Die »westliche Wertegemeinschaft« beruft sich seit Jahrzehnten auf »die Menschenrechte«. Dabei geht es in der Regel allein um »die Meinungsfreiheit«, reduziert auf das Recht auf kritische Äußerungen über politische Regimes, die dem »Westen« je nach Strategie und Gelegenheit als mißliebig gelten wie gegenwärtig China, Venezuela und Libyen. So dienen auch »Dissidenten«, die reaktionäre Positionen vertreten, ohne ihre Ziele klar zu machen, zum Anheizen weltweiter Kampagnen. Mit der Verletzung »der Menschenrechte« werden militärische Interventionen und Kriege begründet. Dieser permanente Mißbrauch hat weltweit bei vielen Menschen das Gefühl für elementare Rechte und die Kenntnis des vollständigen Systems der Menschenrechte verschüttet; vor allem die Sozial- und Arbeitsrechte finden kaum Beachtung.
Wer weiß schon, daß Artikel 23, Absatz 1 der UN-Charta der Menschenrechte, aktualisiert im »UN-Sozialpakt«, lautet: »Jeder hat das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf gerechte und befriedigende Arbeitsbedingungen sowie auf Schutz vor Arbeitslosigkeit.« Weiter in Absatz 2: »Jeder ohne Unterschied hat das Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit.« Und in Absatz 3: »Jeder, der arbeitet, hat das Recht auf gerechte und befriedigende Entlohnung, die ihm und seiner Familie eine der menschlichen Würde entsprechende Existenz sichert, gegebenenfalls ergänzt durch andere soziale Schutzmaßnahmen.« Und wer weiß, daß es in Artikel 25 heißt: »Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen, sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit ...«
Diese Menschenrechte wurden auch von allen kapitalistisch-demokratischen Staaten, auch von der Bundesrepublik Deutschland, ratifiziert und sind geltendes Recht. Ähnliche Rechte sind in der Europäischen Sozialcharta enthalten (sichere und gesunde Arbeitsbedingungen, Kollektivverhandlungen, Schutz vor Kündigung, Würde am Arbeitsplatz, Schutz vor Armut und sozialer Ausgrenzung ...), und wie in der UN-Charta der Menschenrechte steht das Recht auf Meinungsfreiheit auch in der Europäischen Menschenrechtskonvention.
Diese Menschenrechte werden jedoch in der Praxis der neoliberal organisierten Wirtschaft und Gesellschaft, im Zusammenwirken von Staat und privaten Unternehmen ständig verletzt. Auch das Bewußtsein dieser Rechte wird verdrängt. Menschenrechtlich gesehen leben wir im Westen in Unrechts-Staaten, rogue states, Schurkenstaaten, wie sie in der herrschenden US-Doktrin heißen.
In Deutschland werden die Menschenrechte gezielt verletzt, zum Beispiel durch die Hartz-Gesetze I, II, III und IV, die als rechtsstaatliche Gesetze daherkommen, aber vor dem Hintergrund der geltenden Menschenrechte verrechtlichtes Unrecht sind. Auch das geltende Arbeitsrecht in Deutschland, das wegen der Feigheit des Gesetzgebers in weiten Bereichen Richterrecht ist, ist verrechtlichtes Unrecht – zum Beispiel bei der grundsätzlichen Rechtfertigung von Verdachts- und Bagatellkündigungen und bei der Kündigung von Whistleblowern (Menschen, die dafür sorgen, daß Informationen über Mißstände in Unternehmen oder Behörden nach außen dringen), denn im Arbeitsrecht gilt das sonst selbstverständliche Rechtsprinzip der Unschuldsvermutung nicht.
So werden Menschenrechte massiv, nachhaltig und gezielt verletzt: durch dauerhafte Massenarbeitslosigkeit; durch Erpressung zu Lohnverzicht und zu unbezahlten Überstunden; durch Bestechung, Mobbing und Bespitzelung von Betriebsräten; durch Einsatz von Streikbrechern; durch heimliches Ausspionieren der Beschäftigten im Betrieb; durch die Minderbezahlung von Frauen; durch dauerhaft gespaltene Löhne bei Leiharbeit; durch Niedrigstlöhne und prekäre Arbeit in der Nähe des Tagelöhner-Status; durch Zwangsarbeit für Arbeitslose; durch mediale und politische Hetze gegen Arbeitslose und vieles andere mehr (konkrete Einzelheiten finden sich in dem Buch »ArbeitsUnrecht. Anklagen und Alternativen«, das ich 2009 herausgegeben habe).
Das geltende Arbeits- und Arbeitslosen-Recht und vor allem die herrschende Praxis in den Unternehmen und Jobcentern be- und verhindern auch, daß millionenfaches Arbeits- und Arbeitslosen-Unrecht öffentlich zur Sprache kommt. In Verbindung mit der Massenarbeitslosigkeit, die zur Erpressung genutzt wird, wird gerade das dem »Westen« so wichtige Menschenrecht der freien Meinungsäußerung fortwährend verletzt.
Ein Lichtblick: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat am 21. Juli 2011 die Kündigung der Altenpflegerin Brigitte Heinisch durch die staatliche Berliner Vivantes GmbH für unwirksam erklärt: Die Kündigung widerspreche Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtscharta, also dem Recht auf freie Meinungsäußerung. Brigitte Heinisch hatte die Überlastung der Pfleger in einem Altenheim und das entwürdigende Dahinvegetieren alter Menschen zunächst der Heimleitung und dann dem Staatsanwalt und der Öffentlichkeit angezeigt. Die Kündigung war in allen Instanzen der deutschen Arbeitsgerichtsbarkeit bestätigt worden. Die Richter in Deutschland hielten den Verlust des Arbeitsplatzes für gerechtfertigt, weil die Klägerin auf Mißstände hingewiesen, weil sie die Wahrheit gesagt hatte.
Der rechtliche Sieg ist im wesentlichen durch den Einsatz eines Menschen, Brigitte Heinisch, errungen worden. In fünf schweren Jahren ist sie den mühsamen Weg durch die deutschen Instanzen bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegangen. Was der Arbeitgeber Vivantes daraus macht, ist noch offen, die Kündigung will er nicht zurücknehmen. Brigitte Heinisch wurde von ihrem Anwalt Benedikt Hopmann und von ver.di unterstützt. Aber wie viele Betroffene gehen einen solchen langwierigen und unsicheren Weg nicht und suchen auch nicht die Unterstützung einer Gewerkschaft! Wie viele Fälle des vielfältigen Arbeits-Unrechts werden erduldet und gehen im Friedhofsschweigen über die Menschenrechte unter, ungehört und ohne Widerstand!
Damit Beschäftigte und Arbeitslose besser für das Recht auf Arbeit und für die Überwindung der Massenarbeitslosigkeit kämpfen können, bedarf es auch der Unterstützung im Einzelfall des Arbeits-Unrechts, menschliche, psychologische, rechtliche, publizistische, finanzielle Unterstützung. Kürzlich wurde dafür die Initiative »Arbeit & Gerechtigkeit« gegründet (www.arbeitsunrecht.de).