Vorfreuden eines 88-Jährigen
Jeder Geburtstag ist für mich ein Tag der Vorfreude. Er bringt mich dem heiß Begehrten ein weiteres Jahr näher. Wenn ich nur lange genug durchhalte! Dann könnte ich endlich meine Akten einsehen. »Meine« sind es natürlich nicht, sondern die Akten über mich.
Akribisch gesammelt haben sie der Bayerische Verfassungsschutz, der Bundesnachrichtendienst (BND), das Innenministerium. Und alles während der fast 18 Jahre, die ich in Bayern als ein bei der Regierung akkreditierter bundesdeutscher Journalist, unter anderem für das Berliner Pressebüro der DDR, gearbeitet habe. Das war von 1955 bis 1972. Jetzt gehören die Dokumente offenbar zu den 1,3 laufenden Kilometern Geheimakten in den Landesarchiven, vorwiegend vom Verfassungsschutz, und etwa 7,4 Millionen gesperrten Vorgängen in den Bundesarchiven.
Vor fünf Jahren hatte ich das erste Mal im Bayerischen Hauptstaatsarchiv in München vorgesprochen. Schließlich waren 41 Jahre vergangen, und ich hielt den zeitlichen Abstand für angemessen. Aus meiner 11-jährigen Tätigkeit in den USA wusste ich, dass man dort selten länger als 25 Jahre auf Akteneinsicht warten muss. Selbst zahlreiche Dokumente der CIA und des Weißen Hauses über schlimmste Staatsverbrechen konnte ich für meine journalistische Arbeit nutzen.
Aber wie wir ja wissen, weht in Bayern ein besonderer Wind. Offiziell wurden meine Bemühungen um Einsicht in die staatliche Sammelwut von der Archivoberrätin Dr. Annelie Hopfenmüller ausgebremst. Sie schrieb am 9. Dezem-ber 2013: »Wie ich Ihnen bei Ihrem Besuch in unserem Haus bereits mitgeteilt habe, unterliegen alle Akten, die Sie einsehen möchten, Sperrfristen, die vom Innenministerium bzw. dem Landeskriminalamt selbst aufgehoben werden müssen. Hinzu kommen noch Schutzfristen infolge des Personenbezugs.«
Damit ich mir das praktisch vorstellen konnte, folgte eine »Auflistung der Akten mit den jeweiligen Sperr- bzw. Schutzfristen«. Die reichen im Wesentlichen bis 2030.
Die Akte »Ermittlungen gegen Horst Schäfer, 1960–1968« hat eine Sperrfrist bis 2028 und eine Schutzfrist bis 2032 – ich müsste also 102 Jahre alt werden. Mein Favorit aber ist die Akte »Sozialistischer Deutscher Studentenbund (hier Osterunruhen 1968)«, bei der die Schutzfrist 2043 ausläuft. Das sind 75 Jahre danach. Ob das auch mit den beiden Toten zu tun hat? (siehe Ossietzky 12/2018, »Die Toten von München«) Falls ich dann wider Erwarten noch leben sollte: Kann ich denn als 113-Jähriger das Geschreibsel der Agenten von Polizei, Verfassungsschutz und BND noch lesen?
Diese und andere Fragen treiben mich an meinem 88. Geburtstag um. Ist das mit den Sperr- und Schutzfristen rechtens? Was hat es mit Demokratie und Rechtsstaat zu tun? Und: Ist es auch mit der Rentenversicherung abgestimmt? Denn wenn ich jetzt durch Seehofer und Co. veranlasst werde, so lange zu leben, bis alle Fristen abgelaufen sind, dann muss auch länger Rente gezahlt werden. Ist sich Bayern darüber klar?
Ob es sinnvoll ist, nochmal ins Hauptstaatsarchiv nach München zu fahren und mit der Archivoberrätin Hopfenmüller darüber zu reden? Zu meinem 90. Geburtstag? Aber vielleicht ist sie dann schon pensioniert?
Horst Schäfer
Schweigepresse
Spätestens seit Pegida kennt man als besonders beliebtes Schlagwort rechter Demonstranten das von der »Lügenpresse«. Umso überraschter konnte man in Tagesspiegel und Zeit kurz vor dem Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion eine Anzeige lesen mit der Überschrift »Hetze gegen Russland – nicht in unserem Namen!« und etwa 300 Unterschriften. Aufgefordert wurde zu einer »Kundgebung am 22. Juni 2018, 18 Uhr, Neue Wache, Unter den Linden 4«, zu der wiederum etwa 300 Teilnehmer kamen, die kluge und differenzierte Reden hörten. Wer darüber in der »Lügenpresse« wenigstens eine Nachricht erwartet hatte, suchte allerdings vergebens. Inmitten der gewohnten Russophobie hätte sich das wohl zu exotisch ausgenommen. Immerhin keine »Lüge«. Stattdessen gab es wieder ausführlich Stoff zur Fußballflut und dem unerschöpflichen Regierungstheater. Wie wäre es mit dem neuen Schlagwort »Schweigepresse«?
