Große Ereignisse wurden auf Plakaten und Handzetteln mit großen Schlagzeilen angekündigt, im vergangenen Herbst in Südtirol/Alto Adige: »1918–2018: Bergmesse zum 100 Jahre Gedenken der Abtrennung« – man beachte die Schreibweise – »Süd-Tirols am Kronplatz«.
Der Schauplatz des Spektakels am 23. September 2018, der Kronplatz, ist ein 2275 Meter hoher Berg bei Bruneck, im Winter mit 119 Pisten und 32 Aufstiegsanlagen ein veritabler Hot Spot, im Sommer von verschiedenen Seiten her Anziehungspunkt für Bergtouristen. Reinhold Messner hat auf dem Hochplateau sein MMM Corones errichtet, das jüngste der sechs Museen seines Projektes, mit weitem Rundumblick in die Dolomiten.
Unter dem Motto »Mächtig durch des Glaubens Stütze« riefen »die Pustertaler Schützen« dazu auf, »der Abtrennung Süd-Tirols mit landesüblichem Empfang, Gedenkreden und einem Pontifikalamt« zu gedenken.
»Als Gedenkredner werden der Südtiroler Landeshauptmann Arno Kompatscher, der Landeskommandant Elmar Thaler, der Altlandeshauptmann des Bundeslandes Tirol DDr. Herwig van Staa und Seine Kaiserliche Hoheit Erzherzog Georg von Österreich sprechen.«
Höhepunkt: die Einsetzung einer »Reliquie des Seligen Kaiser Karl in die Schützenkapelle am Kronplatz«. Es ist ein historischer Dank »in einer Zeit, in der sowohl die Geschichte als auch der Väterglaube immer mehr verdrängt« werden, denn: »Unter der Führung des damaligen Landesvaters Kaiser Karl, des gefürsteten Grafen von Tirol, haben sie [die Vorfahren] bis zum Ende des Krieges für die Freiheit und Einheit Tirols gekämpft.«
Und da die Schützen des Pustertals »mit der heiligen Kirche … glauben, dass die Gerechten das Angesicht Gottes schauen«, wird Karl an- und aufgerufen »mit der großen Fürbitte um: Freiheit, Landeseinheit und gerechten Frieden«. Der Habsburger und seine Vasallen sollen halt bei der nächsten Audienz von Angesicht zu Angesicht beim himmlischen Chef im Sinne der Schützen ein gutes Wort einlegen, wohl ganz nach dem Vorbild gefallener Kämpfer im mythologischen Walhall.
Nun ist hier nicht der Platz, um die wechselhafte Geschichte dieser Region darzustellen, in der ein virulentes Völkchen lebt, das Deutsch, Italienisch und Ladinisch spricht. Zu seiner Historie gehören, Pars pro Toto, der Volksaufstand um Andreas Hofer, die Abtrennung von Österreich nach dem Ersten Weltkrieg und die nachfolgende Italianisierung, nach dem Zweiten Weltkrieg die Bombenattentate der Separatisten, noch später weitreichende Befugnisse im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses als Autonome Provinz und schließlich die Gründung der »Europaunion Tirol-Südtirol-Trentino« zur Förderung einer die Staatsgrenzen überschreitenden Zusammenarbeit.
________________________________________________________________
Motto der Stunde
»Es denken die Leute von gestern wieder an morgen.«
(Franz Josef Degenhardt, 1982, LP »Du bist anders als die andern«)
K. N.
________________________________________________________________
Also, verlassen wir die Reliquie, den Himmel und die Historie, widmen wir uns dem Hier und Heute. Aus der Südtiroler Landeshauptstadt Bozen und der österreichischen Landeshauptstadt Wien kam vor zwei, drei Jahren die Anregung, deutschsprachige Südtiroler, vom Ausweis her Italiener, auch mit der österreichischen Staatsbürgerschaft auszustatten, neuerdings alternativ mit einer europäischen. Ein Streitthema, das in Rom Separationsängste weckte und noch im Mai dieses Jahres den italienischen Außenminister auf den Plan rief.
Im »Überbau« aber ist man schon einen gehörigen Schritt weiter. (Sie erinnern sich noch an die beiden Kategorien Basis und Überbau der marxistischen Philosophie?) 2016 produzierte die österreichische Rundfunkgesellschaft ORF den Spielfilm »Endabrechnung«. Ein Landkrimi im »Tatort«-Stil, der in Österreich spielt, mit einem österreichischen Ermittler, einer österreichischen Kommissarin, einem österreichischen Staatsanwalt. Sein Regisseur Umut Dağ, 1982 als Sohn eines kurdischen Ehepaars in Wien geboren, erhielt 2017 den österreichischen Fernsehpreis »Romy« für die beste Regie.
Na und, werden sie sagen, was soll’s? Die Antwort lautet halt: Im »Überbau« ist man schon einen Schritt weiter. Im Film herrscht eine Alternativwelt, wie in Erzählungen von Philip K. Dick. Die Abtrennung Südtirols vom Mutterland Österreich hat nicht stattgefunden – oder sie wurde irgendwann rückgängig gemacht. Zwar liegen die Bergketten eindeutig in Südtirol und damit in Italien, ebenso wie die Städte Bozen und Meran, in denen ermittelt wird. Doch auf den Plätzen und Gebäuden wehen österreichische Fahnen, die Autos haben österreichische Kennzeichen und die Ermittler sind, wie erwähnt, Österreicher.
Am Montag, 1. Juli 2019, hat das ZDF um 20.15 Uhr diesen Krimi gesendet. Ohne jeglichen aufklärenden Hinweis. Hat jemand etwas bemerkt?