5. Juli 1916. In Verdun war das industrielle Massenschlachten nach fünf Monaten abgeflaut, an der Somme tobte seit vier Tagen die britisch-französische Gegenoffensive, deren Verluste noch höher als die in Verdun werden sollten.
In Paris erscheint eine neue Wochenzeitung: Le Canard enchaîné. Untertitel: Journal humoristique. Humor im Krieg? Vielleicht ein Witzblatt, dass die Moral der Truppe stärken und Hohn und Spott auf den Feind gießen sollte? Von wegen! Die Zeitung nimmt kein Blatt vor den Mund und wird trotz »Madame Anastasie«, wie die Pressezensur genannt wird, schnell bekannt. Die zensierten Artikel werden durch weiße Felder, auf denen eine Schere abgebildet ist, gekennzeichnet. Hauptgegner ist die patriotische Jubelpresse. Lebhaftes Echo findet eine Leserumfrage, die den Häuptling des Stammes der »Schädelstopfer« küren soll. Gustave Hervé, Herausgeber der Zeitung La Victoire, wird mit 5653 Stimmen zum Sieger erklärt. Der ehemalige Anarchist hatte 1914 eine fulminante patriotische Kehrtwende vollbracht.
Eine ähnliche Wandlung machte später Georges Clemenceau, der vor dem Krieg die Zeitung L'homme libre herausgab und diese nach Kriegsbeginn und Zensur in L'homme enchaîné umbenannte. Für Maurice Maréchal, den Gründer des Canard, diente dieser Titel als Vorlage, »canard« war ein umgangssprachliches Synonym für Zeitung. Schon 1915 hatte der ehemalige Journalist des Matin versucht, seinen Canard zu lancieren, aber nach fünf Nummern ging er pleite. Dass die Neuerscheinung hundert Jahre durchhalten würde, hätte sich der Gründer wohl nicht träumen lassen.
1918, als der Krieg zu Ende war, triumphierte der Canard: »Für die Ehre des Journalismus wagten einige Mutige den Blitzen der Anastasie zu trotzen, zogen den Kampf der Pflichtlüge vor, drückten je nach Laune und Begabung einige schreckliche Wahrheiten aus, verfolgt von der Schere der Zensoren quer durch die Presse.« (Diese und alle folgenden Übersetzungen aus dem Französischen: C. Z.) Die Zensur wurde freilich noch bis 1919 beibehalten, erst im Oktober nennt sich der Canard eine kurze Zeit déchaîné, bis die Zensurschere wieder arbeitete – diesmal in den Köpfen der Journalisten. In den 20er Jahren bekam das Blatt viele satirische Konkurrenten, konnte sich jedoch gut behaupten. Der Canard ist links, dabei nonkonformistisch, hat aber auch viele Rubriken, die sich mit Kultur beschäftigen oder mit den in Frankreich so beliebten anzüglichen Wortspielen, den »contrepèteries«. Noch heute soll es Leser geben, die zuerst die Seite 7 links unten aufschlagen: »Sur l'album de la comtesse«.
1936, als erstmals ein linkes Bündnis die Wahlen gewinnt, unterstützt der Canard vehement die Volksfront: »Nach dem Bankrott der diversen reaktionären Experimente liegt nun das Vertrauen bei der Linken. Die zukünftige Regierung sollte das nutzen, indem sie dem auf dem Wege zur Besserung befindlichen Land etwas anderes als ›Dauerdiät‹ verschreibt«. Tatsächlich sind die ersten Maßnahmen vielversprechend, vor allem der bezahlte Urlaub wird von den Franzosen begrüßt. Doch bereits nach zwei Jahren ist das Linksbündnis Geschichte. Die Anzeichen für einen neuen Krieg werden deutlicher. Die Zeitung unterstützt das Münchner Abkommen, auch wenn dies als Niederlage bezeichnet wird: »Besser eine Niederlage, bei der kein Blut fließt, als ein Sieg, der eineinhalb Millionen Tote hinterlässt.« Am 5. Juni 1940 erscheint die Nummer 1249: »Wir treffen Vorkehrungen, um im Rahmen des Möglichen unseren Lesern eine bessere Aufmachung zu bieten.« Es sollte mehr als vier Jahre dauern, bis die Nummer 1250 erschien.