Heinz Kersten
Normale Moskauer
Carsten Gansel, 1955 in Güstrow geboren und derzeit Professor für Neuere Deutsche Literatur und Mediendidaktik an der Justus-Liebig-Universität in Gießen, ist ein umtriebiger und neugieriger Mann, der eine Menge Bücher zu seinem Fach geschrieben und herausgegeben hat. Im November/Dezember 2017 war er seit längerem wieder einmal in Moskau, gab Seminare, besuchte Veranstaltungen und Ausstellungen. Alles ganz normal und überhaupt nicht spektakulär. Dennoch griff ich diesmal begierig nach dem Buch, denn Normales, Alltägliches über Russland ist in den heutigen Medien kaum zu finden. Hier beschreibt nun einer ganz sachlich Gespräche mit seinen Studentinnen, seine Erlebnisse in verschiedenen Unterkünften, in der Metro, in Theatern und bei Veranstaltungen. Wirklich nichts Aufregendes, aber endlich einmal Eindrücke und ein Bericht, wie Durchschnitts-Moskauer denken, was sie wollen, warum sie so wählen, wie sie wählen. Putin, das Fernsehen, die Wohnungssituation, die Mieten, die Preise ...
Es ist gut, dass Gansel Tagebuch geführt hat. Man kann sie besser verstehen, die Moskauer, und ist noch ein bisschen mehr immun gegenüber Berichten, die etwas anderes weismachen wollen.
Christel Berger
Carsten Gansel: »Meinst Du, die Russen wollen ...? Ein Moskauer Tagebuch«, Mecklenbook. (Nordkurier Mediengruppe Neubrandenburg), 324 Seiten, 17,95 €
Dieselabgas-Splitter
Die Abgasmanipulation wird verharmlosend alternative Schadstoffmessung genannt.
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Früher sagte man scherzhaft: Auto fängt mit A an und hört mit O auf; heute stöhnt mancher Dieselauto-Besitzer: Auto fängt mit Abgasmanipulation an und hört mit möglichem Fahrverbot noch immer nicht auf.
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Zweifel an der Korrektheit von Abgas-Messstellen in Innenstädten werden erstickt – von Stickoxiden.
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Rettet den Dieselmotor! Wer fordert das? Die Panzer- und Schiffsmotorenhersteller.
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VW gibt Tische günstig ab – solche, über die das Werk viele Dieselfahrer gezogen hat.
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Die Abgasmanipulation – eine technische Meisterleistung? Wir erinnern uns: Dem Ingenieur ist nichts zu schwör.
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(Alter deutscher Spruch) »Mariechen sagt zu Mariechen, lass mich ma‘ riechen, Mariechen! Da ließ Mariechen Mariechen ma‘ riechen. – Aber bloß nicht an dem alten Dieselauto!
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Meine grüne Umweltplakette hinter der Windschutzscheibe hat sich schon grün geärgert darüber, dass sie bisher nicht einmal kontrolliert wurde und ich auch ohne sie fahren könnte. So wird es auch der vorgesehenen blauen Plakette ergehen.
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Den Autobossen ist zu glauben, dass sie von der Abgasmanipulation keine Ahnung hatten. In ihren Sitzungszimmern gab es nämlich eine Abschaltautomatik; sie sorgte dafür, dass der gefährliche Begriff nie in höhere Sphären gelangte. (Unbestätigten Gerüchten zufolge steckt der russische Geheimdienst dahinter.)
Dietrich Lade
Erbarmen mit der Nationalelf
Man will es einfach nicht glauben …, aber kaum musste die deutsche Nationalmannschaft nach drei enttäuschenden Partien bei der Fußball-Weltmeisterschaft die Koffer packen, fielen die Kritiker über den amtierenden Weltmeister her: fehlende Kreativität, Arroganz, Selbstgefälligkeit … In der Tat, das historische Ausscheiden als Gruppenletzter in der Vorrunde war blamabel. Doch mal ehrlich: Waren die meisten Fans nicht selbst vor Beginn der WM selbstsicher, ja überheblich? Der fünfte Stern war doch nur eine Formsache. Wer sollte Jogi Löw & seinen Mannen schon in die Quere kommen?!
