Winter’s Tale
»Go home, Ami! Ami, go home! / Spalte für den Frieden dein Atom. / Sag Good bye dem Vater Rhein. / Rühr nicht an sein Töchterlein. / Lorelei, solang du singst, / wird Deutschland sein.«
Ernst Busch hat das Lied »Ami, go home« mit diesem Refrain getextet und gesungen als propagandistische Schützenhilfe von Ost nach West zu Beginn der 1950er Jahre, im Kalten Krieg. Es richtete sich gegen die Anwesenheit der US-Streitkräfte in Westdeutschland, wurde aber in entsprechender Übersetzung auch in anderen europäischen Ländern gesungen, vor allem von Mitgliedern kommunistischer Organisationen. Hanns Eisler hat die Musik arrangiert. Vorlage war die Melodie von »Tramp! Tramp! Tramp!«, einem populären Song aus den US-amerikanischen Sezessionskriegen, mit dem gefangenen Nordstaatlern Mut und Hoffnung zugerufen werden sollte. Später, in den 1960ern, sangen die Ostermarschierer immer wieder den Refrain – der ganze Liedtext war zu lang und zu artifiziell – bei ihren Märschen »gegen die Bombe«. Noch später sangen ihn die Demonstranten gegen den Vietnamkrieg der USA, wenn sie vor den Kasernen der amerikanischen Truppen ihre Transparente aufpflanzten.
Ein halbes Jahrhundert weiter heißt es Trump! Trump! Trump! Jetzt soll »der Ami« wirklich heimgehen, ganz offiziell, von einem Viertel der in Deutschland stationierten US-Soldaten ist die Rede. So wenigstens tönt es aus dem Munde des Präsidenten der USA, der damit den in seinen Augen unbotmäßigen Deutschen eine Lektion erteilen will. Vielleicht geht’s aber doch nicht heim, sondern nur einige Kilometer weiter nach Osten, ins Nachbarland. Wenn überhaupt.
Vielleicht werden die Soldaten auch gar nicht abrücken, weil der Präsident so erratisch ist. Weil der Kongress zustimmen müsste. Weil die Militärs und die republikanischen Parteifreunde und die gegnerischen Demokraten und alle Russenfresser dagegen sind, die befürchten, mit Deutschland auch die NATO und die Gewinne des militärisch-industriellen Komplexes zu schwächen. Oder weil die Einsatzfähigkeit der Drohnen in Gefahr ist, die von deutschem Boden aus gesteuert werden. Da in vier Monaten die Präsidentenwahl ansteht, wird bis zu einer wirklichen Entscheidung noch so manches Wasser den Potomac River hinabfließen, an dessen Ufer in Arlington das Pentagon liegt.
Ami, go home. In meinem Bücherregal stehen zwei 20 Jahre alte, noch lieferbare Bücher von Rolf Winter, früherer Chefredakteur von Stern und Geo, im September 2005 im Alter von 78 Jahren gestorben. Gruner + Jahr trauerte damals im Nachruf »um einen großen Journalisten«. Winter hatte sich als Chefredakteur des Stern bemüht, die Glaubwürdigkeit des Blattes nach dem journalistischen Supergau des Jahres 1983, der Hitler-Tagebuch-Affäre, wiederherzustellen.
Winter beschäftigte sich seit 1963 mit den USA, wo er eine Zeitlang wohnte und als Korrespondent für den Stern arbeitete. Ausgerechnet im Jahr 1989 – dem Jahr, in dem der Eiserne Vorhang Löcher bekam, in dem US-Präsident George Bush sen. beim Besuch der Bundesrepublik das wechselseitige Verhältnis als »partners in leadership« beschrieb und in dem schließlich die Mauer fiel – ausgerechnet in diesem geschichtsträchtigen Jahr legte der große Journalist unter dem Titel »AMI GO HOME« sein »Plädoyer für den Abschied von einem gewalttätigen Land« vor.
