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Europäisches Fluchtgepäck  (Christophe Zerpka)

In Anlehnung an »Ach Europa«, jenen Reisebericht, den Hans Magnus Enzensberger vor mehr als 30 Jahren veröffentlicht hat, unternahm der Publizist Mathias Greffrath erneut eine politisch-kulturelle Reise. Seine Ziele: Rumänien, Portugal, Ungarn, Polen, Dänemark und Frankreich. Im Mai sendete der Deutschlandfunk in seiner sonntäglichen Reihe »Essay und Diskurs« die politischen Reportagen unter dem Titel »Europäisches Handgepäck«. Es sollte eine Suche nach einem gemeinsamen kulturellen Erbe sein, verbunden mit der Frage, was die Europäer miteinander verbindet. Sein ernüchterndes Fazit: Mit der Europabegeisterung ist es, abgesehen bei einigen Intellektuellen, nicht weit her. Im Schlepptau der allgemeinen Macron-Euphorie, gegen die auch Greffrath nicht gefeit ist, entstanden intellektuelle Kopfgeburten wie »pulse of Europe«, eine naive Europa-Begeisterung, welche die Situation der kleinen Leute ausblendet.

 

Dagegen packen die ganz normalen Bürger der maroden EU ihr Fluchtgepäck, um am Ende nicht mit leeren Händen dazustehen. Dabei haben Mentalitäten und historische Erfahrungen einen gewichtigen Einfluss. Dass gerade in Polen und Ungarn der Nationalismus eine wichtige Rolle spielt, lässt sich leicht aus der Geschichte erklären. Polen war lange Zeit ganz von der Landkarte verschwunden, Ungarn musste nach dem Ersten Weltkrieg zwei Drittel seines Staatsgebietes an die Nachbarstaaten abgeben.

 

Die Reisefreiheit, von der die östlichen EU-Bewohner lange träumten, können sich nur einige Neureiche leisten. Gern nimmt man im reichen Teil der EU auch gut ausgebildete Fachkräfte wie Ärzte und Ingenieure, deren Ausbildung das arme Herkunftsland großzügig übernommen hat. Der Rest verdingt sich zu Niedriglöhnen in den alten Unionsländern, weil zu Hause das Einkommen noch niedriger ist, wobei viele sogar noch um einen Teil des versprochenen Westlohns betrogen werden. Vermutlich hätten es sich die Polen, Tschechen, Slowaken, Ungarn, Bulgaren, Balten und Rumänen nicht träumen lassen, sich als Billiglöhner im ehemaligen Westen verdingen zu müssen.

 

Am Beispiel Rumänien zeigt Greffrath, wie die Länder an der EU-Peripherie ausgeplündert werden: »Ungefähr die Hälfte des nutzbaren Landes ist inzwischen in den Händen von zumeist ausländischen Investoren. [...] Die Ölförderung ging an die Österreicher 2004. Es hätte uns unabhängig machen können, Öl und Gas. Die Elektrizität ging an E.ON und Gaz de France 2005, die Banca comerciala 2006 an die Erste Bank in Österreich. [...] Die Griechen, damals war das noch ein Staatskonzern, kriegten die rumänische Telekom, die Holländer den Zement. Ach ja, Dacia war schon l999 von Renault gekauft worden.«

 

Ob den Griechen die rumänische Telekom noch gehört, ist äußerst fraglich. Denn an Griechenland wurde später ein neoliberales Exempel statuiert, welches den Ländern der Peripherie die Macht der reichen EU-Kernländer brutal demonstrierte. Riesige Zinsgewinne und Privatisierungen zum Schnäppchenpreis gab es für den reichen Norden, Rekordarbeitslosigkeit und Sozialabbau für die Griechen. »Deutschland nützt die europäische Arbeitsteilung« heißt eine Überschrift in dem Kapitel über Polen. Man könnte es auch einen innereuropäischen Neokolonialismus nennen. Wie soll da eine europäische Identität entstehen?