Pustekuchen. Plötzlich waren der Katzenjammer und die Häme groß. Auch Sponsoren, Handel und Gastronomie erwischte es kalt. Schließlich hatten sie kräftig investiert und auf einen dicken Umsatz gehofft. Quasi über Nacht war alles zu Ladenhütern geworden. Neben der sportlichen auch noch die geschäftliche Enttäuschung. Dabei waren nicht nur Supermärkte, Biergärten oder Public-Viewing-Betreiber von der Misere betroffen. Als meine Frau einen Tag nach dem Südkorea-Debakel am kleinen »Backshop« unseres Einkaufscenters etwas Kuchen für den Nachmittagskaffee holen wollte, bot die Verkäuferin ihr zwei liegengebliebene Plunderstückchen an – verziert mit einem Schokoladen-, Erdbeer- und Vanilleklecks. Ganz national. »Ich gebe ihnen auch noch ein Stück Quarkkuchen gratis mit.« Da konnten wir nicht »Nein« sagen, schließlich hatten wir ein Erbarmen mit unserer Nationalelf. Etwas Gutes hatte das frühe Ausscheiden: Man konnte die restlichen Spiele bis zum Finale ganz entspannt verfolgen.
Manfred Orlick
Walter Kaufmanns Lektüre
Ihre Tagebücher, in denen sich Brigitte Reimann von Kummer und Sorgen zu befreien sucht, sie Rückschläge schildert, aber auch Glücksmomente, weisen meist weit über das Persönliche hinaus: Sie reflektieren das andere Deutschland, dem sie verbunden war und mit dem sie stritt. Das trifft auch auf den Briefwechsel mit Christa Wolf zu. Nun haben wir – spät, aber keineswegs zu spät! – ihren brieflichen Austausch mit Wolfgang Schreyer, der ihr Freund war, der sie (sagen wir es so) von Herzen gern hatte, sie vor politischen Fährnissen beschützte, sie beriet und ihr Mut machte, wenn sie wegen der unsäglichen Krankheit oder Beckmesserei verzagte. Ein aufschlussreicher Briefwechsel ist das (höchst umfangreich obendrein), in dem sich neben den vielen besonnen-klugen Schreyer-Gedanken zum Tagesgeschehen, zur Weltlage, zu Geist und Macht auch seine Ermunterung aus dem Jahr 1969 findet: »Wirkung«, schrieb er an Brigitte Reimann, »ist immer da, wo Talent, Wissen und Charakter vereint sind. Also schreib Dein Buch zuende!« Besser hätte er es nicht formulieren und Brigitte Reimann sich nicht treffender zur Kunst äußern können – wohl den eigenen Roman »Franziska Linkerhand« im Sinn – als sie es 1967 (damals noch beherzt) in einem Brief an Wolfgang Schreyer tat: »Wenigstens hat … die Literatur immer etwas Aufsässiges, sie muss hinter die Erscheinungen sehen, an der Oberfläche kratzen und bloßlegen, was darunter ist, kurzum: Heilige Kühe schlachten.«
Ein spannendes, ein empfehlenswertes Leseerlebnis!
W. K.
Brigitte Reimann/Wolfgang Schreyer: »Ich möchte so gern ein Held sein. Der Briefwechsel«, herausgegeben von Carsten Gansel und Kristina Stella, Leetspeak Media, 540 Seiten, 26 €
Nostalgie
Nostalgie hat immer irgendwo
was von Sternenglanz und was von Trockenklo.
Günter Krone
Opdakh im Waisenhaus
»II. Waisenhaus der jüdischen Gemeinde in Berlin« – was für Fragen drängen sich vor allem dem Nicht-Pankower auf, wenn er am Giebel des eindrucksvollen Hauses an der Berliner Straße 120/121 in Pankow diese Inschrift liest? Man braucht aber nur an das 1913 errichtete und nach einer wechselvollen Geschichte von der Cajewitz-Stiftung renovierte, 2001 wiedereröffnete Gebäude heranzutreten, und schon steht man vor den zur Janusz-Korzcak-Bibliothek führenden Stufen, wo es auch Bücher über das ehemalige Waisenhaus gibt (von Peter-Alexis Albrecht, Inge Lammel, Leslie Baruch Brent).
