Wenn die zierliche Frau mit einem Korb voller Einkäufe vorbeiradelte, ahnte wohl keiner, dass unter den Lebensmitteln Botschaften für die italienischen Partisanen, ja sogar Waffen, versteckt waren. Sie wusste, dass ihr sofort die Erschießung drohte, würde man sie entdecken. Jenny Wiegmann-Mucchi, eine Deutsche, die man in Italien »Genni« nannte, war eine Bildhauerin nicht nur von großen handwerklichen Fähigkeiten, sondern auch von außergewöhnlichen künstlerischen Qualitäten. »Genni« wurde ihr Künstlername. Ihr ist eine Ausstellung in der Zitadelle von Spandau gewidmet.
1895 in Spandau geboren und aufgewachsen, studierte sie 1914 bis 1917 an der Levin-Funke-Schule bei Lovis Corinth in Berlin, später in München und dann an der Kunstgewerbeschule in Charlottenburg. Mit ihrem Studienfreund Berthold Müller-Oerlinghausen, ihrem ersten Mann, unternahm sie Reisen nach Norditalien. Bei einem Aufenthalt in Rom lernten sie den Architekten und Maler Gabriele Mucchi kennen. Fortan arbeitete Jenny mit diesem Künstler zusammen, beide nahmen an zahlreichen Ausstellungen teil. Reisen führten sie nach Spanien und Italien. Ab 1931 lebte Jenny in Paris und traf sich dort mit bedeutenden italienischen Künstlern, die damals in Paris arbeiteten. Für die Triennale in Mailand schuf sie eine große Figur, »Mädchen in der Sonne«. Nach der Heirat mit Mucchi lebten und arbeiteten beide ab 1934 in Mailand. Ihr Freundeskreis vergrößerte sich um den Maler Renato Guttuso und andere. Die Wohnung in der Via Rugabella wurde zum Treffpunkt antifaschistisch gesinnter Künstler, die 1938 die Gruppe »Corrente« bildeten. Jenny war von 1943 bis 1945 im italienischen Widerstand aktiv. Auf der Weltausstellung in Paris 1937 erhielt sie eine Goldmedaille für den weiblichen Akt »Le ciel est triste et beau« (Der Himmel ist traurig und schön). Bomben zerstörten 1943 das Atelier in Mailand. Ab 1955 arbeitete Jenny abwechselnd in Mailand und Berlin. Dort verfolgte sie die Entwicklung der geteilten Stadt. Im Katalog ist zu lesen: »Auf Grund ihrer Erfahrungen des kommunistischen Widerstands überrascht es nicht, dass sie sich zur Deutschen Demokratischen Republik bekannte, von der sie sich eine grundlegende Erneuerung der Gesellschaft auf dem eingeschlagenen Weg zum Sozialismus versprach.« (Klaus Voigt, Historiker) In Berlin verband sie eine Freundschaft mit den Bildhauern Waldemar Grzimek, René Graetz und Fritz Cremer. Zu ihrem Freundeskreis gehörten aber auch jüngere Bildhauerinnen wie Sabina Grzimek und Emerita Pansowová, Maler und Grafiker. Auf der V., VI. und VII. Kunstausstellung der DDR in Dresden war sie vertreten. 1969 vollendete sie ihre letzte Arbeit, die »Schwimmerin«. Am 2. Juli 1969 starb sie in Berlin-Buch. 1970 gab es eine große Gedächtnis-Ausstellung im Alten Museum in Berlin.
Und nun ist eine umfassende Schau in den neuen Galerieräumen der Alten Kaserne auf der Zitadelle in Spandau zu sehen. In Vitrinen geben Dokumente und Fotos Auskunft über Stationen ihres Lebens und Schaffens. 85 Skulpturen in unterschiedlichsten Materialien erwarten den Besucher. Zur Eröffnung waren viele Gäste gekommen. In den Ansprachen vermissten wir Informationen über Jennys aktiven Einsatz im Widerstand gegen den Nazi-Terror. Im ausgezeichneten Katalog gibt es jedoch ein Grußwort von Luigi Reitani, dem Leiter des Italienischen Kulturinstituts zu Berlin, der diese Leistungen würdigt.