»Am 11. Juni 1940 waren wir dabei, diese Ausgabe des Canard vorzubereiten. Diese Nummer – nicht ganz dieselbe natürlich – erscheint nun erst heute am 6. September 1944. Ich denke, es ist nicht notwendig, dieses mehr als vier Jahre lange Schweigen zu erklären.« Maurice Maréchal war 1942 verstorben, aber viele Mitarbeiter waren wieder dabei. Einige hatten für die Vichy-Presse geschrieben, sogar für das berüchtigte Hetzblatt Je suis partout. Morvan Lebesque, der in den 60er Jahren eine der brillantesten Federn des Canard werden sollte, schrieb für die schlimmsten faschistischen Blätter während der deutschen Besatzung. Andere waren »sauber« geblieben. Die erste Nummer nach der Libération (Befreiung) war ein voller Erfolg, die Auflage lag bei 500.000. Das Wiedererscheinen des beliebten Satireblattes gab den Franzosen das Gefühl, wieder in der Dritten Republik zu leben und ließ die zwiespältige Zeitspanne zwischen Kollaboration und Résistance vergessen.
Nachdem General de Gaulle zwei Jahre provisorisch das Land regiert hatte, wird 1946 die IV. Republik ausgerufen. Für die politische Satire sind die nun ständig wechselnden Regierungen und Minister ein Problem. Zwar gibt es Skandale, aber kaum jemanden, den man festnageln kann. Dazu kommt der Kalte Krieg, der für ein nonkonformistisches Blatt wie den Canard Positionierungen fordert, die es nicht leisten kann oder will. 1953 ist die Auflage auf 103.000 Exemplare gesunken. Erst mit der Rückkehr de Gaulles und der Errichtung der V. Republik 1958 ändert sich die Lage grundlegend. Die neue Machtfülle des Staatspräsidenten verspricht Stabilität, aber auch einen neofeudalen Regierungsstil. Während die »normale« Presse und das neue Medium Fernsehen dem neuen König eher devot begegnen, kann man im Canard die Rubrik »La cour« lesen, eine satirische Hofberichterstattung im Stil des Sonnenkönigs mit Karikaturen nach Art der absolutistischen Hofmalerei.
Im Mai 1968 ist die Zeitung auf der Seite der Studenten und Gewerkschaften. Als am 30. der Generalstreik ausgerufen wird, werden dem Satireblatt in der Streikzeitung Combat vier Seiten eingeräumt. Noch einmal kann sich de Gaulle retten, erst am 27. April 1969 wird der General durch ein Referendum endgültig in den Ruhestand versetzt. Mit der Wahl von Georges Pompidou setzt der Canard seine höfische Rubrik unter dem Namen »La Régence« fort. 1971 beginnt eine neue Ära. Claude Angeli tritt in die Redaktion ein. Der Journalist war 1964 aus der KP ausgeschlossen worden und hatte zuvor für andere Zeitungen gearbeitet. Er betreibt investigativen Journalismus, veröffentlicht die Steuererklärung des Premierministers Chaban-Delmas. Später folgen weitere Skandale, die mit Fotokopien belegt werden. Der Geheimdienst beginnt, sich für die Zeitung zu interessieren. Am 3. Dezember 1973 erwischt ein Mitarbeiter als Klempner getarnte Techniker, die in den neuen Räumen der Redaktion heimlich Mikrofone installieren. Die nächste Nummer (»Watergate au Canard«) erreicht eine Auflage von einer Million. Nach dem Tod von Pompidou 1974 gewinnt Giscard d'Estaing knapp gegen den linken Kandidaten Mitterrand. Erst bei den Präsidentschaftswahlen 1981 siegt das Linksbündnis, nicht zuletzt durch die kompromittierenden Veröffentlichungen des Canard über die Diamantengeschäfte Giscard d'Estaings mit dem Diktator Bokassa.
Der sozialistische Präsident Mitterrand wird in den ersten Monaten mit Respekt bedacht. Erst 1983, als der Präsident ein drastisches Sparprogramm verkündet, wird die Zeitung kritischer. Auch die diversen Militäreinsätze sowie die Versenkung des Greenpeace-Schiffes »Rainbow Warrior« tragen zur Enttäuschung über den Hoffnungsträger bei. Ab 1986 muss Mitterrand den Gaullisten Chirac zum Ministerpräsidenten ernennen, die Linke hat keine Mehrheit mehr. Als Mitterrand 1988 die Präsidentschaftswahl erneut gewinnt, zollt ihm der Canard Respekt, aber nicht mehr dem Sozialisten, sondern dem gewieften Taktiker. Auch der Kosename »Tonton« (Onkel) wird längst nicht mehr benutzt, man spricht ironisch von »Dieu« (Gott). 1995 wird Jacques Chirac zum Präsidenten gewählt und bleibt bis 2007 im Amt. Der Canard deckt in dieser Zeit zahlreiche Affären auf, vor allem die Vergabe von Gefälligkeitsjobs an verdiente Parteimitglieder in seiner Zeit als Pariser Bürgermeister bringt ihn in Schwierigkeiten. Der Stadt waren dadurch fünf Millionen Euro Schaden entstanden, aber erst 2009, als Chirac keine Immunität mehr genoss, konnte er zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt werden.
