Ich lernte Olga vor vielen Jahren in Lidice kennen. Die Gedenkfeiern zum Jahrestag des Nazi-Massakers an den Bewohnern des kleinen böhmischen Dorfes waren gerade vorbei, als ein Platzregen über uns hereinbrach. Olga nahm mich unter ihren Regenschirm. Sie mochte etwa 65 Jahre alt sein, war klein und lebhaft und sprach sofort deutsch mit mir. Ich fragte sie, wo sie es gelernt hatte, und erfuhr, dass sie aus einer deutschsprachigen mährischen Familie stammte. Dann war der Regen zu Ende.
Ein halbes Jahr später überraschte mich Olga beim Pressefest der kommunistischen Tageszeitung Haló noviný im Prager Ausstellungsgelände. Am Stand der Deutsch-Tschechischen Nachrichten zog sie mich beiseite: »Schau, ich muss dir was zeigen.« Behutsam wickelte sie ein Buch mit einem merkwürdig grün-grau gefärbten, schlangenlederartigen Einband aus: ein Poesiealbum. »Dieses Album«, sagte Olga, »habe ich in meinem ganzen Leben immer mit mir getragen. In Schweden, in der Sowjetunion und dann wieder hier.« Ich begann, das Büchlein von hinten durchzublättern, und fand darin, was man erwartet: Gedichte und gute Wünsche für die Zukunft. Was war so Besonderes daran?
Olga nahm mir das Album aus der Hand und schlug es ganz vorn auf. Ein eingeklebtes Passfoto zeigte einen eher schmächtigen, etwa 40-jährigen Mann in Jackett und Sporthemd, mit kurzem Schnauzbart und ernsten Augen. »Ja, Kind, es ist besser«, stand darüber, »die Gletscherberge im Rücken zu haben, als die bösen Menschen. Fr. v. Sch. in Wilhelm Tell.« Und neben dem Foto: »Wache selbst über deine Gesundheit, damit am Tage der grossen Heimkehr wir uns alle wiedersehen.« Darunter: »Der Inhalt der Worte dieser 2 Seiten sei das Vermächtnis deines Vaters. Vergiss ihn nicht. Bleibe gesund und brav und möge es dir besser ergehen als bisher. Um das bittet dich und das wünscht dir dein Vater.« Und ganz unten: »Prag, am 28. Jänner 1939, in der Emigration.« (Schreibweise aller Zitate original)
Ich blickte Olga fragend an. »Das hat mir mein Vater zum Abschied geschrieben«, erklärte sie, »bevor ich mit meiner Schwester nach Schweden und dann in die Sowjetunion evakuiert wurde. Kurz vor dem Einmarsch der Nazis. Mein Vater war ein bekannter deutscher Antifaschist.« Sie nahm das Album wieder an sich, sagte etwas von einer Verabredung mit ihrem Enkel, und schon war sie verschwunden.
Irgendwann, viel später, saß ich Olga in ihrer hübschen, kleinen Wohnung in einem Prager Neubauviertel gegenüber, und sie erzählte mir die angefangene Geschichte ganz.
Ein Mädchen aus Odry
Geboren wurde Olga im Dezember 1929 in dem mährischen Städtchen Odry. Die meisten der circa 4000 Einwohner waren deutschsprachig und nannten ihre Stadt Odrau und die Region das »Kuhländchen«. Trotz des nach Landwirtschaft klingenden Namens gab es etliche bedeutende Industriewerke, in Odry selbst unter anderem die Gummiwarenfabrik Optimit. Dort war Robert Schenk, Olgas Vater, als Arbeiter in der Abteilung für Gummimischungen beschäftigt: »ein Meister in seinem Fach«. Jedoch wurde er, als kurz vor Olgas Geburt die große Wirtschaftskrise kam, als einer der ersten entlassen, vermutlich wegen seiner Aktivitäten als Gewerkschafter und Kommunist.
Über ihre Mutter berichtete Olga wenig, nur dass sie nervenkrank und über lange Zeiträume im Krankenhaus war, so dass die um vier Jahre ältere Schwester Ida schon früh Verantwortung in der Familie übernehmen musste.
