Seit dem 31. Januar ist das Vereinigte Königreich (UK) kein Mitgliedsstaat der EU mehr. Seitdem läuft das sogenannte Rücknahmeabkommen, das eine Übergangsfrist bis zum 31. Dezember vorsieht, damit die Abkommen für die zukünftigen Beziehungen ausverhandelt werden können. Obwohl nicht zuletzt die Corona-Pandemie eine erhebliche Verhandlungsverzögerung erzwungen hat, beantragte die Regierung in London bis zum 30. Juni keine Verlängerung der Übergangsfrist. Somit steht seit dem 1. Juli fest, denn so fordert es ein von Johnsons Regierung erlassenes Gesetz, dass die Verhandlungen mit der EU spätestens zu Silvester abgeschlossen sein müssen. Sollten sich die EU- und UK-Granden bis dahin nicht auf ein umfassendes oder mehrere Teilabkommen geeinigt haben, würden ab dem 1. Januar 2021 Null Uhr wie auch immer geartete Zölle und Zollkontrollen wirksam werden, wäre die unterschwellig immer im Spiel gehaltene Drohung mit einem No-Deal-Brexit wahr geworden. Aber gemach. Noch läuft die Übergangsphase, läuft im schwer von der Corona-Pandemie heimgesuchten britischen Alltag nach wie vor so gut wie alles in den gewöhnlichen unionseuropäischen Bahnen weiter, weil der gemeinsame Binnenmarkt samt Zollunion bis zum 31. Dezember fortbesteht.
Die seit dem Februar stattfindenden Verhandlungen der verbliebenen 27 EU-Mitgliedsstaaten mit dem abtrünnigen britischen Weltreich von anno dazumal über ein allen dienliches Handels- und Partnerschaftsabkommen sind bislang weder zielstrebig noch vielversprechend über die Bühne – beziehungsweise coronabedingt die Videoplattform – gegangen. Während die von Michel Barnier angeführten Unionseuropäer eine strikte Akzeptanz der einschlägigen EU-Regulierungen und vor allem gleichbleibende Wettbewerbsbedingungen (das vielbeschworene level playing field) erwarten, will die von David Frost angeführte britische Unterhändlerschar eine Wunschliste durchsetzen, die diverse EU-Regulierungen auszuhebeln gedenkt, sprich auf ein Rosinenpicken hinausläuft. Wenn es nach dem 46 Seiten umfassenden Verhandlungsmandat der EU geht, kann das nicht gut ausgehen, denn das betont die Bedeutung eines fairen und überprüfbaren Wettbewerbs und besteht auf der Beibehaltung gemeinsamer hoher Standards für staatliche Beihilfen und Unternehmen, Arbeits- und Sozialnormen, die Umwelt und den Klimaschutz et cetera.
Bis Mitte August stehen viele Themenkomplexe auf der Verhandlungsagenda, darunter Wettbewerbs- und Handelsregeln, Finanzmärkte, Energie und Transport, Bedingungen der Teilnahme an EU-Programmen für Wissenschaft und Forschung und nicht zuletzt die Mitnahmemöglichkeit von Sozialleistungen sowohl von EU-Bürgerinnen und -Bürgern ins Königreich als auch von British Citizens in EU-Mitgliedsstaaten.
