Es wird häufig vom Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung gesprochen. Doch meist ist lediglich die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen gemeint, wie sie inzwischen von vielen Staaten und internationalen Organisationen anerkannt wird, die jedoch weit davon entfernt ist, ein Menschenrecht zu sein. Es gibt einen gravierenden Widerspruch zwischen der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen und einem Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung.
Die Europarat-Konvention von 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sagt in Artikel 4: »(1) Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden. (2) Niemand darf gezwungen werden, Zwangs- oder Pflichtarbeit zu verrichten. (3) Als ›Zwangs- und Pflichtarbeit‹ im Sinne dieses Artikels gilt nicht [...] jede Dienstleistung militärischen Charakters, oder im Falle der Verweigerung aus Gewissensgründen ... eine sonstige anstelle der militärischen Dienstpflicht tretende Dienstleistung.«
Sklaverei, Leibeigenschaft und Zwangsarbeit sind verboten, aber nicht wenn es um Militär geht.
Es ist üblich geworden, das Recht auf Kriegsdienstverweigerung nicht vom Recht auf Leben und Freiheit, sondern von der Gedanken-, Religions- oder Gewissensfreiheit abzuleiten. Wenn nur diejenigen, die sich auf Gewissensgründe berufen, den Kriegsdienst verweigern dürfen, ist dies ein Ausnahmerecht für Menschen mit einer bestimmten Motivation, kein Menschenrecht für alle.
In der Gewissensprüfung, wie sie in der Bundesrepublik Deutschland üblich geworden ist, wird wegen Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen anerkannt, wer aufgrund seiner oder ihrer gewissensbedingten Persönlichkeit im Rahmen des Militärdienstes nicht töten kann, ohne schweren seelischen Schaden zu erleiden. Es geht also keineswegs darum, ob jemand Militärdienst leisten will, sondern darum ob er Militärdienst leisten kann, letztendlich nichts anderes als eine weitere Variante der Untauglichkeit, zusätzlich zur Untauglichkeit aus medizinischen Gründen.
Wenn der freie Wille des Individuums als irrelevant eingestuft wird, ist es auch konsequent, wenn andere darüber befinden, ob eine Gewissensentscheidung vorliegt. Zum Musterungsausschuss gesellt sich der Gewissensprüfungsausschuss.
Die zentralen Elemente des Konzepts der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen sind: keine Infragestellung staatlicher Zwangsrekrutierung zum Krieg; Einschränkung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung auf das Vorhandensein einer Überzeugung; Überprüfung dieser Überzeugung, zum Beispiel durch Gewissensprüfung; Zwang zum Ersatzdienst für Militärdienstverweigerer sowie Strafen in Fällen von Totalverweigerung oder Dienstverweigerung nach Nichtanerkennung.
In der frühen Neuzeit wurde Gläubigen gewaltfreier christlicher Sekten Kriegsdienstverweigerung als Ausnahmeregelung zugestanden. Bis heute sollen Verweigerer diesem Bild entsprechen, nicht nur in der staatlichen Gewissensprüfung. Die Kriegsdienstverweigerungsbewegung proklamiert das »Recht, das Töten zu verweigern«, aber nicht das Recht, nicht getötet zu werden. Selbstverständlich wollen Kriegsdienstverweigerer nicht töten und nicht dazu abgerichtet werden. Doch wer so tut, als ob sein eigenes Leben nicht erwähnenswert sei, muss unglaubwürdig wirken, falls er nicht zur verschwindend kleinen Minderheit gehört, die wirklich so empfindet. Verweigerer werden genötigt, nur die vom Staat anerkannten Gründe anzugeben, auch wenn für sie andere Motive wichtiger sind. Auch das mindert ihre eigentliche Glaubwürdigkeit.
Man erwartet von Kriegsdienstverweigerern, dass sie ähnlich wie leidensbereite christliche Sektierer Nachteile auf sich nehmen und einen unter Umständen längeren und absichtlich unbequemen Ersatzdienst leisten. Würde Kriegsdienstverweigerung als Menschenrecht betrachtet, wäre es abwegig, Menschen für dessen Inanspruchnahme zu bestrafen.
Gewissensfreiheit ist bezüglich Kriegsdienstverweigerung keineswegs wertlos. Bei Appellen an Regierungen ist es nötig, sich aufs geltende Recht und vereinbarte internationale Normen zu berufen, also auf das beschränkte Recht der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen. Für Berufssoldaten und -soldatinnen ist sie ein Weg aus dem Militär.
Menschenrechte sind Rechte, die jedem Menschen zustehen – unabhängig von Beruf, Religion, Kultur, Hautfarbe, Geschlecht, Weltanschauung oder Herkunft. Ein Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung, abgeleitet aus den Rechten auf Leben, körperliche Unversehrtheit und persönliche Freiheit, müsste also allen Menschen zustehen, ohne Diskriminierung nach Persönlichkeitsmerkmalen oder Überzeugungen sowie ohne Auferlegung von Musterung, Gewissensprüfung, Ersatzdienst oder anderen Strafen.
Pazifismus, so wie er meist verstanden wird, richtet sich nicht nur gegen Krieg, sondern gegen physische und strukturelle Gewalt sowie Menschenrechtsverletzungen. Die Beschränkung des Kriegsdienstverweigerungsrechts auf Gewissensgründe führt zu Zwangsmusterungen, Gewissensprüfungen, Zwangsersatzdienst, zu Militärdienstzwang oder Haft für nicht anerkannte Verweigerer sowie zur Diskriminierung nichtreligiöser Verweigerer. Dieses beschränkte Verweigerungsrecht kann nicht viel mehr sein als eine humanitäre Erleichterung für diejenigen, die anerkannt werden, denen Gefängnis oder Schlimmeres erspart bleibt.
Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen bleibt zwangsläufig ein Ausnahmerecht für Menschen mit einer bestimmten Motivation oder einer bestimmten Persönlichkeit. Damit wird garantiert, dass es immer andere geben wird, die ins Militär gezwungen werden können. Eine solche Personalbestandsgarantie fürs Militär kann aus pazifistischer Perspektive nicht erstrebenswert sein. Wer die Abschaffung von Krieg und Militär als Ziel hat, kann nicht wollen, dass auch nur eine einzige Person, egal wie gewissensmotiviert oder gewissenlos sie ist, Militärdienst leistet.
Wer Krieg und Militär ablehnt, muss sich konsequent für das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung einsetzen. Das allein wird nicht den Frieden bringen, ist aber eine unabdingbare Voraussetzung.
Gernot Lennert ist Landesgeschäftsführer der Deutschen Friedensgesellschaft –Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK) Hessen.
Weiterführende Literaturempfehlungen: Gernot Lennert: »Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen und Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung: Ein Widerspruch« in: Wolfram Beyer (Hg.): »Kriegsdienste verweigern – Pazifismus aktuell. Libertäre und humanistische Positionen«, Oppo-Verlag, 2011, S. 50-79; Gernot Lennert: »Kriegsdienstverweigerung als Menschenrecht« in: Wolfram Beyer (Hg.): »Menschenrechte und Pazifismus«, IDK, 2016, S. 24-29