Als meine Frau Charlotte und ich vor dreizehn Jahren in das soeben erbaute Haus IV der Dr. Walter und Margarete Cajewitz-Stiftung eingezogen waren – die Stiftung bietet Seniorenwohnungen an –, dauerte es nicht lang und wir folgten einer Einladung des Stiftungsvorstandes zu einem Vortrag im Betsaal eben jenes ehemaligen Waisenhauses. Der Betsaal war, wie wir erfuhren, 1913 von dem Zigarettenfabrikanten Josef Garbáty-Rosenthal aus dessen auch heute benachbartem Firmenhaus vor allem mit der Kostenübernahme für eine Kassettendecke – einem ausgesprochenen Schmuckstück – mitfinanziert worden. Und eines Tages sollten wir ebendort einer Gruppe überlebender einstiger Zöglinge des Waisenhauses begegnen, die aus verschiedenen Ländern einer Einladung der Cajewitz-Stiftung gefolgt waren, unter ihnen auch der obengenannte Leslie Baruch Brent aus England. Dreizehnjährig war er – späterer Mitautor von mit dem Nobelpreis gewürdigten Entdeckungen – 1938 mit einem Kindertransport nach England gebracht worden, während seine Eltern und die ältere Schwester von den Nazis verschleppt und ermordet worden sind. So ist die Geschichte des ehemaligen Waisenhauses für uns und andere Mieter der Stiftung zu einer ständigen gedanklichen Begleitung geworden, wann immer wir zu Veranstaltungen im Betsaal des Waisenhauses waren.
Hellhörig wurde ich dieser Tage, als eine Truppe mit Philipp Urrutia angekündigt wurde, die unter dem Titel »Opdakh« (Obdach) eine unter Urrutia geschaffene »Szenische Zeitreise durch die Geschichte des ehemaligen jüdischen Waisenhauses« aufzuführen versprach! Eine schwierige Aufgabe, bietet doch diese Geschichte keine Möglichkeit für eine durchgehende Handlung: 1940 haben die Nazis nach wiederholter Drangsalierung der Bewohner das Haus geräumt, es folgte die Beschlagnahme durch die SS, nach dem Kriegsende eine völlig neue Situation: seine Vergabe an die polnische diplomatische Vertretung in der DDR, danach an die kubanische Botschaft et cetera. Aber die Rückblicke, zum Beispiel vom Betsaal angeregt, legten wohl nahe, eine Art Wünschelrute von Thema zu Thema aufblitzen zu lassen. Das haben die vier Schauspieler in dem zwischen sieben bis acht Podesten freigeräumten Betsaal überzeugend gemacht, während auf Wände, Decke und Fußboden wechselnd beziehungsreiche Bilder projiziert wurden.
Wie vermittle ich nur in meinem kurzen Text die national, international, berlinisch – aufgenommenen Eindrücke »von Schwingungen und Erinnerungen in Räumen und aus den Mauern aufgenommenen« Gesprächspassagen? Manches, wie die Erinnerung an die Einweihung des Waisenhauses am Vorabend des Ersten Weltkriegs, ist heute natürlich bedenkenswerte Geschichte – im Gegensatz zu der aktuellen Replik über das Aufkommen von rechten Parteien. 1982 scheiterten mit den Israelis geführte Verhandlungen über den Kauf des wiederentdeckten Hauses. Mit der Einquartierung von Lothar Baruch kurz nach den Olympischen Spielen 1936 in Berlin sind wir schon mitten in einem Hauptthema des Stückes, und zeitlich weiter, 1952, geraten wir direkt in die Grenzverschiebungen um Polen oder den Kaufrausch von Polen in DDR-Kaufhäusern. Wir sehen, dass sich die Eindrücke nicht chronologisch zu einem Zeitbild fügen. Die Zuschauer, entlang der Betsaal-Mauern um die Aufführung herum platziert, neben Interessenten aus der Cajewitz-Stiftung viele Schüler aus der benachbarten allgemeinbildenden Schule, nahmen – aus dem Schicksal der »Zöglinge« und weit darüber hinaus – viele Denkanstöße mit.
Leonhard Kossuth
Den Krieg verraten
Was kann man in einer Welt voller Flüchtender, Verstümmelter und gewaltsam Getöteter Ethischeres tun, als den Krieg zu verraten? Aber auf Ethik kam es den damals herrschenden Nationalsozialisten nicht an: Rund 30.000 meist junge Männer wurden im Zweiten Weltkrieg von deutschen Militärgerichten als Verweigerer, Deserteure oder »Kriegsverräter« (Letztere hatten »Fahnenflucht im Felde« begangen) zum Tod verurteilt. Sie hatten sich geweigert, den militaristischen Wahn von der gewaltsamen Eroberung Europas und anderer Teile der Welt (weiter) zu unterstützen. Zwei Drittel von ihnen wurden hingerichtet, nur ein Drittel lebte am Ende der Nazizeit noch. Jetzt ist der (soweit bekannt) letzte der verurteilten Kriegsverräter gestorben: Ludwig Baumann.