Zu den großen Knackpunkten gehören die Fischereirechte. Die britischen Unterhändler wollen den Trawlern aus EU-Mitgliedsstaaten die Einfahrt in die Fischgründe des Königreichs nur gemäß jährlich neu zu verhandelnder Vereinbarungen genehmigen, die unionseuropäischen Unterhändler lehnen das jedoch ab, weil die Fischereiwirtschaft dann keine Planungssicherheit mehr habe. Des Weiteren die Sicherheitszusammenarbeit: Die Briten wollen auch künftig auf Daten von Ausweisen, Personen und Fahrzeugen Zugriff haben, nach denen in der EU gefahndet wird. Diese Rechte gewährt Brüssel jedoch nur Nichtmitgliedsstaaten, die wie Island, Liechtenstein, Norwegen und die Schweiz Teil des Schengenraums sind. Das Vereinigte Königreich will mit dem freizügigen Schengenraum aber nichts zu tun haben. Darüber hinaus das Arbeits- und Umweltrecht: Zwar betonen die britischen Unterhändler, man wolle das erreichte Schutzniveau beibehalten, sie lehnen die »automatische« Übernahme neu beschlossener EU-Standards jedoch ab. Ähnlich unbefriedigend verläuft für die EU-Delegation die Auseinandersetzung über Staatshilfen. London stimmt zwar einem im zweijährigen Rhythmus erfolgenden Austausch über jeweils gewährte Hilfen und Konsultationen darüber zu, nicht aber einer Streitschlichtung. Ganz zu schweigen von der von den Unionseuropäern weiterhin erwarteten »Unterwerfung« unter den Europäischen Gerichtshof – in den Worten von EU-Chefunterhändler Michel Barnier: »Rechte muss man durchsetzen können.« Für die auf Unabhängigkeit pochenden Briten wiederum verbietet sich ab 2021 nachgerade die Anerkennung der EuGH-Gesetzgebung. »Niemals werden wir unsere Souveränität wegverhandeln«, bekräftigte jüngst der UK-Chefunterhändler, überzeugte Brexiteer und Kenner der Unionsmechanismen David Frost. Da im Aufgalopp zum Brexit-Referendum vor vier Jahren den Britinnen und Briten das Wiederherstellen der vollen Souveränität fest zugesagt worden ist, dürfte jeder Versuch der Unions-Unterhändler, dem Vereinigten Königreich weiterhin eine Souveränitätsteilung nach EU-Art zu diktieren, zum Scheitern verurteilt sein.
Und wie weiter? Wird das Vereinigte Königreich vom 1. Januar 2021 an eine absolut unabhängige Handelsnation sein? Abwarten und Tee trinken. Im Juli soll über die gravierenden Streitpunkte jedenfalls intensiv verhandelt werden. David McAllister, seines Zeichens Brexit-Beauftragter des EU-Parlaments, frohlockt, ein »wirklich umfassendes und maßgeschneidertes Abkommen mit unserem engen Partner, NATO-Verbündeten und Nachbarn« sei bis zum Jahresende durchaus möglich. Jedoch, so betont er, »kann und wird es kein Rosinenpicken geben«. EU-Ratspräsident Charles Michel präzisiert, die EU sei zwar wie von Boris Johnson verlangt bereit, »einen Tiger in den Tank zu tun«, aber gewiss nicht willens, »die Katze im Sack zu kaufen«. Und er betont: »Faire Wettbewerbsbedingungen sind essenziell.« Übrigens ließ im Juni der Automobilkonzern Nissan, der in Nordengland rund 7000 Mitarbeiter beschäftigt und der größte Hersteller auf der Insel ist, durch seinen Betriebschef Ashwani Gupta vorsichtshalber wissen, das Werk würde sich nicht rechnen, »wenn wir kein Handelsabkommen mit den gleichen Zöllen wie bisher bekommen«. Prognosen über den Verlauf der Verhandlungen zu einem Freihandelsabkommen sind gegenwärtig müßig. Gut möglich, dass es zu einer Rahmenvereinbarung kommt, die einen Flickenteppich von vereinbarten sowie noch zu klärenden Einzelregelungen bündelt und von der Regierung als Deal gepriesen werden kann, bei dem die EU selbstverständlich eingeknickt ist und die Briten ihre neue Souveränität durchgesetzt haben.