1935 wurde Olga eingeschult. In den überwiegend deutschsprachigen Gebieten der Tschechoslowakei formierten sich in dieser Zeit die Henlein-Faschisten. Die Auseinandersetzungen wurden immer schärfer. »Weißt du, was wir damals immer gesagt haben, was der Hitler-Gruß bedeutet?« fragte mich Olga. Lachend hob sie den Arm in die Höhe. »Sooo hoch liegt der Dreck in Deutschland.«
Als nach dem Münchner Abkommen die Grenzgebiete von der Wehrmacht besetzt wurden, kam morgens um fünf die Gestapo ins Haus. »Sie suchten meinen Vater. Sie wussten alles, hatten die Namen von allen, die gegen Hitler waren. Die ganzen Listen.« Der Vater war jedoch bereits über die neue »Grenze« ins Landesinnere geflohen. Vierzehn Tage später holte Ida ihre kleinere Schwester – Olga war jetzt neun, Ida dreizehn Jahre alt – in der großen Pause von der Schule ab. »Um zwei Uhr fahren wir weg«, erklärte sie aufgeregt. Die Kinder durften zu ihrem Vater fahren. Mit zwei Koffern passierten sie die Grenze, voller Angst, die neuen Machthaber könnten es sich noch im letzten Moment anders überlegen. Ein Angestellter der Gemeinde begleitete sie hinüber. Die Mutter blieb im Krankenhaus zurück.
Das Abschiedsgeschenk des Vaters
Die erste Station war ein Lager für Flüchtlinge aus dem besetzten Gebiet in dem Ort Hranice. Von dort ließ sie der Vater nach Prag holen. An ein gemeinsames Familienleben war aber nicht zu denken. Der Vater konnte bei einem Genossen übernachten, die Kinder kamen in einer Notunterkunft am Wenzelsplatz unter. Bald wurde jedoch klar, dass die Nazis mehr wollten als die Grenzgebiete der Tschechoslowakei, sie wollten das ganze Land. Die Flüchtlinge, die dort eine erste Zuflucht gefunden hatten, mussten so schnell wie möglich anderswo in Sicherheit gebracht werden. Die ersten Kindertransporte gingen nach England. Olga und Ida sollten zunächst auch dorthin, doch dann hieß es: nach Schweden.
Vom Vater erhielt Olga in diesen Tagen das Poesiealbum. Neben seinem Foto und den Zeilen, die ich schon las, als mir Olga zum ersten Mal ihren kostbaren Schatz zeigte, entzifferte ich nun die bewegenden Sätze, die der Vater seiner neunjährigen Tochter mit auf den Weg gegeben hatte, damals, als niemand wusste, ob sich die Familie jemals wieder treffen würde:
»Wo du von deinem Vater Abschied nimmst, will ich dir auf deinen weiteren Lebensweg, den du fern deiner Heimat und deinen Eltern gehen wirst, folgende Geleitworte mitgeben. Präge sie dir fest in dein junges Herz und deine Seele ein und handle nach ihnen. Vor allem: Gedenke stets der Stunde, wo du mit deiner grossen Schwester das Elternhaus verliessest, um deinem Vater zu folgen, der, weil er die Freiheit mehr liebte als die Heimat, aus dieser floh. Denke, dass so viele dunkle Wolken deine Kindheit verdüsterten und deine junge Seele mit Schmerz und Bangen erfüllten. Du bist fern deinem Vater, der dich so sehr liebt, deiner armen, kranken Mutter, der Verwandten und Jugendgespielen, vielleicht auch deiner Schwester. Doch mein liebes Kind – bleib brav und fleissig, mit frohem Mut zieh deinen Weg frei von Zagen. Sei folgsam und lerne, denn wenn auch klein, so sollst du mutig alles wagen – dann werden dir auch in fernen Landen die Menschen lieb und hilfreich sein, und nach trauriger Kindheit Bangen zieht Morgenrot ins Herz dir ein.« Hinter den Seiten, die der Vater mit seiner schönen, Sorgsamkeit verratenden Schrift gefüllt hatte, folgten Abschiedsgrüße von Kameradinnen und Betreuerinnen, die Olga in den wenigen Monaten in Prag kennengelernt hatte. »Wir wollen Frieden, Freiheit und Recht / daß niemand sei des anderen Knecht, / daß Arbeit aller Menschen Pflicht / und keinem es an Brot gebricht. Zur Erinnerung an deine Kameradin Inge am 5. III. 1939«, stand da zum Beispiel in klarer Schulmädchen-Schönschrift.
Über Schweden in die Sowjetunion
Als am 15. März 1939 deutsche Truppen in Prag einmarschierten, waren Olga und Ida bereits in Schweden. Bis heute hält Olga Kontakt zu der Familie, die sie damals liebevoll aufnahm. Kaum hatten sich die beiden Kinder – getrennt in verschiedenen Familien – in Schweden etwas eingelebt, folgte der deutsche Überfall auf Polen. Wenige Monate später wurden Dänemark und Norwegen besetzt, dann Luxemburg, die Niederlande, Belgien, der größte Teil von Frankreich. Wann würde Schweden dran sein?
