Unsere Gegenwartsgesellschaft über die Verbrechen des deutschen Faschismus aufzuklären ist und bleibt eine unabdingbare Konstante demokratischen Selbstverständnisses. Dabei geht es im Jahre 2017 nicht mehr allein um die wissenschaftlich zu leistende Detailforschung zu faschistischen Denkhaltungen, die Dokumentation von Belegen oder die Systematisierung von Wissen.
Neue Generationen von Staatsbürgern wachsen heran, Kinder und Jugendliche werden – ob in der Schule oder im Privaten – mit dem Thema konfrontiert. Sie müssen die Chance erhalten, die entgrenzte Bösartigkeit des Nazireiches als eine kolossale ethisch-moralische Fehlleistung unserer Vorfahren in der jüngeren Geschichte zu begreifen, müssen mit einem gesellschaftlichen Grundkonsens der Ablehnung von Rassismus und Angriffskriegen leben können um zu verstehen, dass das Nazireich nicht einfach nur vom Himmel fiel. Politiker und gesellschaftliche Institutionen müssen ihnen verdeutlichen, dass sich derartige Entwicklungen unter heutigen, globalisierten Bedingungen durchaus auf andere Arten wiederholen können. Dies gilt gerade auch dann, wenn Parteien wie NPD und AfD, wenn Pegida, Reichsbürger, Identitäre und ein immer amorpher wirkendes Spektrum an Neuen Rechten darum bemüht sind, die Befindlichkeiten von Teilen der bundesdeutschen Öffentlichkeit zu Fragen der Flüchtlingspolitik, der europäischen Idee oder der demokratischen Teilhabe für ihre Ziele zu instrumentalisieren.
Dies mag auch Paul Spies, der neuberufene Direktor des Märkischen Museums in Berlin, so empfunden haben, als er die Idee hatte, eine Ausstellung zum Thema »Berlin 1937 – im Schatten von Morgen« auszurichten. Leitgedanke war wohl zum einen die kalendarisch passende Erinnerung an das vergleichsweise »ruhige«, nun achtzig Jahre alte Vorkriegsjahr. Zum anderen jedoch intendierte man die möglichst authentische Darstellung des Alltagslebens der Berliner Bevölkerung unter dem Hakenkreuz und die damit verbundene Frage, welche Kontinuitäten im Alltagsleben aus Kaiserreich und Weimarer Republik bestehen geblieben waren und welche Akzente die Nazis bereits unwiderruflich implementiert hatten. Seit Anfang Mai kann man nun betrachten, lesen oder hören, was der Museumsdirektor und sein Team zusammengetragen haben, diesem Anspruch zu genügen. Um es vorweg zu nehmen: Ein Ausstellungsbesuch lohnt sich durchaus, der Erwerb des Ausstellungskataloges mit gleichem Titel ebenfalls. Dass dabei die typische deutsche Museumsdidaktik einer etwas schwerfälligen Aneinanderreihung von Objekten, Texttafeln und Hörbeispielen beibehalten wurde, sollte angesichts der thematischen Fülle nicht problematisiert werden. Die gezeigten Exponate vermitteln kein quantitatives Konzept, also eine möglichst große Anzahl an Alltagsgegenständen als historische Belege eines damaligen Durchschnittslebens zwischen Wedding und Wannsee wirken zu lassen. Die Artefakte, von der Winterhilfswerk-Sammelbüchse bis hin zum silbernen Besteck aus dem »Haus Vaterland«, von den SS-Runen auf einer Schreibmaschine zu einem Telefunken-Außenlautsprecher sind vielmehr eingebettet in die jeweiligen Kontexte: In welchem Maße waren die ehemaligen Gewerkschaften nun in der »Deutschen Arbeitsfront« gleichgeschaltet, wie wirkte Goebbels Propaganda auf das Proletariat und die Angestellten und welche Spitzelberichte bestätigten oder relativierten das Bild von einer auf den »Führer« eingeschworenen
»Volksgemeinschaft«?