Winter räumt radikal auf mit all den Mythen, die auch heute noch im politischen Establishment Deutschlands anscheinend unanfechtbar sind, zuvörderst mit der »Wertegemeinschaft«, die dazu führte, dass die »unverbrüchliche deutsch-amerikanische Freundschaft« ebenso wie die »Respektierung der Bündnisse mit den Vereinigten Staaten zur Staatsräson« wurde. Dadurch sei Deutschland zum Partner »einer habituell friedensunfähigen Imperialmacht« geworden. Winter zeichnet Kapitel um Kapitel nach, wie die USA durch Gewalt wurden, was sie sind. Gewalt vom Anbeginn an. Gewalt nach innen und außen. Gewalt und Unterdrückung, »brutale soziale und ökonomische Ausbeutung anderer Staaten wie großer Teile der eigenen Bevölkerung bis hin zum blanken Rassismus«.
Heftige Kontroversen in Politik und Medien folgten der Veröffentlichung des Buches, das zu einem Bestseller wurde. »Hass« wurde Winter vorgeworfen. Mit »Die amerikanische Zumutung« legte er ein Jahr später nach. Sein Credo: Europa brauche Mut, »und zwar den, an sich zu glauben und dem erdrückend übermächtigen transatlantischen Führer – der Partner bleiben mag – zu raten, was überfällig ist: Ami, go home«.
K. N.
Nachbemerkung: Ich konnte der Verlockung nicht widerstehen, statt einer sachbezogenen Überschrift den Titel »Winter’s Tale« zu wählen. Der Name des Verfassers der beiden Bücher bot diese ziemlich einmalige Möglichkeit, auch wenn »Tale« = Geschichte, Erzählung, Märchen auf die beiden an puren Fakten orientierten Werke nicht zutrifft. »Wintermärchen«, wie die deutsche Buchausgabe in der Übersetzung von Hartmut Zahn heißt, ist ein im wahrsten Sinne des Wortes zauberhafter Fantasy-Roman voller Magie und tiefer Emotionen des amerikanischen Schriftstellers Mark Helprin (73) aus dem Jahre 1983 und spielt im New York des frühen 20. Jahrhunderts. Ossietzky-Leserinnen und -Leser mögen mir die Abschweifung verzeihen.
Neue Variante für Berliner S 21
Wie der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma bekanntgab, hat die Deutsche Bahn AG bei einem zweiten Gespräch mit allen Beteiligten, das am 26. Juni in Berlin stattfand, eine neue mögliche Variante für die Streckenführung der geplanten Berliner S-Bahn-Linie 21 vorgelegt. Die beiden Tunnelröhren würden dabei nicht, wie bisher vorgesehen (s. Ossietzky 11 und 12/2020), beidseits am Reichstagsgebäude vorbeigeführt – die eine Röhre westlich, die andere östlich –, sondern beide Röhren würden östlich verlaufen. Das Denkmal für die während der Herrschaft des deutschen Faschismus ermordeten Sinti und Roma Europas bliebe bei dieser Variante unangetastet. Die frühere Planung, die mit gravierenden Eingriffen in das von dem israelischen Künstler Dani Karavan gestaltete Denkmalsensemble verbunden war, hatte zu Unruhe und Protesten bei Angehörigen der Minderheit der Sinti und Roma und bei Menschen geführt, die die Bekämpfung des antiziganistischen Rassismus als selbstverständlichen Bestandteil ihres demokratischen Engagements begreifen.
Für die jetzt vorgelegte Variante sagte der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma der Bahn AG volle Unterstützung zu. Damit ist die Sache allerdings noch nicht ausgestanden. Denn ganz neu ist der Vorschlag der Bahn nicht. In einem früheren Planungsstadium war er schon einmal als »auf der Grundlage der Vorgaben des Deutschen Bundestages nicht realisierbar« ausgeschieden. Für den Fall, dass es bei dieser Entscheidung bleiben sollte, hat der Zentralrat eine alternative Lösung zur Diskussion gestellt. Ihm geht es um eine »einvernehmliche Lösung, die den Interessen der Minderheit Rechnung trägt ebenso wie den Interessen der Berliner Bürger*innen, für die die S 21 ein wichtiger Teil des Verkehrsnetzes sein wird«.
