Gelegentlich werde ich gefragt: Hast du eine besondere Verbindung nach Estland? Hast du – wichtige Frage im europäischen Nordosten – baltische Wurzeln? Nein, meine Wurzeln sind slawisch. Genauer: polnisch-oberschlesisch-sächsisch-sorbisch-fränkisch. Im Übrigen sind Estlands Wurzeln weniger baltisch als finno-ugrisch, allerdings lebte dort über Jahrhunderte ein baltischer, also deutschstämmiger Adel.
Meine Verbindungen nach Estland wurzeln in der DDR. 1984 lud der Gewerkschaftsverlag Tribüne junge Schriftsteller zum Gespräch. Man bot Reisestipendien, sofern man sich für eine Sowjetrepublik interessierte.
Ich hatte einen Band mit Satiren veröffentlicht, weitere waren in Arbeit. Für Weltbühne und Eulenspiegel schrieb ich regelmäßig, konnte so dem üblichen Parteizeitungssprech ausweichen, fühlte mich also gerüstet.
Estland schien aufgrund seiner Überschaubarkeit, der finno-ugrischen Sprache und hanseatischer Wurzeln bestens geeignet. Ich studierte, was es aus tief stalinistischer und neuerer Zeit an estnischer Literatur gab. Wenig. Nobelpreiskandidat Jaan Kross war im Westen noch kaum bekannt, in der DDR war er übersetzt worden. Immerhin wusste ich, dass die russische Sprache, die ich leidlich beherrschte, nicht überall in der Sowjetunion geliebt wurde. Die Baltenrepubliken hatten es geschafft, das lateinische Alphabet zu behalten. Moskau duldete.
Die bürokratischen Mühlen mahlten schnell. Im Frühling 1985 landete ich in Tallinn. Ich flog über Moskau, ein erwünschter Umweg. Meine Betreuer im Schriftstellerverband, dem Eesti Kirjanike Liit, meinten ironisch: Man kommt zu uns nur über Moskau.
Sechs Wochen lang wohnte ich in einem Schreibfehler, dem Hotel Olümpia, was Fein- und Besonderheiten der estnischen Sprache charakterisiert. Ich durfte mir Ausflugsziele wünschen, sprach im Kirjanike Liit deutsch und russisch, auch englisch und hörte viel estnisch. Weniges verstand ich inzwischen. Einer meiner Betreuer hieß Lennart Meri, estnischer Staatspräsident von 1992 bis 2001.
Ich schlenderte durch Museen, ging mit und ohne Übersetzer in die Theater, erlebte Nächte am Meer und in der Sauna, konnte Abstecher in verbotene Städte wie Tartu (Militär!) machen, lernte den weltberühmten russisch-jüdischen Semiotiker Juri Lotman kennen und fügte mich in die überschaubare estnische Kulturgesellschaft. Mein Erkenntnisdrang strandete am sowjetischen Wesen (»Das geht leider nicht.« »Gern, aber Moskau …«).
In den folgenden Monaten, mein Manuskript gedieh, kam ich jeweils per Bahn und Bus via Riga nach Tallinn. Ich stieg in einer Gästewohnung des Kirjanike Liit ab oder in der Müürivahe bei Mati Sirkel, ein Übersetzer, später Schriftstellerverbands-Präsident. Mit meinem Kollegen Vladislav Koržets von der satirischen Zeitung Pikker war die Verständigung skurril, er beherrschte ein reiches Russisch. Mein Deutsch wiederum verstand er wegen meiner geschwinden Sprechweise nicht. Also sprach er sein Schuldeutsch, ich mein Schulrussisch. Man verstand einander bestens.
Nach 1985 lockerte sich vieles; ich kam auf die estnischen Inseln (streng verboten) und ins bergige Südestland (absolut verboten, 318 m ü. NN).
1988 erschien mein Bändchen »Blumenfrau & Filmminister – Ein Estland-Mosaik«, Auflage 25.000. Jeder Estland-Tourist aus der DDR hatte das offenbar im Tornister. Die Nachauflage zu Beginn des Jahres 1989, 20.000 Exemplare, hatte ich um ein Nachwort ergänzt. In der Erstauflage gab es den authentischen Gästebucheintrag: »Einen Esten würde ich heiraten. Ingrid aus der DDR«. Ingrid meldete sich: Es habe bloß zu einem Sachsen gereicht.
Gegen die Ölschieferförderung wurde protestiert: Tänan – Ei! (Danke, nein!). Auch von der Abschaffung der Moskauer Zeit schrieb ich. Kein Flugzeug musste mehr via Moskau kommen. Die Wiedererrichtung des estnischen Staates, Einführung der Krone, NATO-Beitritt, EU-Beitritt, Euro-Umstellung, all das geschah später außerhalb meines Buchhorizonts.
Ich war auch in den 1990ern und zu Beginn dieses Jahrtausends gelegentlich im Lande; die Änderungen erfolgten zu schnell für meine Stippvisiten, vor allem die offizielle Geschichtsbetrachtung wendete sich. Ich hatte zu Sowjetzeiten – als DDR-Bürger geschult – dem Offizialbild misstraut, sollte ich jetzt den nagelneuen Bildern im Okupatsioonide muuseum gänzlich trauen? Wo das Wüten deutscher und einheimischer Faschisten quasi nur ein Vogelschiss war? Als man ganz offiziell bei der Wannsee-Konferenz 1943 feststellte: Estland judenfrei.
