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Wiederaufgenommen in die Volksgemeinschaft  (Monika Köhler)

10. November 1938. Die Türklingel läutet ununterbrochen im Hünensteig 6 in Berlin-Steglitz. Vor der Tür, keuchend, der Rechtsanwalt Weißmann. Er sucht Hilfe bei Ruth Andreas-Friedrich, einer Journalistin, Hilfe vor den ihn hetzenden Horden, die »Judenschwein« rufen und mit Steinen auf ihn werfen. An diesem Tag werden noch mehr Menschen um Unterkunft bitten, auf dem Sofa übernachten. So beginnt das Tagebuch der Autorin, das nach 1945 »Der Schattenmann« heißen wird. Der Zeithistoriker Wolfgang Benz, bis 2011 Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung in Berlin, veröffentlicht jetzt mit seinem Buch »Protest und Menschlichkeit« eine Dokumentation über die Widerstandsgruppe »Onkel Emil«, die sich um Ruth Andreas-Friedrich und ihren Lebensgefährten, den Dirigenten Leo Borchard bildete – und bis zuletzt nicht entdeckt wurde. Was nicht heißt, dass einzelne Mitglieder nicht gesucht und eingesperrt wurden. In der Gruppe, die sich selbst die »Clique« nannte, waren Juden und Nichtjuden. Benz nennt sie »Einzelkämpfer gegen die Unmenschlichkeit des NS-Regimes«. Es gab lockere Verbindungen zu anderen Widerstandsgruppen in Berlin, zum Kreisauer Kreis und zur kommunistischen Gruppe »Ernst« – nach Thälmann. Sie halfen uneigennützig, trotz eigener Gefahr. Vielleicht lag die Nicht-Entdeckung an der etwas abgelegenen Adresse des Hünensteigs, ein am Friedhof Bergstraße entlanglaufendes Sträßchen. Steglitz war nicht gerade als Ort des Widerstands bekannt. Ruth Andreas-Friedrich veröffentlichte 1947 ihr Tagebuch 1938–45 unter dem Titel »Der Schattenmann«. Es wurde mehrmals aufgelegt, erweitert, auch unter anderen Titeln. Es war erfolgreich. Die meisten Personen im »Schattenmann« bekamen Tarnnamen, sogar Ruths Tochter Karin, die mit der Mutter und deren Lebensgefährten Leo Borchard im Hünensteig wohnte.

 

Was war lebenswichtig für ein Leben im Untergrund? Der unbekannte Aufenthaltsort, der oft gewechselt werden musste, Lebensmittelkarten, der gefälschte Pass, Geld. Und Mut, selbst in der verzweifeltsten Lage nicht aufzugeben. Benz bringt eine Fülle von Beispielen, jedes allein gäbe Stoff für einen Film ab. Helfer waren Ärzte, Geistliche oder Handwerker und Arbeiter. Der Arzt Walter Seitz, genannt »Onkel Emil«, bezieht bei der evakuierten Witwe eines SS-Offiziers ein Zimmer. Er gehört zum engsten Kreis der Gruppe. Nach dem Krieg werden Ruth und Walter heiraten. Seitz war Facharzt für Innere Medizin an der Charité. Um nicht zum Kriegsdienst eingezogen zu werden, tritt er eine Stelle beim Pharmakonzern Schering an. In einer »kriegswichtigen« Abteilung. Forschungsarbeiten als kriegswichtig zu erklären, kann Menschen retten. Später wird er nach Schlesien kommandiert, wo er kranke Zwangsarbeiter als arbeitsfähig deklarieren soll, was er, wo es möglich ist, hintertreibt. Neben ihm sind in der Clique noch der Arzt Josef Schunk und das Ärztepaar Christel und Fritz von Bergmann. Er arbeitet am pharmakologischen Institut der Universität, auch an einer für die Wehrmacht überaus relevanten Aufgabe, der Erforschung von Nebeln. Dort lernt er den Chemiker Robert Havemann kennen, der – als Kommunist – in der Widerstandsgruppe »Europäische Union« tätig ist. 1943 wird er Havemann verhaftet und zum Tode verurteilt. Auch hier helfen die für den Krieg bedeutenden Forschungsarbeiten, dass seine Hinrichtung ausgesetzt wird.

 

Ruths Tochter Karin – später Schauspielerin und Journalistin – verliebt sich in Fred Dengler, einen Dichter-Schauspieler, ein Lebenskünstler. Auch er ein Mitglied der Gruppe. Er kommt erst spät dazu, hilft mit, aus einer Kartenstelle Papiere herbeizuschaffen, zum Nutzen vieler politischer Flüchtlinge.