Wie dem auch sei, während sich Briten und Unionseuropäer an den Verhandlungstischen wortreich und spitzfindig duellieren, treibt Boris Johnson mit seinem kompromiss- und skrupellosen Chefberater Dominic Cummings in London die Umgestaltung des Regierungsapparats voran, um gezielt brexistische Macht in der Downing Street zu bündeln. Nachdem Cummings im Februar Schatzkanzler Sajid Javid aus dem Amt gedrängt hatte, gelang es ihm im Juni, den höchsten Beamten im Außenministerium, Simon McDonald, sowie den nationalen Sicherheitsberater und Kabinettschef, Sir Mark Sedwill, zur Aufgabe ihrer Ämter im Herbst zu bewegen. Die Rolle des nationalen Sicherheitsberaters soll und wird im September nun kein Geringerer als Cummings Freund David Frost übernehmen. Zugleich wird ihm die Adelswürde verliehen. Der 1965 geborene David George Hamilton Frost lernte in den 1990er Jahren bei einer Tätigkeit in der britischen Vertretung in Brüssel die EU-Institutionen ausreichend kennen und kam dabei zu der Überzeugung, es sei für sein Land besser, nicht an die vielen Vorschriften der EU gebunden zu sein.
Dominic Cummings, der während des strikten Lockdowns selbst mehrere Regeln brach, macht die Ministerialbeamtinnen und -beamten für genau das verkorkste Corona-Krisenmanagement verantwortlich, das viele im Lande mit Fug und Recht dem Regierungschef ankreiden. Kaum zufällig hat die Pandemie im – noch – Vereinigten Königreich härter zugeschlagen als in den meisten anderen Ländern. Zudem steckt das ehemalige Weltreich in einer schweren Rezession, wird die Wirtschaftsleistung dieses Jahr um mehr als zehn Prozent einbrechen. Als im April das monatliche Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 20,4 Prozent sank, war das der größte Rückgang, den UK-Statistiker jemals mitteilen mussten. Und was würde der vor 200 Jahren geborene Friedrich Engels zu den Vorgängen in seiner Wahlheimat sagen? Nun, 1844 machte er in einem Artikel für »The New Moral World« darauf aufmerksam:
»Wie die ›Allgemeine Zeitung‹, die deutsche ›Times‹, schreibt, beginnen die Deutschen zu entdecken, daß sich im Stil der Romanschriftstellerei während der letzten zehn Jahre eine vollkommene Umwälzung vollzogen hat; daß an die Stelle von Königen und Fürsten, die früher die Helden solcher Erzählungen waren, jetzt die Armen getreten sind, die verachtete Klasse, deren gute und böse Schicksale, Freuden und Leiden zum Thema der Romanhandlung gemacht werden; sie kommen endlich dahinter, daß diese neue Klasse von Romanschriftstellern, wie zum Beispiel G. Sand, E. Sue und Boz, wirklich ein Zeichen der Zeit ist.« (MEW, Bd. 1, 1976, S. 497) Neben George Sand und dem heute fast vergessenen Eugène Sue pries Engels mit »Boz« einen Zeitgenossen von ihm und Marx, der als einer der größten Sozialkritiker des 19. Jahrhunderts in die Geschichte und Literaturgeschichte eingegangen ist. Die Rede ist von Charles Dickens (1812–1870), dessen Geschichten und (Fortsetzungs-)Romane bis 1844 unter dem Pseudonym Boz erschienen: »Sketches by Boz« (dt. Londoner Skizzen), »The Pickwick Papers« (dt. Die Pickwickier), »Oliver Twist« und »Martin Chuzzlewit« (dt. Leben und Abenteuer des Martin Chuszlewit). Friedrich Engels wusste nur zu genau, was der Dichter zu bieten hatte: Die von Dickens spannend und humorvoll geschilderten Verhältnisse der armen Leute, der Kinderarbeit und generell der Bigotterie des Viktorianismus entsprachen absolut seinen eigenen Kritikpunkten gegen das englische Wirtschafts- und Sozialsystem. Und was würde der vor 150 Jahren verstorbene Charles Dickens über die Vorgänge in seiner vom Brexit und der Corona-Pandemie gebeutelten Heimat schreiben, in der gegenwärtig bereits um die 14 Millionen Menschen in Armut leben – mehr als eine Person von fünf – und darunter vier Millionen Kinder und zwei Millionen Rentnerinnen und Rentner? Sicherlich spannende Geschichten, die die soziale Frage nachdrücklich in den Mittelpunkt rücken würden.