Renate Hennecke
Grenzöffnung
In Alcazaba de Badajoz wurde am 1. Juli in Anwesenheit von König Felipe VI. und dem spanischen Premierminister Pedro Sánchez sowie dem portugiesischen Präsidenten Marcelo Rebelo de Sousa und dem Ministerpräsidenten António Costa mit einer kleinen Feier die Grenze zwischen Spanien und Portugal wieder geöffnet. Mehr als hundert Journalisten waren anwesend. Seit dem 17. März war aufgrund der Corona-Pandemie die Grenze zwischen beiden Ländern geschlossen. Während des Aktes ertönten von Spaniern Rufe gegen die Monarchie. Die Internetzeitung Las Repúblicas titelte »Demütigende Rufe ›Viva la República‹ für Felipe VI.«. Auch die Tageszeitungen El País, La Vanguardia, El Punt Avui, El Periódico de Catalunya bis hin zum El Diario berichteten über die Rufe nach einer spanischen Republik. Der Fernsehsender TEV1 informierte über die Vorkommnisse in seiner abendlichen Nachrichtensendung. Anders der Madrider Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Hans-Christian Rößler. In seinem Beitrag »Das Tor zu Portugal ist offen« erwähnte er die Rufe nach einer spanischen Republik mit keinem Wort.
Karl-H. Walloch
Wut, die nicht vergeht
»Nicht weinen. Eine politische Gefangene weint nicht.« In ihrer ersten Nacht im Knast wiederholt Ingrid Strobl diese Sätze wie ein Mantra. Hinter ihr liegt da die Verhaftung in ihrer Kölner Wohnung durch bis unter die Zähne bewaffnete SEK-Leute, eine Nacht in einer Polizeiwache, ein Hubschrauberflug nach Karlsruhe, eine halsbrecherische Autofahrt im Konvoi – und vor ihr jetzt Isolationshaft im Keller der Justizvollzugsanstalt München-Neudeck. Alles nach Paragraf 129a des Strafgesetzbuches. Es ist der 21. Dezember 1987, und Ingrid Strobl wird vorgeworfen, einen Wecker gekauft zu haben.
Laut Bundeskriminalamt (BKA) wurde dieser bei einem Sprengstoffanschlag auf das Verwaltungsgebäude der Lufthansa in Köln genutzt, der erfolgte nachts, es entstand geringer Sachschaden, Menschen wurden nicht verletzt.
Strobl wird festgenommen unter dem Verdacht der Mitgliedschaft in der terroristischen Vereinigung Revolutionäre Zellen, RZ, und Beihilfe zu deren Sprengstoffanschlag. Der eigens für die Bekämpfung der Roten Armee Fraktion geschaffene Paragraf 129a kommt zur Anwendung – und damit greifen alle Sonderbefugnisse der Bundesanwaltschaft, die mit 129a-Ermittlungen automatisch betraut wird, und all das, was sich ein Staat ausdenkt, um Menschen im Knast endgültig zu brechen: Unterbringung von Untersuchungsgefangenen in isolierten Einzelzellen, Zensur/Einbehalten der Post, reduzierte Besuchszeiten auf zwei Stunden pro Monat, Besuche nur unter strengen Sicherheitsauflagen und im Beisein von Beamten des BKA und vieles mehr.
Am 9. Juni 1989, nach 17 Monaten Untersuchungshaft, wird Ingrid Strobl zu fünf Jahren Haft verurteilt, am 8. Mai 1990 hebt der Bundesgerichtshof in einem Revisionsverfahren das Urteil auf, das Oberlandesgericht Düsseldorf befindet schließlich auf drei Jahre Haft, die bis dahin nicht verbüßte Strafe wird zur Bewährung ausgesetzt. Es ist die erste überhaupt zugelassene Revision zu einem 129a-Verfahren.
Dreißig Jahre nach ihrer Haftentlassung legt Ingrid Strobl mit »Vermessene Zeit: Der Wecker, der Knast und ich« eine sehr reflektierte Erinnerung an ihre Knastzeit vor.
Selbstverständlich hat sie gewusst, wofür der Wecker gedacht war, den sie gekauft und einem Bekannten übergeben hat. Ein Anschlag auf die Lufthansa, die einerseits Menschen in das Elend zurückfliegt, aus dem sie geflohen sind, und andererseits in den »Bumsbombern« deutsche Männer zum Ficken nach Thailand bringt. Zutiefst nachvollziehbar schildert Strobl, wie es ihr nicht mehr ausreichte, gegen all dies einfach nur anzuschreiben. »Nicht mehr nur eine Frau des Wortes sein, sondern eine der Tat.« Heute ist ihr klar: »Gebracht hat der Anschlag nichts. Es wurde danach kein Flüchtling weniger abgeschoben.«
Im Knast ist Strobl mit Armut und Leid konfrontiert: Junkies, (Zwangs-)Prostituierte, eine Mitgefangene hat sich gegen ihren gewalttätigen Mann erst gewehrt, als die Tochter ihr anvertraute, dass er sie missbrauche. Da hat sie ihn umgebracht.