Als »klugen alten Mann«, der zu einer Erinnerungsarbeit aufrief, die »lebensfreundliche Widerständigkeit gegen Krieg fördert«, hat Eckart Spoo vor drei Jahren den Hochbetagten beurteilt (Ossietzky 11/2015). In der Bundesrepublik waren Menschen wie er hingegen jahrelang als »Volksschädlinge« und »Verräter« beschimpft worden, doch spätestens das Anwachsen der Kriegsdienstverweigerung in den 1970ern und der Friedensbewegung in den ‘80er Jahren brachte Gegenwind. Ludwig Baumann engagierte sich für Frieden und soziale Gerechtigkeit und verfolgte unerschrocken sein Ziel der Rehabilitierung der Wehrmachtsdeserteure und Kriegsverräter.
Die angestrebte Rehabilitierung kam jedoch nur zögerlich und schrittweise voran. Erst 50 Jahre nach Kriegsende stufte der Bundesgerichtshof die nationalsozialistische Militärjustiz als Blut- und Terrorjustiz ein, deren Richter zur Rechenschaft hätten gezogen werden müssen; doch kein einziger von ihnen war bestraft worden. 1997 gelangten die im Deutschen Bundestag vertretenen Fraktionen zu der gemeinsamen Feststellung: »Der Zweite Weltkrieg war ein Angriffs- und Vernichtungskrieg, ein vom nationalsozialistischen Deutschland verschuldetes Verbrechen.« Fünf Jahre danach annullierte der Bundestag die Urteile der NS-Militärjustiz gegen Deserteure, Kriegsdienstverweigerer und sogenannte Wehrkraftzersetzer. Doch erst weitere sieben Jahre später hatte Baumanns beharrliches Engagement endgültig Erfolg: 2009 hob der Bundestag auch die Urteile nationalsozialistischer Militärgerichte gegen »Kriegsverräter« auf.
In den 1990er Jahren wurde der gebürtige Hamburger und langjährige Vorsitzende der Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz e.V., der auch Kuratoriumsmitglied der Stiftung für ein deutsches Holocaust-Museum war, mit dem Sievershäuser und dem Aachener Friedenspreis geehrt. Die Annahme des Bundesverdienstkreuzes lehnte er ab, weil er nach eigenen Worten keinen Orden haben wollte, »den auch ehemalige Nazis tragen«. Am 5. Juli 2018 ist Ludwig Baumann im Alter von 96 Jahren in Bremen gestorben.
Jürgen Krause
Ludwig Baumann mit Norbert Joa: »Niemals gegen das Gewissen. Plädoyer des letzten Wehrmachtsdeserteurs«, Herder, 126 Seiten, 12,99 €. Siehe außerdem www.ludwigbaumann.de und https://www.deutschlandfunkkultur.de/deserteure-wehrkraftzersetzer-und-kriegsverraeter.984.de.html?dram:article_id=153431
Zuschrift an die Lokalpresse
»Sie konnten einen Einblick in die Arbeit der Soldaten gewinnen – und für die Kleinen gab es sogar eine Hüpfburg in Form eines U-Boots«, lobpreist der Berliner Kurier vom 1. Juli den »Tag der offenen Tür« in der Julius-Leber-Kaserne der Bundeswehr. Gut, dass der Bericht mit den üblichen Vorstellungen vom Soldatenalltag und den damit verbundenen Gefahren für das Leben und die Gesundheit aufräumt! Es geht fröhlich zu beim Bund beziehungsweise bei der Fahne, und damit wird nur ein kleiner, aber wirkungsgleicher Einblick in das Angebot ermöglicht! Verzichtet wird beispielsweise auf Versteckspiele in der Landschaft, Sandkasten-Manöver oder Brettspiele wie das beliebte »Mensch, ärgere dich nicht!« Das nächste Mal bin ich mit meinen Enkelkindern auch dabei! – Gottlob Hupfer (73), Beamter i. R., 15345 Hoppegarten
Wolfgang Helfritsch
Ossietzky-Sommerpause
Ossietzky legt nach der vorliegenden Nummer eine kurze Sommerpause ein. Daher erscheint das nächste Heft um eine Woche verschoben am 4. August. Derweil können Leserinnen und Leser vielleicht die Zeit nutzen, um die Hefte des aktuellen Jahrgangs zu sortieren und ihrem Archiv zuzuführen. Dabei hilft der Ossietzky-Schuber aus stabiler roter Pappe. Zwei Schuber kosten 5 Euro zuzüglich 1,50 Euro Versand. Bestellung unter: ossietzky@interdruck.net.
kk