sie vertreten. Die Autorin findet dies zwar nicht grundsätzlich tadelnswert. Doch möge die Pflege bitte in der Öffentlichkeit den Blick auf »Würde und Inhalt ihrer Arbeit lenken«.
Schließlich benennt sie ein Problem, das mit dem Trend zur Akademisierung der Pflegeberufe verbunden ist: Zwar sei konsequent, dass die Pflege in einem Gesundheitssystem, das auf Professionalisierung und Spezialisierung setzt, nach Akademisierung strebe. Doch am Ende – so Frau Schmidt – brauche es »Menschen, die am Krankenbett arbeiten, die füttern [sollte man nicht lieber »Essen anreichen« sagen?, U. S.], waschen, Pflaster wechseln und Tränen trocknen«. Und, liebe Frau Schmidt, würde man die Menschen, die diese auf konkrete Individuen, auf deren Leib und »Seele« bezogenen Dienste leisten, nicht nur vernünftig ausbilden, sondern auch ohne akademische Weihen angemessen entlohnen und ihnen gesetzlich fixierte Personalausstattungsstandards an ihren Arbeitsplätzen garantieren, würden sie nicht so schnell zu Berufsflüchtlingen werden, die sich vom unerträglichen Berufsalltag »fort«bilden (im Wortsinne von weglaufen) und so vermutlich einen erheblichen Teil des Fachkräftemangels erzeugen. Dies alles ist seit dem ersten sogenannten Pflegenotstand der 1970/80er Jahre hinlänglich bekannt.
Auch dass sich »persönliche Eindrücke und öffentliche Berichte über katastrophale pflegerische Zustände in Kliniken wie Heimen« häufen, stimmt so nicht. Sie häufen sich nicht. Sie sind gleichbleibend, und zwar seit mehr als einem Jahrzehnt. Der Pflegeexperte Claus Fussek führt diesen Kampf gegen Windmühlen seit Jahren. Stattdessen verkündet die FAZ-Autorin als neue Weisheit, »nicht jede unzureichende Arbeit, mangelnde Sorgfalt und mindere Qualität in der Pflege« lasse sich »– wie gerne üblich – auf Arbeitsbelastung, Schichtdienst, Bürokratie oder geringe Einkommen schieben«. »Gute Arbeit« – Schmidt greift hier eine von den Gewerkschaften konkret definierte Forderung auf – habe auch etwas »mit Einstellung zu tun, mit einem Anspruch an sich selbst, Freude am eigenen Tun« und – so schließt sich der Kreis ihres beschränkten Denkens – mit »Anerkennung von anderen«. Die Autorin zumindest spart damit nicht. Sie bescheinigt »der Pflege«, ein »unverzichtbarer, ehrenwerter Beruf« zu sein, ohne den eine »alternde Gesellschaft« nicht bestehen und alte Menschen nicht in Würde leben könnten. Ja, ja, auch das gut berentete und mit Pensionen bedachte Bürgertum altert und hat Angst vorm Heim und weiß inzwischen, dass selbst teuer bezahlte Pflege keinen menschenwürdigen Umgang im Einzelfall garantiert. Und dies wird auch der Appell von Frau Schmidt für einen »neuen Blick« auf den Pflegeberuf nicht ändern.