Strobl versucht im Knast vor allem eins: nicht wahnsinnig zu werden. Das 23-Stunden-am-Tag-allein-Sein, der Lärm, der Dreck, das Fehlen von Intimsphäre – das alles macht ihr zu schaffen, schnell merkt sie, dass ihr bei den seltenen Besuchen die Worte fehlen. Durch die Isolation ist Sprechen schwer geworden.
Ihr helfen Bücher. Sie setzt sich intensiv mit Peter Weiss‘ »Ästhetik des Widerstands« auseinander, verschlingt Elsa Morantes »La Storia« und entflieht der Knast-Tristesse mit Doris Gerckes wunderbarer Bella Block.
Geholfen hat ihr auch die Solidarität. Da spielt eine Kapelle vor dem Knast ein Weihnachtskonzert für sie, von dem sie sogar ein wenig hören kann; wildfremde Frauen schicken ihr Decken (die sie allerdings nicht ausgehändigt bekommt), und Menschen schreiben ihr. Einfach so. Aus Solidarität. Unter ihnen beeindruckt sie besonders ein Kommunist. Hätte sie, die »Undogmatische«, ihm in den Knast geschrieben? Damals sicher nicht. Heute sähe das womöglich anders aus.
Vor allem aber hat Ingrid Strobl die Arbeit geholfen. Die ehemalige Redakteurin der Emma hatte bereits vor ihrer Verhaftung ein Buch über Frauen im Widerstand begonnen. »Sag nie, du gehst den letzten Weg. Frauen im Widerstand gegen Faschismus und deutsche Besatzung« erscheint im November 1989 und wird ein Erfolg. Über die Arbeit an dem Buch und seinem Nachfolgeband erfährt man viel in »Vermessene Zeit«. Über die starken Frauen, mit denen Strobl Interviews führte, und deren Motivation, in den Widerstand zu gehen. Als sie aus der Haft entlassen wird, führt sie die Arbeit an dem Thema weiter.
Auch wenn Ingrid Strobl in der Rückschau den Sinn der militanten Aktionen anzweifelt, so stellt sie doch niemals deren Zweck in Frage. Sie ist immer noch wütend, findet die Verhältnisse so unerträglich wie damals. Davon zeugt ihr Buch. Und davon, was für eine Schweinerei der Paragraf 129a ist.
Melina Deymann
Ingrid Strobl: »Vermessene Zeit. Der Wecker, der Knast und ich«, Edition Nautilus, 192 Seiten, 18 €. Melina Deymann ist Redakteurin bei der sozialistischen Wochenzeitung Unsere Zeit.
Dienstreiserisiken
Meine Profession bringt es mit sich, zuweilen in fremden Betten zu schlafen und fremde Bäder zu benutzen. Ich schnarchte bereits auf fünf Kontinenten und stand dort unter diversen Duschen. Gelegentlich glitt ich unter der Brause aus, ohne ernsthaft zu Fall zu kommen, gottlob. Doch die Furcht war mein ständiger Begleiter, dem ich einmal – würde ich Zeit zum Schreiben finden – literarisch den Garaus zu machen hoffte. Das Buch sollte heißen: »Die Angst des engagierten Dienstreisenden vor einem unbeabsichtigten Sturz aus einer zu hohen Duschtasse«. Wer jemals in höherem Auftrag unterwegs war, kennt gewiss die Sorge zu scheitern. Und wenn dies auch noch unter derart misslichen Umständen geschah, bekam man es anschließend mit den stirnrunzelnden Vorwürfen des Vorgesetzten und dem höhnischen Gespött der Kollegen zu tun. Diese Seelenqual wollte ich, mit einem gewissen Anflug von Ironie, in diesem Buch ausbreiten. Auch die DDR sollte darin vorkommen. Schließlich sah man sich schon aus Devisengründen veranlasst, die preisgünstigsten Absteigen zu wählen und konnte darum einiges erzählen. Nicht nur von glitschigen Duschtassen, sondern auch von anderen schlüpfrigen Dingen. So besuchte ich beispielsweise in den frühen achtziger Jahren eine Peepshow in Stuttgart. Diese Einrichtungen hatten soeben den Geltungsbereich des Grundgesetzes erreicht, und mich trieb journalistische Neugier zur Investition von einer D-Mark meines bescheidenen Tagesgeldes. Ich verließ alsbald gelangweilt den Platz an der Klappe, den dankbar ein hinter mir wartender Schwabe in feinem Zwirn besetzte, welcher offenkundig hier seinen Nachtisch zum Lunch mit den Augen einzunehmen wünschte und nun sparen konnte.