In den frühen Schaffensjahren Jenny Wiegmann-Mucchis entstanden vorwiegend Arbeiten zu religiösen Themen, zum Beispiel das Steinrelief »Der Sonnengesang des Hl. Franziskus« an der Fassade von St. Elisabeth in Hagen oder die »Sonnentür« und die »Palmentür« in der Verkündigungskirche in Nazareth, beide als Treibarbeiten in Kupfer. Die ersten Arbeiten zeigen – wie im 1933 entstandenen »Mädchen in der Sonne« – einen der archaischen Plastik nahen Frauentyp. Der Duktus ist herb, aber zugleich weich. Der Kunsthistoriker Fritz Jakobi bezeichnete ihren Stil treffend als »lyrisch-expressiven Realismus«.
Vor der Geschäftsstelle der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde (GBM) in der Weitlingstraße im Stadtbezirk Lichtenberg konnte man bis vor wenigen Monaten Jennys Plastik »Terra II«, die Kraft der Erde, bewundern: Ein fast lebensgroßer, sitzender Frauenakt, die Beine angewinkelt, umfasst mit beiden Händen das linke Knie. Er strömt Kraft, Ruhe und Mütterlichkeit aus. Oft wurde diese Plastik von Kindern liebkost, manchmal lag eine Blume in ihrem Schoß, sie wurde im Kiez von den Menschen angenommen. Jetzt ist sie in Spandau zu sehen.
Die Werke von Jenny sind dem Geist Ernst Barlachs und Käthe Kollwitz‘ nahe. Ihr »Schwebender Engel« ähnelt dem Barlachschen nicht. Er geht von einer anderen Auffassung aus. Trotz ihrer scheinbar starren Form zeigen die Skulpturen der Künstlerin eine sensible Beweglichkeit. Sie ist eine konsequente Realistin. Die sie noch kannten, bezeichnen sie als kultiviert, sensibel, willensstark, entschlossen und ohne Eitelkeit. So schrieb Filippo De Pisis in einem Vorwort: »… sie ist menschlich und sie erfasst uns auf Grund ihrer Strenge … und auf Grund ihrer fast kindlichen Reinheit.« Spielende Kinder stellte Jenny in einer Haltung dar, als wollten sie sich gerade bewegen. Ihr kraftvoller »Partisan« begrüßt uns mit erhobener Hand, fordert uns zum gemeinsamen Handeln auf, versinnbildlicht Zuversicht und gleichzeitig Verletzlichkeit.
In Bologna steht das »Denkmal der gefallenen Partisanen« mit fünf gigantischen Gestalten von Jenny Wiegmann-Mucchi. Die neun Meter hohe Konstruktion des Architekten Piero Bottoni ist ein sich nach unten verjüngendes Ringgrab. Es lässt den Betrachter winzig erscheinen. Auf dem Rand stehen die heftig gestikulierenden, in Kupferblech getriebenen Partisanenfiguren. Nach der katholischen Version steigen die im Widerstand Gefallenen in den »Ruhmeshimmel« auf. Eine andere Auffassung meint mit dieser architektonischen Form einen Absturz nach dem Tod. Hier haben wir es mit einer völlig neuen Gedenkkultur zu tun, die gleichzeitig Mahnung ist.
Nicht zu vergessen sind ihre plastischen Porträts. Mit ihnen gelingt es der Künstlerin meisterhaft, den Charakter der Dargestellten zu erfassen. Arnold Zweig scheint zu lächeln, Heinrich Ehmsen und Paul Dessau, Gino Severini, zahlreiche Frauenporträts und auch ein Selbstbildnis reihen sich ein und begeistern den Betrachter. Man kommt ins Schwärmen. Da steht an einer anderen Stelle aufrecht und sehr ruhig eine junge Frau, »Verhör in Algerien«: Was wird sie erwarten? Der Kunstwissenschaftler Lothar Lang schrieb: »Wenn sie tief empfundenes Leid gestaltet, so tat sie es so, dass die Würde des Menschen auch in der tiefsten Pein ungebrochen blieb.«
Dank sei allen, die diese wunderbare Schau ermöglichten. Der Maler Renato Guttuso bekannte schon 1980: »…eine andere Bildhauerin von Geist und Größe der Genni ist mir nicht bekannt.« Das spricht vielen, die die Ausstellung besuchten, aus dem Herzen.
»Genni. Jenny Wiegmann-Mucchi (1895–1969). Bildhauerin in Italien und Deutschland«, Ausstellung in der Zitadelle Spandau, Alte Kaserne. 1. OG, Am Juliusturm 64. Geöffnet bis 3. September: Mo bis So 10 bis 17 Uhr, Eintritt: 4,50 €