Meine Freunde von einst sagten, dass ihnen bei der verkündeten und straff exekutierten jungkapitalistischen Wirtschaftspolitik unklar sei, wie Rentner diese bewältigten. Vielleicht überlebten sie, weil es im Land einen hohen Anteil an Privatgärten gab – und privat funktionierende Generationenverträge? Meine Bekannten gingen unterschiedliche Wege, mit höheren Regierungsämtern die einen oder auch mit staatsbürgerlicher Nichtanerkennung die anderen, weil einst fern vom Heimatland geboren.
In diesem Frühsommer – weiße Nächte in Tallinn, wie in Stockholm, St, Petersburg oder Helsinki – verglich ich einst und jetzt. Wie man halt als Tourist mit ein paar Wurzeln in den 1980ern vergleicht. In der elektronischen Republik (EEE) müssen wir im Hotel einen Papier-Meldeschein ausfüllen. Man hat doch unsere Angaben längst elektronisch …, es ist üblich, lächelt man.
Am Pirita-Meeresstrand lagern russische und estnische Familien, ganz ohne jenen Windschutz, der an unseren Ostseeküsten quasi Pflicht ist. Dafür gibt es nagelneue Hotelbauten, direkt in den Dünen, bei uns längst verboten.
Einst ging ich mit Übersetzer in die Theater, jetzt schaute ich sie mir nurmehr von außen und innen an. Es scheint, diese Kultur floriert: prächtige Foyers, die Besucherzahl hoch. Das Theater- und Musikmuseum zeigt Mützen, Halsschmuck und Likörservices berühmter estnischer Aktricen. Das Puppentheater in der Tallinner Altstadt wird von Kindern überflutet. Auf der Freilichtbühne zwischen alten Gassen und hohen Speichern sehe ich Proben eines Schwertergeklirr-Dramas. Tartu, die Universitätsstadt, hat noch immer sein riesiges Theater- und Konzertgebäude, 1967 neu erbaut, jetzt mit nagelneuen Büsten und Stelen davor. Übrigens gilt dortselbst eine Frau – Lydia Koidula (1843–1886) – als estnische Theater-Erfinderin. Juri Lotman, 1993 gestorben, hat jetzt eine Gedenktafel an seinem einstigen Tartuer Wohnhaus.
Die Altstadt von Tallinn ist relativ unverändert, oft prächtig restauriert. Schaut man genauer hin: Übliche (west)europäische Ladenketten, die Preise haben eher nord- als mitteleuropäisches Niveau. Das Durchschnittseinkommen soll bei 800 Euro liegen. Gab es früher ganze zwei Hotel-Hochhäuser, drängen sich solche jetzt rings um die Altstadt. Weitere Glas-Stahl-Beton-Würfel wie in China und München, also auch im einstigen Reval.
Das KUMU (Kunstimuuseum) ist ein beeindruckender Neubau von 2006, in den Berg im Stadtteil Kadriorg hineingesetzt, aufragende Glastürme und -flächen, von einem finnischen Architekten entworfen. Mich erinnert es mit Durchblicken und gewaltigen Höhen an einen Libeskind-Bau. Man könnte darin die Kunst aller baltischen Länder und ganz Nordeuropas unterbringen. Doch etwas zu große Kulturbauten sind bei weitem angenehmer, als zu große Militärausgaben.
Die estnische Kunst – wie auch Literatur – »erwachte« im 19. Jahrhundert. Es gibt verständlicherweise bei weitem nicht die Zahl an Kunstwerken, die andere europäische Länder aufbieten könnten. Immerhin aber wurden Kunstepochen auch hier durchexerziert: Biedermeier, Impressionismus, Expressionismus, neue Sachlichkeit. Selbstverständlich den sozialistischen Realismus, der jetzt gewiss nicht mehr so heißt.
Man hat für alles viel Platz. Bereits im 20. Jahrhundert gab es hier angewandte Kunst von Rang. Ich finde die Namen jener Künstler, die ich schon vor dreißig Jahren hie und da, in ihren Ateliers, traf: Toomas und Aili und Maara Vint. Auch der Schrift-Künstler, der visuelle Poesie seit den 1970ern bevorzugt, Raul Meel, ist mit Arbeiten vertreten. Ein paar Tage später besuche ich ihn zu Hause. Das aber wäre wieder eine andere Geschichte, wie all die Begegnungen mit Freunden und Bekannten von früher.
Deshalb hier nur noch eine gastronomische Veränderung, die eigentlich keine ist, aber etwas erzählt. In den 1980ern gab es überall in Estland aus großen Kesseln für ein paar Kopeken das eiskalte, leicht vergorene Erfrischungsgetränk, mit kyrillischen Buchstaben: Kwass, lateinisch-estnisch: Kali. Etwas für werktätige Massen. Neben Wodka das russisch-ukrainisch-weißrussische Nationalgetränk. Man findet es heutzutage noch in den russischen Romanen des 19. und 20. Jahrhunderts. Im modernen Tallinn aber werde ich im etwas zu teuren Restaurant belehrt: »Kali ist ein modernes Getränk, auch estnische Cola genannt. Besonders Jugendliche trinken es gern.«