Das monatliche Aktfoto in unserem Magazin fand ich erheblich interessanter.
Davon erzählte ich nach meiner Rückkehr in der Redaktion und erzeugte mit dem Bericht schenkelklopfende Heiterkeit bei den Kollegen. Der beisitzende Stellvertreter des Chefredakteurs amüsierte sich nicht minder, was ihn jedoch nicht davon abhielt, mich Minuten später in sein Büro zu rufen, um mich zu tadeln. Die Arbeiterklasse erwirtschafte im Schweiße ihres Angesichts und im sozialistischen Wettbewerb mühsam die Devisen für unser Land, auch damit ich auf Dienstreise geschickt werden könne, und was mache ich? Ich würde das Geld für solch einen Schund ausgeben. Eine D-Mark, wollte ich einwenden, doch unterließ es: Der meinte das ernst, was er mir an den Kopf warf. (Später fand ich doch tatsächlich darüber eine Notiz in meiner Kaderakte. Ich besäße noch nicht die moralische Reife für Reisen ins NSW und sollte darum fürderhin nicht mehr in diesen Teil der Welt reisen, schrieb eben jener Mann, der dafür bekannt war, sich – obwohl verheiratet – für jüngere Kolleginnen aus der Redaktion zu interessieren. Nun ja, dies geschah auf dem Boden unseres Landes und eben nicht im nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet. Aber auch das war die DDR, weshalb ich sie liebte: Oft verhallte, wie auch in meinem Falle, das Gequake von Pharisäern ohne jedes messbare Echo.
Auf derlei historische Abschweifungen wäre ich also auch zu schreiben gekommen, wodurch meine – hoffentlich launigen – Geschichtchen punktuell auch einen aufklärerischen Zug erhalten sollten. Doch der Verlag winkte ab. Der Titel sei zu lang. Das war noch bevor Jonas Jonassons Weltbestseller »Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand« erschienen war. Danach gab es eine Inflation ellenlanger Buchtitel. Da aber hatte ich Wichtigeres zu Papier zu bringen als Banales aus Badezimmern zu berichten, woran sich bis dato eigentlich kaum etwas geändert hat.
An das Vorhaben wurde ich allerdings jüngst erinnert, als ich in einem Hotel auf Usedom abstieg. Ich sah die Baugrube und später den Rohbau, die feierliche Eröffnung im Frühjahr hatte der Lockdown zunichte gemacht. Nun gehörte ich zufällig zu jenen sechzig Prozent, die nach der Lockerung mit Mundschutz einchecken und das Haus entdecken durften. 40 Prozent der Betten müssen laut Vorschrift unberührt bleiben. Alles schick, alles neu, alles designed und gestylt. Das Bad: ohne Duschtasse, wie inzwischen üblich, und die Glastür mit Lotoseffekt, was gewiss das mehrheitlich aus Polen stammende Personal erfreute. Die hübschen Mädchen hatten nichts zu polieren. Der einzige Makel war das hängende Toilettenbecken. Die Füße schwebten über dem Fliesenboden, die Schüssel war mindestens zwanzig Zentimeter zu hoch angebracht. Es war der höchste Thron, den ich jemals erobert hatte. Passend vielleicht für Menschen mit einer Körpergröße von 185 Zentimetern und darüber. Ich gehörte spürbar nicht zu dieser Spezies.
Nein, die Becken hingen in allen Bädern in der gleichen Höhe, vernahm ich bedauernd an der Rezeption auf meine Bitte nach einer niedrigeren Alternative. Ich sei allerdings nicht der erste Gast, dem die Beine an eben jenem Orte eingeschlafen seien und der sich darüber bereits bitter beklagt habe, lächelte die Dame hinterm Mundschutz.
