Im Verlag Friedrich Pustet erschien das Buch »›Die Firma ist entjudet‹. Schandzeit in Regensburg 1933–1945« von Waltraud Bierwirth. Die in Regensburg lebende Autorin befasst sich darin erneut mit einem »vergessenen« Kapitel der Stadtgeschichte: der »Arisierung« jüdischen Eigentums während der NS-Zeit. Denn: »Unmittelbar nach dem Krieg listete das Finanzamt Aschaffenburg penibel auf, wieviel der Fiskus den Juden der Stadt geraubt hatte. … Etliche Städte verfuhren ähnlich. In Regensburg erfolgte keine Aufstellung zur Höhe des geraubten jüdischen Vermögens.«
Bierwirth kann das Versäumte nicht nachholen. Aber sie gibt anhand zahlreicher Einzelfälle eine Vorstellung vom Ausmaß des Raubs. Und von den Folgen: »Der wachsende Kreis der ›arischen‹ Nutznießer und Profiteure hatte großes Interesse daran, nie mehr von jüdischen Eigentümern in Regress genommen zu werden. Das machte sie zu Komplizen des NS-Systems, korrumpierte sie moralisch und ließ sie wegschauen bei den Juden-Deportationen.«
Die Studie beginnt mit einem Abriss der Entwicklung der Jüdischen Gemeinde Regensburg zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Namen und Adressen, verwandtschaftliche Beziehungen, Funktionen in kommunalen Einrichtungen, gesellschaftliches Engagement werden genannt. Auch der schon in den Jahren vor 1933 zunehmende Antisemitismus.
Der erste Hauptabschnitt (»Jüdisches Leben unter dem Hakenkreuz bis 1938«) reicht von der Amtseinsetzung des überzeugten Nationalisten und Rassisten Otto Schottenheim als Oberbürgermeister und dem Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933 bis zum Ausschluss der jüdischen Viehhändler vom städtischen Schlachthof im November 1936.
Der zweite Teil ist den Ereignissen der Pogromnacht (9./10. November 1938) und des darauffolgenden Tages gewidmet. An diesem 10. November wurden 70 bis 80 jüdische Männer aus Regensburg ins KZ Dachau deportiert, nachdem ein Großteil von ihnen durch die Stadt getrieben und auf sadistische Weise gequält und gedemütigt worden war. Auch hier nennt die Autorin stets die Verantwortlichen und die Beteiligten beim Namen.
Der dritte Hauptabschnitt (»Regensburg arisiert«) bildet den Kern der Untersuchung. Es gelingt Waltraud Bierwirth, den Raub jüdischen Vermögens sowohl durch den Fiskus als auch durch gierige Schnäppchenjäger anschaulich zu machen. Fall um Fall erstattet sie Bericht: über die »Sühnezahlung« von 100 Millionen Reichsmark, die die deutschen Juden für die Schäden zahlen mussten, die ihnen in der Pogromnacht angetan worden waren, über das Verbot jeder »jüdischen« Geschäftstätigkeit ab dem 1. Januar 1939, über die erzwungenen Verkäufe, über »Vermögensabgabe« und »Reichsfluchtsteuer«, über die Einfrierung des verbliebenen Restes von Verkaufserlösen auf Sperrkonten, so dass die zum Verkauf Gezwungenen keinen Pfennig davon für persönliche Bedürfnisse oder zur Auswanderung nutzen konnten, über die Einziehung der Konten, sobald die nominellen Inhaber sich außerhalb des Reiches befanden, deportiert in die Vernichtungslager. Aus einem Kapitel Regensburger Stadtgeschichtsschreibung wird auf diese Weise eine exemplarische Darstellung der Stufen der Judenverfolgung in Deutschland während der NS-Zeit und der Rolle, die die Finanzbürokratie dabei spielte.
Immer verbindet Bierwirth akribische Sorgfalt bei der Schilderung der bürokratischen Abläufe mit großem Einfühlungsvermögen in die menschlichen Tragödien, die für die Betroffenen damit verbunden waren.