Das Jahr 1937 wurde von vier ganz unterschiedlichen Geschehnissen geprägt, welche die Berliner Bevölkerung als »historische Momente« wahrnehmen sollte: Der Berlin-Besuch des italienischen Faschistenführers Mussolini, die erste kriegsvorbereitende Luftschutzübung im Berliner Zentrum, Hitlers Wanderausstellung »Gebt mir vier Jahre Zeit« in den Messehallen am Funkturm und die historisch auf eher wackligen Füßen stehende Festschreibung einer 700-jährigen Geschichte Berlins mitsamt der damit verbundenen 700-Jahr-Feier. Und genau hier nun liegt die konzeptionelle Krux der Ausstellung: Sicher ist die aus heutiger Sicht symptomatische Passgenauigkeit dieser von den Nazis instrumentalisierten Ereignisse verlockend. Doch lediglich die Luftschutzübung mit simulierten Bomberangriffen auf die »Reichshauptstadt« und die Ausstellung zu Hitlers vorgeblichen Sozial- und Wirtschaftsleistungen im Rahmen seines »Vierjahrplanes« haben tatsächlich das Potential, die perfide Demagogie der faschistischen Machthaber für die Besucher der Ausstellung zu kontextualisieren. Dies geschieht jedoch leider nur unzureichend. Der Grund für diese Unwucht in der Erklärung ideologischer Wirkungsmechanismen liegt in der zentralen Fragestellung der Ausstellungsmacher an sich, nämlich: »Wie deutlich war der verbrecherische Charakter des Systems schon vor Krieg und Holocaust erkennbar?« (Zitat aus dem Ausstellungsflyer). Nun, er war eben schon seit dem Erstarken der Nazis in den zwanziger Jahren erkenn- und erlebbar, wurde in den Morden an politischen Repräsentanten der Weimarer Republik, an den Vertretern der demokratischen Öffentlichkeit, an Kommunisten, Sozialdemokraten und Christen unmittelbar nach der Machtübernahme der Nazis im Januar 1933 offensichtlich und veranlasste schließlich auch die sofortige Emigration oder schärfste Verfolgung tausender Regimegegner. Dass Mitbürger jüdischer Herkunft doppelt gefährdet waren, wenn sie in der Frühphase des NS-Regimes in den Ruch politischer Feindschaft zum Regime gerieten, Jahre vor der systematischen Vernichtung des europäischen Judentums also, versteht sich angesichts des virulenten Antisemitismus der Faschisten von selbst. So sind es eher die versteckten Hinweise auf den organisierten oder individuellen Widerstand gegen das Regime, die es in den ausgestellten Schrift- oder Tondokumenten zu entdecken gilt. Da ist der Aufruf der illegalen KPD-Führung, auch für die verfolgten Christen einzutreten und ein gemeinsames Widerstandsnetzwerk mit ihnen zu knüpfen, da ist der Bericht des Gestapo-Spitzels über »judenfreundliche« Kommentare der Besucher des Sechs-Tage-Rennens, da sind die Memoranden der in der Tschechoslowakei operierenden SPD (Sopade), die über die durchaus vorhandenen Ängste und die breite Einschüchterung der Berliner Bevölkerung Auskunft geben. Und so findet sich im Gästebuch neben vielen lobenden Kommentaren auch der Eintrag eines Besuchers aus Berlin-Mitte, der die Nichterwähnung des kommunistischen Widerstandes zumindest »merkwürdig« findet.
Nicht merk-, sondern denkwürdig ist die konzeptionelle Schwäche der Ausstellung, sich gegen eine ansonsten durchaus übliche Einbettung einzelner Phänomene in die historischen Begleitumstände vor und nach der darzustellenden Episode (hier die Ereignisse des Jahres 1937) entschieden zu haben. Gerade für das seit der Kaiserzeit als »rote Hochburg« geltende Berlin wäre ein Verweis auf den unglaublichen NS-Terror gegen Berliner Kommunisten, Sozialdemokraten oder andere Berliner Bürger ein Muss gewesen.
Sicher wäre es falsch, das Resultat dieser Art historischer Annäherung an den Alltag unterm Hakenkreuz als irreführend zu bezeichnen, und man täte Direktor Spies und seinen MitarbeiterInnen unrecht, ihren Ansatz als misslungen zu bezeichnen. Und doch bleibt ein Unbehagen, wenn man der Fülle des eher belanglosen Bildmaterials zum Mussolini-Besuch oder zur 700-Jahr-Feier gewahr wird und sich dabei vorstellt, dass andere Exponate wie Schulbücher, Kriegsspielzeug, HJ- und BDM-Utensilien etwa, im Original überlieferte Dokumente zur Blutjustiz der Nazis oder Propagandaplakate an ihrer statt hätten treten können. Selbst ein Verweis auf die augenfällige Manifestation der Bauhausästhetik in der Gestaltung des Hitlerplakates zu seiner Wanderausstellung wäre aufschlussreicher gewesen als der Hinweis auf das neuartige Plastikmaterial einer ausgestellten Butterdose. Neben dem präsentierten Radioapparat und dem begleitenden Verweis auf sogenannte Rundfunkverbrechen hätten die unmittelbar nach 1937 einsetzenden Urteile des Volksgerichtshofes für das Abhören von »Feindsendern« dokumentiert werden können. Statt auf die »handwerklich sorgfältige« Renovierung der Lindenoper hinzuweisen, wäre ein Vergleich der Repertoires vor 1933 mit den Aufführungen des Jahres 1937 anschaulicher gewesen, um den kulturellen Niedergang während der Nazizeit zu illustrieren. Denn: Warum sollten Handwerker in der Hitlerzeit weniger sorgfältig gearbeitet haben als schon in der Weimarer Republik?
Für verkappte Sympathien mit den vorgeblichen Errungenschaften des Nazireiches, für einen von manchen Zeitgenossen immer noch vorstellbaren Flirt mit dem »Führer« und seiner »Wirkmächtigkeit« auf alle Bereiche des damaligen Lebens sind die ausgehenden Signale von »Berlin 1937 – Im Schatten von morgen « dann glücklicherweise nicht ambivalent genug. Doch zeigt die noch bis zum 14. Januar 2018 geöffnete Ausstellung in geradezu beklemmender Weise, wie schwierig der eingangs erwähnte Umgang mit dem faschistischen Erbe gerät, wenn man sich das Ziel setzt, die Wirkung der Naziherrschaft auf das damalige deutsche Volk in einen heute notwendigen Diskurs der Aufklärung zu kleiden. Es ist zu hoffen, dass angesichts des gegenwärtigen Erstarkens nationalistischer und autoritärer Strömungen unseren Nachkommen in achtzig Jahren eine Ausstellung wie etwa »Europa 2017 – im Schatten des Gestern« erspart bleiben wird.
»Berlin 1937. Im Schatten von morgen« bis 14. Januar 2018 im Märkischen Museum, Am Köllnischen Park 5, 10179 Berlin, Öffnungszeiten Dienstag bis Sonntag 10 bis18 Uhr