Mir kam ein gleichermaßen abwegiger wie logischer Gedanke. Das Haus befand sich in Privatbesitz und hatte also einen Bauherrn.
»Sagen Sie mal«, erkundigte ich mich, »wie groß ist Ihr Chef?«
»Zwei Meter und sieben«, kam die Antwort. »Wieso?«
Da war mir alles klar.
Frank Schumann
Ein Kabinettstück
Mehrfach verkleidet erzählt diesmal Christoph Hein seins. So lässt er die inzwischen alt gewordene Stieftochter Lessings in einem Brief von den letzten Tagen des Dichters berichten. Das ist mittlerweile an die 60 Jahre her, und dennoch weiß Amalie noch alles sehr genau. Lessing war – bereits krank – von Wolfenbüttel nach Braunschweig gefahren, erlitt dort einen »Stickfluss, der ihn teilweise lähmte und ihm zeitweilig sogar die Sprache nahm«. Die damals zwanzigjährige Amalie fährt zum Stiefvater, erlebt ihn schwach, doch hin und wieder sehr wach gegenüber seinen Lebensverhältnissen. Er klagt sich an, nicht mutig genug gegenüber den Zwängen gewesen zu sein, und will in seinem nächsten Stück – »Der Derwisch« – mit Kritik nicht hinter dem Berg halten. Er räsoniert über die Gesellschaft, die Literatur und die Literaturverhältnisse und schimpft auf die Fürsten, die ihm sein Leben vergällten. Trotz des anfänglich besser scheinenden Befindens verschlechtert sich sein Zustand, er stirbt, nicht ohne das Wort, das nur für sein »Malchen« bestimmt war.
Eine Erzählung, die ganz dem unbestechlichen Lessing und seiner Zeit verpflichtet ist. Es hat dem Autor Spaß gemacht, sich in die Sprache und die Welt Lessings zu begeben, uns einen etwas störrischen Kranken vorzuführen, der schonungslos abrechnet. Fast könnte man denken, Hein meint nicht nur die Verhältnisse Lessings.
Christel Berger
Christoph Hein: »Ein Wort allein für Amalie«, Insel Verlag, 86 Seiten, 14 €
Zuschriften an die Lokalpresse
Im Jejensatz zu meinen jüngeren Mitbürjern, die ihre heutije Alljemeinbildung aus ihr`n dijitalen Jerätschaften bezieh`n, schnüffle ick nach wie vor lieber in meine tächliche antike Papierfahne. Et is mir een bissken peinlich, mich so altmodisch über det Neuste vom Tare herzumachen und mir Ratschläje reinzuzieh`n. Aba det is mir schnuppe! Wat ick jerne studiere, is die kostenlose Berliner Woche, die »Lokalzeitung für die Ortsteile Lichtenberg, Fennpfuhl und Rummelsburg«. Die hat imma wieda Tipps für ihre Laubenpieper auf ihre Kleinodien parat! Und icke, ick jehör noch zu den Ur-Kleinjärtnern, ick habe schon lange vor der Wende aus dürren jrünen Bohnen saftije Schlangenjurken jezoren. Und da sind mir die Hinweise über det richtije Verhalten von Mensch zu Mensch un von Parzelle zu Parzelle wie auf Seite drei janz nützlich. Jrade jetzt, wo de für fast jeden Scheiß een Anwalt brauchst! In die Ausjabe vom 1. Juli jehts um die Frare, wie hoch die Hecke zum Nachbarjarten sein darf und ob der Pächta splitternackt in sein` Jelände rumhopsen kann. Int`ressant war ooch in derselben Zeitung der Kommentar zum Halten von Hühnern und zum Krähen von Hähnen auf eenem Jrundstück. Laut Landes-Immissionsschutzgesetz ist die Nachtruhe von 22 Uhr bis 6 Uhr einzuhalten, und det jüldet für alle, also ooch für alle Viecher! Und falls es zu eenem Rechtsstreit kommt, ist der Besitzer des Hahnes jut beraten, wenn er dem Jericht durch Lärmprotokolle nachweisen kann, det sich ooch sein Krähvogel an die Stillzeiten hält. Allet kann natürlich nich durchjerejelt werden: Wer kommt denn dafür auf, wenn de Nachtijall aufm Nebenjrundstück jejen Mitternacht ihr´n Triller in de Rummelsburjer Landschaft schmettert? Aba allet in allem: Besten Dank für die nützlichen Hinweise! – Paule Schnaffke (68), Spartenkassierer, Siedlung »Einigkeit«, Baumschulenweg