Am Ende des Raubzuges steht der fabrikmäßige Mord in Auschwitz, Sobibor, Belzec, Treblinka … Die erste große Deportation aus Regensburg fand am 4. April 1942 statt. Dem Abschnitt hierüber stellt Bierwirth ein kurzes Kapitel über den ab 1940 verübten Mord an jüdischen und anschließend auch an nichtjüdischen Psychiatriepatienten voran. Denn in den Tötungsanstalten des »Euthanasie«-Programms vollzog sich »der Vorlauf und die technische Erprobungsphase für die ›Endlösung‹ in den Vernichtungslagern in Polen«.
Bei ihren Recherchen stieß die Autorin in einer Außenstelle des Staatsarchivs Nürnberg auf einen Zufallsfund: knapp 20 Seiten über die Verfolgung und Deportation von 36 Sinti und Roma aus dem Zuständigkeitsbereich der Gestapo Regensburg. knapp 20 Seiten über die Verfolgung und Deportation von 36 Sinti und Roma aus dem Zuständigkeitsbereich der Gestapo Regensburg. Material über einen »blinden Fleck« in der regionalen NS-Geschichte. Bierwirth ist nicht diejenige, die einen solchen »blinden Fleck« einfach auf sich beruhen lässt. Ein knapper Exkurs über die Deportation der Sinti und Roma erinnert daran, dass an dieser nationalen Minderheit ein ähnlicher Völkermord verübt wurde wie an den Juden.
Und nach dem Krieg? Mit Blick auf die Beamten der NS-Vermögensverwaltungsstellen stellt Bierwirth fest: »Wie alle durchliefen auch sie die Entnazifizierungsverfahren und verwiesen in der Befragung auf die NS-Politiker und deren Gesetze. Im Oberfinanzpräsidium Nürnberg mussten zunächst 20 der 30 höheren Beamten ihren Stuhl räumen. In den späten 40er Jahren waren sie wieder in ihren alten Funktionen. In Regensburg war es Steueramtmann Ilmseher, der … in seiner Kartei den Vermögensentzug von 214 Regensburger Juden bis in die letzten Kriegsjahre dokumentiert hatte. Bei der Restitution in der Nachkriegszeit lag die ›Buchführung‹ erneut in seiner Hand. Die ausgefüllte Kartei über das geraubte Vermögen war jedoch verschwunden.«
Ist das alles noch interessant? Seit Anfang der 1990er Jahre ist die Jüdische Gemeinde Regensburg, hauptsächlich durch Zuzug aus osteuropäischen Ländern, von rund 200 auf mehr als 1000 Mitglieder angewachsen. Der bislang genutzte Gemeindesaal reicht nicht mehr aus. Ein neues Gemeindezentrum einschließlich Synagoge wird gebaut. Reicht das, um ein spannungsfreies Zusammenleben alteingesessener Regensburger und neu zugewanderter jüdischer Gemeindemitglieder zu ermöglichen? Die Zuwanderer werden sich mit der jüdischen Geschichte ihrer neuen Heimat beschäftigen, und sie werden danach fragen, wie die Alteingesessenen sich mit dieser Geschichte auseinandergesetzt haben. Hat es eine selbstkritische Reflexion darüber gegeben? Waltraud Bierwirths Studie fordert die Regensburger Stadtgesellschaft heraus: Will sie weiterhin den Mantel des Vergessens über die Ereignisse von damals breiten und fragenden Blicken der neuen Mitbürger ausweichen? Oder will sie offen auf die Neuen zugehen und Haltung zeigen? Waltraud Bierwirth ist zu danken, dass sie das Thema angepackt hat.
Waltraud Bierwirth: »›Die Firma ist entjudet‹. Schandzeit in Regensburg 1933–1945«, Verlag Friedrich Pustet, 208 Seiten, 19,95 €