Manche Kinderbücher sollen Jugendbücher genannt werden und manche Bücher, die von der Kindheit erzählen, sind Romane für Erwachsene. Obwohl gute Literatur für alle gemacht und gedacht ist. Weshalb der Maxim-Gorki-Satz, »Für Kinder muss man schreiben wie für Erwachsene, nur besser«, Nonsens ist. Denn dann schriebe man für Erwachsene wie für Kinder, nur schlechter.
Im Zug sitzend, las ich ein sehr dickes, scheußlich rosafarbenes, mit Federn und Vögeln verziertes Buch. Zwei halbwüchsige Damen gegenüber kicherten. Vielleicht über mich, denn dieses Buch war ersichtlich ein Jugendbuch, wohl gar ein Jungmädchenbuch. Es hieß »Der Kuss des Raben«, und wenn ich die Autorin Antje Babendererde nicht als kluge, gut recherchierende Schriftstellerin kennen würde, griffe ich nie zu einem so ummantelten Buch. Zumal der letzte Waschzettel-Satz lautete: »Und das Wasser des Sees wusch die Liebe langsam aus ihrem Herzen.«
Ja, es geht um Liebe. Ja, es geht um ein junges Mädchen. Ja, es geht um Schulnöte und kleine Dorf-Welten. Doch jene Mila, die ein Gastschuljahr im Ort Moorstein verbringt, kommt zwar aus Tschechien, ist aber in Wirklichkeit eine Zigeunerin. Und schon verheiratet, weil das bei Zigeunern so Sitte ist. Apropos: Die Heldin hat nichts gegen den Begriff »Zigeuner«, weshalb er hier verwendet wird, auch wenn Sprachwächter stöhnen mögen.
Die Babendererde hat sich mit Indianerbüchern einen guten Namen bei ihren Leserinnen erschrieben: spannend, exotisch, realistisch, mit jenem Pfiff Utopie, der zu Liebesgeschichten gehört. Ihr vorletzter Roman spielte im Wolfserwartungsland Thüringen; Leserinnen protestierten: Wir wollen Indianer! Die Autorin blieb zunächst in ihrer Wohnheimat, jenes »Moorstein« könnte durchaus Lobenstein sein, ein Städtchen im Thüringischen Oberland. Saalfeld und Arnstadt sind nicht weit und kommen unverschlüsselt vor.
Was da mit einer zeitweilig Zugewanderten geschieht, wie sie plötzlich gleich zwei Liebhaber hat, die doch niemals beide edel und gut sein können, hat sehr viel mit unserer Zeit zu tun. Wie man sich im Ort das Maul zerreißt, zumal als ihre Herkunft, um nicht Rasse zu sagen, offensichtlich wird. Es gibt im Buch den verständnisvollen Heimleiter, die Ersatzmutter, die coole Freundin – und es gibt den klugen Raben, der ein bisschen von jenen Wundern verkörpert, die bei näher an der Natur hausenden Völkern – seien es Indianer oder Zigeuner – ganz selbstverständlich sind. Unheimliche dunkle Wasserlöcher, in Schieferbruch-Gegenden üblich, spielen mit in einer Welt zwischen klaren Grenzen und ungreifbaren Mächten. Die manchmal ganz unverhohlen kriminell agieren.
Gegenwärtige Diskussionen über ferne Religionen, Welten, Lebensweisen, über den Einbruch der Kriegsflüchtlinge in unsere Vorgärten, sind in diesem Buch ganz selbstverständlich enthalten und aufgehoben. Gute Menschen sind manchmal grausam, und die korrekten Gesetzeshüter haben gelegentlich Herzensbildung. Junge Leute, die ein solches Buch lesen – und mögen – haben die Chance, im späteren Leben nicht alles falsch zu machen.
»Eine Kindheit« untertitelt Siegfried Nucke sein viel kürzeres Buch »216 Schlüssel«. Jene Schlüssel sind von einem Dorf übriggeblieben, das leergezogen wurde. Die Kohlebagger werden es fressen. Die Jungen Jakob und Rene sind in verschiedene Richtungen fortgezogen: in eines der neuen Ersatz-Häuser im Nachbardorf der eine, ins ferne Schleswig-Holstein der andere. Denn muss man nicht ganz neu beginnen, wenn einem der Boden buchstäblich weggenommen wird?
Im verlassenen Ort gibt es auch einen, der nicht weichen will, der die Kirche vor Plünderungen bewacht und bewahrt, hier »Rassler« geheißen. Abschied vom Dorf ist der Abschied von einer Kindheit. Siegfried Nucke, Lehrer seit Jahrzehnten, weiß von Berufs wegen um die Nöte von Kindern, um ihren Wunsch zum einen nach Behausung und zum andern nach Ausbruch. »Eskimos sagen Mamantu« hieß dieses Buch als preisgekröntes Manuskript vor ein paar Jahren – da haben wir sie wieder, die sogenannten Naturvölker mit ihrem anderen Verhältnis zu Tod und Leben. Im abgebaggerten Dorf soll der Friedhof verschwinden; da gibt es dann doch einen, der versteht, warum es den Jungen Jakob schmerzt, wenn Grabsteine herausgerissen werden, wenn vergangenes Leben wüst auf einer Deponie landet.
Antje Babendererde und Siegfried Nucke haben Bücher geschrieben, die von Kindern und Jugendlichen gelesen werden dürfen. Erwachsene sollten sie lesen, wenn sie mehr wissen wollen über selige Kindheit und goldene Jugend und den Schindluder, der mit solchen Begriffen getrieben wird.
Antje Babendererde: »Der Kuss des Raben«, Arena Verlag, 496 Seiten, 17,99 €; Siegfried Nucke: »216 Schlüssel. Eine Kindheit«, Verlag Tasten & Typen, 148 Seiten, 9,99 €