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Jetzt hat der Bundesgerichtshof die Deutsche Bank am Wickel: Sie muss auch Girokonten für Obdachlose, Sozialhilfeempfänger und Flüchtlinge zu »angemessenen« Preisen zulassen. Das gehört nun mal zur Demokratie, da kann sich die Deutsche Bank nicht auf »höhere Risiken« für »Geldwäsche oder Terrorfinanzierung« (Berliner Kurier, 1.7.2020) berufen! Soll`n denn die Obdachlosen ihre Pfandflaschenmünzen nachts unter ihre aufblasbaren Matratzen klemmen oder Selbsthilfegruppen einrichten und sich gegenseitig bewachen? Und kann es sich die Deutsche Bank nach ihrem Finanzdebakel der letzten Jahre überhaupt leisten, auf die Gebühren einer Klientel für Geldbewegungen zu verzichten? Ich finde es richtig, dass da die Politik und der Bundesgerichtshof eingreifen, damit das Image des internationalen Geldinstituts nicht weiter beschädigt wird! Ingomar Profitlich, Finanzexperte, 47608 Geldern
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Det nimmt ja keen Ende mit Corona! Jetzt hats in dem jroßen Fleischbetrieb der Marktführer-Firma Tönnies mächtich reinjehauen! Massenweise hat sich det Virus in die Arbeitnehma einjenistet, die aus Rumänien oder anderswoher zum Schlachten einjeflogen sind und sich in ihren engen Untakünften jejenseitich volljeniest ham und die Schnitzel jleich mit! Nu ha`m die Behörden den janzen Laden erst mal dicht jemacht, det is ja ooch richtich so! Die Fleischer hatten ja ähnliche Lebensbedingungen wie ihre armen Schweine, die sich ooch kaum ausstrecken konnten in ihr`n Käfijen un für die der Finalbolzen fast `ne Erlösung war! Auf den Werbeplakaten sah´n die Tiere mit ihr`n niedlichen Ringelschwänzchen und ihr`m verschmitzten Lächeln unterm Rüssel ja janz possierlich aus, is ja klar. Nu hat der Tönnies seine Probleme, und ooch wenn er keen Fußballfunktionär mehr is, weeß er, es jeht immer mal rauf un wieda runta, da wird der schon wieder aus de Bredullje komm`. – Paule Bräsicke (76), Rentner, 12043 Berlin-Neukölln
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Da soll noch mal einer behaupten, die bundesdeutsche Justiz und die Berliner Behörden hätten kein Herz für Risikogruppen! Da haben sie doch den Carlos Lehder Rivas – ich weiß nicht, ob Sie den kennen, das war der Ex-Komplize von dem kolumbianischen Drogenbaron – nach seiner Entlassung aus der USA-Haft in eine gemeinnützige Berliner Einrichtung aufgenommen! Weil er schwerkrank ist, soll der Deutsch-Kolumbianer »in einer kleinen Residenz gepflegt werden«. So jedenfalls berichtet es die Berliner Zeitung vom 19. Juni unter der Überschrift »Medellin-Drogenboss wird Berliner« unter Berufung auf das Nachrichtenmagazin Spiegel. Während seiner Drogenkarriere soll der inzwischen 70-Jährige wegen seiner Brutalität »Crazy Charlie« genannt worden sein. Und verdient haben soll er am Drogengeschäft so viel, dass er sich eine eigene Insel auf den Bahamas leisten konnte. Aber man soll ja nicht nachtragend sein. Er war zwar 1987 zu lebenslang plus 134 Jahre verurteilt worden; die Justiz hatte aber seine Haft wegen seiner Kooperation reduziert und ihn in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen. Vorher galt er als USA-Staatsfeind Nummer 1. Nun würde mich nur noch interessieren, ob die Haftverkürzung vom lebenslangen Knast oder von der 134-jährigen Verlängerung abgezogen wurde und wie diese Entscheidung begründet worden ist. – Justinian Kiekebusch (74), Pensionär, 01920 Nebelschütz
Wolfgang Helfritsch
Sommerpause
Ossietzky legt jetzt eine kurze Sommerpause ein. Am 8. August erscheint das nächste Heft (15/2020).
K. K.