 

Die Steuerparadiese der Gemeinschaft Irland, Luxemburg, Niederlande und Malta haben sich auf ihre Art schon früh abgesetzt und die neoliberale Ideologie zu ihren Gunsten ausgereizt. Polen droht damit, die »Trump-Karte« zu ziehen, und bietet schon mal zwei Milliarden Euro für neue US-Militärbasen im Land. Großbritannien hat sich bereits aus der Gemeinschaft verabschiedet. Einige Länder haben wohlweislich auf den Euro verzichtet und ihre eigene Währung behalten. Viele EU-Staaten besinnen sich wieder auf das, was man die angeblich so sicheren »nationalen Werte« nennt. »Und deshalb ist der Nationalstaat sozusagen unsere Abwehrbarriere gegen zu viel Falsches, zu viel Neoliberales, zu viel nur ökonomisches Europa«, so formuliert es Greffrath. Anders gesagt: Europa ist auf der Flucht vor der EU. Die ist zudem, trotz aller Harmoniebeschwörungen, tief zerstritten.

 

Dublin ist nicht nur die Hauptstadt einer Steueroase, sondern auch die Bezeichnung für ein Abkommen, dass den Mittelmeeranrainern auf Grund ihrer geographischen Lage die Hauptlast für die Rettung und Versorgung tausender Flüchtlinge aufbürdet. Dass sich dort nun Widerstand regt, ist wenig erstaunlich. Erstaunlich ist eher, dass man sich nicht viel früher gewehrt hat.

 

Für Greffrath ist Portugal der einzige Lichtblick in der Reihe der besuchten Länder. Das Land an der westlichen Peripherie ist nicht nur von der Flüchtlingsproblematik verschont geblieben, es scheint auch auf Grund der zahlreichen Probleme in den anderen EU-Staaten bei den Brüsseler Bürokraten eine Art Narrenfreiheit zu genießen – oder es wurde schlicht vergessen. Die Regierungsparteien aus Sozialdemokraten, Linken und Grünen konnten sich »als geduldete Minderheitsregierung der Umarmung durch die Troika entziehen, haben alles anders gemacht, als die Troika ihnen oktroyieren wollte, und haben dadurch erstaunlicherweise wieder Wachstum produziert und arbeiten sich jetzt so allmählich aus der Krise heraus«.

 

In EU-Europa schwankt die Arbeitslosenquote zwischen weniger als drei und weit mehr als zwanzig Prozent, bei Schulabgängern liegt die Obergrenze in einigen Ländern bei fast 40 Prozent. Und so ziehen die gut ausgebildeten Jugendlichen in die reichen Kernländer. Aus Portugal sind es jährlich 100.000; der ganze Süden trifft sich in Dortmund, Lyon, Lüttich, Groningen, Birmingham oder Aarhus. Man kennt die Geschichten der rumänischen Kinder, die bei den Großeltern aufwachsen, weil die Eltern in Italien arbeiten. Man kennt die Sorgen unzähliger polnischer Einwanderer in England, die sich vor den Folgen des Brexit fürchten. Man liest nette Geschichten vom polnischen Landarzt in Brandenburg und hat vielleicht von den katastrophalen Zuständen in polnischen Krankenhäusern gehört, wo die Zurückgebliebenen den Mangel verwalten. Gern wird über die genialen Informatiker aus den baltischen Staaten berichtet – über die zurückgebliebenen Alten, die sich nicht mehr auf dem EU-Markt verkaufen können, erfährt man wenig. Süd- und Osteuropa sind die neuen Postkolonien des reichen Nordens, der Arbeitsmarkt fragt nicht nach Herkunft und Identität, sondern prüft nur die Verwertbarkeit. Greffrath träumt von einer europäischen Übersetzungssoftware, die Texte vom Portugiesischen ins Lettische übersetzt, aber das allgegenwärtige Englisch hat die störende europäische Sprachenvielfalt längst ersetzt. Der Rest ist Folklore. Es ist der Kommerz, der alles dominiert. Oder wie es der portugiesische Schriftsteller Rui Zink so kurz wie treffend zusammenfasst: »Lidl ist überall.«