Der nächste Präsident: Sarkozy – für den Canard ein gefundenes Fressen. Ein Egomane im Élysée-Palast der kaum ein Fettnäpfchen ausließ und zudem noch eine reiche Sängerin heiratete, der Journalisten öffentlich beschimpfte und demütigte oder die Entlassung eines unbotmäßigen Fernsehmoderators erwirkte, zog die Blitze der Satire unfehlbar auf sich. Auch das Volk ließ sich von dem glamourösen Präsidenten nicht allzu lange beeindrucken. 2012 verlor er die Wahl gegen den Sozialisten Hollande.
Der neue (und derzeitige) Präsident hatte im Wahlkampf versprochen, vieles anders zu machen und war schon in seiner Erscheinung der Gegenentwurf zu seinem Vorgänger. Der Canard war jedoch schon am Tag nach der Wahl misstrauisch, schließlich erbte Hollande einen Schuldenberg von 1700 Milliarden Euro. Neben dem Präsidenten beschäftigt sich der Canard mit den Affären der alten Regierung, vor allem mit »Bygmalion«, einer Scheinfirma, mit der Sarkozy seinen Wahlkampf finanzierte. Auch die Erfolge des Front National sind Thema. Im Frühjahr 2016 veröffentlicht das Blatt Dokumente über den Immobilienbesitz von Marine Le Pen.
Ist der Canard noch links? Es hat den Anschein, als mache die Redaktion sich wenig Illusionen, nicht nur, was die Sozialistische Partei betrifft. Auch über Jean-Luc Mélonchon, den Kandidaten der Linken, wird gespottet. Das investigative Moment ist in den Hintergrund getreten, einzig Claude Angeli, bis März 2012 Chefredakteur, liefert im hohen Alter von fast 85 regelmäßig seine brisanten Artikel, deren Informationen er von Kontakten aus dem Militär, der Diplomatie und der Polizei bezieht. Ob er einen Nachfolger findet?
Etwa 81 Mitarbeiter zählt der Canard, und die Bezahlung ist großzügig. Das mittlere Gehalt liegt bei monatlich 3750 Euro, außerdem drei zusätzliche Monatsgehälter und eine Prämie. Eine Übernahme der Zeitung – durch wen auch immer – verhindert ein System kunstvoll verschachtelter Besitzverhältnisse. Geld ist reichlich vorhanden, 2008 lagen die Reserven bei 81,7 Millionen Euro.
Im seinem 100. Erscheinungsjahr ist der Canard immer noch wirtschaftlich gesund. Wenn man sich die Bilanz anschaut, die das Blatt jeweils in der letzten Augustnummer für das Vorjahr veröffentlicht, wird ersichtlich, dass die Auflage im Jahr 2014 bei 389.567 verkauften Exemplaren lag, der Reingewinn bei 2.395.972 Euro. Ein stolzes Ergebnis, und dies nach wie vor ohne Werbeeinnahmen und bei einem seit 24 Jahren konstanten Preis von 1,20 Euro. Eine Internetausgabe sucht man bis jetzt vergeblich. Wer den Canard im Web sucht, findet lediglich die aktuelle Seite 1 als Faksimile, auf dem aber nur die Schlagzeilen zu erkennen sind. Und eine ausführliche Erklärung, weshalb es eben keine Internetausgabe gibt: »Unsere Aufgabe ist es, unsere Leser zu informieren und zu unterhalten, und zwar mit Zeitungspapier und Tinte. Eine schöne Aufgabe, die unsere Belegschaft voll und ganz in Anspruch nimmt.«
Le Canard enchaîné hat sicher nicht mehr die Bissigkeit der 70er und 80er Jahre, doch wer hat schon mit hundert noch alle Zähne? Seine Einzigartigkeit und seine Tradition schützen ihn vor jeglicher Konkurrenz, und eine Regierung, die die Ente verbietet, ist vorerst nicht in Sicht. In dem Sinne: Bonne anniversaire!