Olgas Vater war mittlerweile in der Sowjetunion. Im Sommer 1940 ließ er die Kinder nach Moskau nachkommen. Zusammen wohnten sie in einem Erholungsheim, wo Antifaschisten aus verschiedenen Ländern untergebracht waren. Olga erinnert sich gern an diese Zeit. Endlich war sie wieder mit der Schwester und dem Vater zusammen. Doch nicht lange. Am 21. Juni 1941 griff die deutsche Wehrmacht auch die Sowjetunion an.
Das Erholungsheim wurde zum Lazarett. Die Kinder, die dort gewohnt hatten, kamen in ein Heim am Rande Moskaus. Wegen des nahe gelegenen Flughafens bestand jedoch Gefahr bei eventuellen Bombenangriffen. »Der Direktor des Heims war ein alter Bolschewik, er hatte schon an der Revolution teilgenommen«, erzählte Olga. »Er wollte Gutes für uns, dass wir sicher und ruhig leben können. So setzte er durch, dass wir nach Sibirien evakuiert wurden.« Ohne Ida – die mittlerweile Fünfzehnjährige hatte eine Arbeitsstelle in Stalingrad bekommen. Fast vier Jahre blieb Olga in Sibirien. »Am schlimmsten war die Langeweile«, erinnert sie sich. Es gab keine Bücher, keine Hefte, keine Spielsachen. Nicht einmal Radiohören war möglich, denn die bereits geplante Elektrifizierung des Dorfes konnte im Krieg nicht durchgeführt werden. Olga beschäftigte sich, so gut es ging, indem sie einigen Frauen in der Kolchose bei der Arbeit half oder manchen von ihnen die Briefe ihrer Männer von der Front vorlas und die Antwortbriefe schrieb. 1942 kam die schreckliche Nachricht, dass der Vater an einer Krankheit gestorben war. Wie oft mag das junge Mädchen in dieser schlimmen Zeit Trost in ihrem Poesiealbum gesucht haben? Schließlich fand aber Olga doch gute Freundinnen, und auch eine Lehrerin hat sie in guter Erinnerung. So fühlte sie sich irgendwann in Russland heimisch und wäre nach dem Krieg vielleicht dort geblieben, wenn nicht Ida sie zur Rückkehr gedrängt hätte.
Wieder daheim
Mit dem Poesiealbum im Gepäck kehrte sie heim. Aber was sollte sie nun anfangen? Sie konnte ja nicht einmal Tschechisch. Vor dem Krieg war es üblich gewesen, dass Kinder deutscher Familien eine gewisse Zeit in tschechischen Familien verbrachten, um die Sprache zu lernen, und umgekehrt. Ida hatte das auch gemacht, aber Olga war noch nicht in einer tschechischen Familie gewesen. Jetzt, nach ihrer Rückkehr, musste sie daher die Sprache ihres Heimatlandes ganz neu lernen. Sie holte dennoch in kurzer Zeit ihr Abitur nach und wurde, da sie perfekt Russisch konnte, zu guter Letzt Russischlehrerin an einem Prager Gymnasium.
Olgas Mutter starb 1964. Nach dem Krieg hatte sie beantragt, die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft zu behalten. Als Witwe eines Antifaschisten, der sich keines Vergehens gegen die Republik schuldig gemacht hatte, konnte sie bleiben, und auch ihr Eigentum wurde nicht beschlagnahmt. So lebte sie weiterhin in dem kleinen Haus, das ihr Mann 1925 kurz vor Idas Geburt gebaut hatte. Doch fühlte sie sich nun ziemlich einsam dort. Ida hatte Arbeit in einer anderen Stadt gefunden, und die meisten Verwandten waren nach Deutschland gegangen, die einen in den Westen, die andern in den Osten. Auch die Genossen, mit denen die Familie früher Kontakt gehabt hatte, waren zum größten Teil fortgezogen. Olga lernte während ihres Studiums in Olomouc ihren Mann Jaromir kennen, und als der eine Arbeit bei einem Verlag in Prag angeboten bekam, zog sie mit ihm in die Hauptstadt.
Der Tag, an dem mir Olga das alles erzählte, liegt Jahre zurück. Wir blieben in lockerem Kontakt: Grüße zum Neuen Jahr, Glückwünsche zum Geburtstag. Vor ein paar Wochen endlich wieder ein Besuch bei ihr, zu dritt. Wie mochte es ihr gehen? Lebhaft und flink wie früher begrüßte sie uns, bewirtete uns mit Kaffee und Kuchen. Als wir damit fertig waren und sich im Gespräch die alte Vertrautheit wieder eingestellt hatte, holte Olga mit behutsamen Händen ein grün-grau eingebundenes Büchlein aus der Kommode. Da war es wieder, das Poesiealbum, das sie ihr Leben lang begleitet hat. Ich beschloss, die alten Aufzeichnungen hervorzuholen und die Geschichte für Ossietzky neu aufzuschreiben.