 

Das wichtigste Glied in der Clique neben Ruth ist Leo Borchard, ein Dirigent aus Russland. Nach 1933 hat er bei einer Orchesterprobe einen Skandal verursacht. Beim Spielen des Deutschlandliedes habe er mit unwilliger Gebärde den Taktstock niedergelegt – am Vorabend von Hitlers Geburtstag. Sein gewaltsamer Tod am 23. August 1945 im Wagen eines britischen Offiziers, der ihn und Ruth nach Hause fuhr – ein Missverständnis, aber auch die Missachtung aller Regeln. An der britisch-amerikanischen Sektorengrenze erschoss ihn ein amerikanischer Wachtposten. Er habe gedacht, sie seien Russen, und er würde Russen jederzeit wie Ratten abschießen. Drei Monate nach der Befreiung Berlins durch die Rote Armee.

 

Der jüdischen Musiker Konrad Latte. Er wurde im Hünensteig von Borchard im Dirigieren unterrichtet. Er erhielt Unterkunft, Arbeit und gefälschte Ausweise durch Harald Poelchau. Der evangelische Pfarrer hatte Verbindung zum Kreisauer Kreis und arbeitete später als Gefängnisgeistlicher. Etwa tausend zum Tode Verurteilte begleitete er seelsorgerisch vor der Hinrichtung. Latte ist befreundet mit dem Philosophiestudenten Wolfgang Harich, der Fahnenflucht beging und untertauchte. Harich gab Latte einen Koffer zur Aufbewahrung. Der Musiker wird noch als wichtiger Zeuge beim Prozess gegen Harich gebraucht. Im letzten Augenblick, bevor Latte mit seinen Eltern nach Auschwitz deportiert werden soll, gelingt ihm die Flucht aus dem Sammellager, zusammen mit Ludwig Lichtwitz, dem Kalfaktor des Polizeibunkers. Lichtwitz, der aus einer alten Druckerfamilie stammt, wird noch wichtige Arbeit für die Gruppe leisten: Pässe. Die Geschichte von Konrad Latte ist abenteuerlich, reicht bis zur Truppenbetreuung im Auftrag des Propagandaministers. Der Musiker lässt sich im Juni 1944 von Erich Kästner mit weißen Hemden ausrüsten und mit einem dunklen Anzug von Hans Söhnker. So wird er zum Kapellmeister und stellvertretenden Intendanten des Hessischen Volkstheaters. Als eine Sängerin den Verdacht streut, er sei Jude, verlangt er eine Entschuldigung vor dem versammelten Ensemble, droht sogar mit der Gestapo, falls sie nicht widerrufe.

 

Nach dem Krieg, die NS-Zeit scheint vorbei. Doch beim Arbeitsamt in Hamm sagt ein Beamter zu Latte, er solle sich doch freuen, »wieder in die deutsche Volksgemeinschaft« aufgenommen zu sein. Eine Tätigkeit im Bergbau wird ihm empfohlen. Das ist ein Vorteil des Buches, es endet nicht 1945. Benz versucht, die Biografien weiterzuverfolgen, die der Untergetauchten und die der Helfer.

 

Ganz spät, Mitte April 1945, tun sich die Mitglieder zweier Gruppen zu einer Aktion zusammen. An Hauswände und leere Flächen schreiben sie mit Ölfarbe oder Kreide ein »Nein«. Die Gruppe »Onkel Emil« übernimmt den Südwesten Berlins, die Gruppe »Ernst« den Norden und Osten. In der Nacht zum 20. April, Hitlers Geburtstag, wird die Aktion ergänzt durch Klebezettel, die das »Nein« erklären. Der Aufruf, den Befehl Hitlers und Himmlers, die Stadt bis zum Äußersten zu verteidigen, nicht zu befolgen. Das Wunder: Niemand wird erwischt.

 

Ruth Andreas-Friedrich war es wichtig, dass man »draußen« erfährt, dass auch in Deutschland Menschen leben, »nicht nur Judenfresser, Hitlerjünger und Gestapo-Schergen«, so ein Tagebuch-Eintrag. Ebenso wichtig war, zu zeigen, dass jeder, der es wollte, etwas tun konnte, nicht nur still dagegen sein – das wollte die Gruppe bewirken.

 

 

Wolfgang Benz: »Protest und Menschlichkeit«, Philipp Reclam Verlag, 220 Seiten, 22