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Reiche verdienen an der Arbeitslosigkeit  (Heinz-J. Bontrup)

Arbeitslosigkeit ist ein systemimmanentes Problem des Kapitalismus. Für den Arbeitslosen bedeutet sie, von eigener Reproduktion des Lebens durch Arbeit ausgeschlossen und auf öffentliche Alimentierung angewiesen zu sein. Ist er länger arbeitslos, kommt nicht selten Scham auf, der Arbeitslose fühlt sich schuldig, unfähig. Die Vorstellung, die Opfer seien selber schuld, gefällt der herrschenden Gesellschaftsschicht und hilft ihr, sich schamlos zu bereichern. Wie schwadronierte Altbundeskanzler Gerhard Schröder (SPD): Faule Arbeitslose hätten keinen Anspruch auf gesellschaftliche Solidarität. Wenn in einer Volkswirtschaft auf eine offene Stelle etwa zehn Bewerber kommen, dann müssen eben neun Arbeitslose unfähig und faul sein – ist doch klar. Aus einem derart bornierten Denken von Politikern und ihren Steigbügelhaltern aus der Wirtschaft sind die Ideologie der »Agenda 2010« und die »Hartz IV«-Praxis entstanden.

Wahr ist: Das marktwirtschaftlich-kapitalistische System bietet mit seiner ausbeuterischen Profitfunktion nicht allen Menschen eine passende Erwerbsarbeit. Also müssen die »Überschüssigen« ausgegrenzt und gleichzeitig ruhiggestellt werden. Das gelingt offensichtlich. Denn wo ist der Protest der Millionen von Arbeitslosen und gesellschaftlich Prekarisierten und Marginalisierten? Viviane Forrester gibt die Antwort in ihrem Buch »Der Terror der Ökonomie«: Es ist die Schmach und Scham der Arbeitslosen, die »zu äußerster Unterwerfung führt. (…) Denn nichts schwächt und lähmt derart wie die Schmach. Sie greift an der Wurzel an und untergräbt jede Tatkraft, sie degradiert Menschen zu beliebig beeinflußbaren Objekten und reduziert alle, die unter ihr leiden, zur wehrlosen Beute. (…) Die Schmach führt in eine ausweglose Situation, sie verhindert jeglichen Widerstand, führt dazu, daß jegliche Bekämpfung, jegliche rationale Beschäftigung, jegliche Auseinandersetzung mit dem Problem aufgegeben wird.«

Arbeitslosigkeit, so der Soziologe Oskar Negt, macht den Menschen nicht nur arm, sondern auch krank, sie ist ein »Gewaltakt gegen Menschen«. In der Tat belegen arbeitswissenschaftliche Studien, daß Arbeitslosigkeit, mehr noch als berufliche Belastungen, zu körperlichen und seelischen Erkrankungen führt. Arbeitslose sind drei- bis viermal so häufig krank wie Erwerbstätige. Längere Arbeitslosigkeit hat für den Betroffenen zur Folge, daß er seinen gesellschaftlichen Status, seine gesellschaftlichen Kontakte und seine Tagesstruktur verliert. Schaut man sich die Entwicklung der Arbeitslosigkeit seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland und seit der Wiedervereinigung an, so ist der empirische Befund vernichtend. In 62 Jahren war die zunächst westdeutsche Volkswirtschaft und ab 1991 die gesamtdeutsche Wirtschaft nur wenige Jahre vollbeschäftigt, in 49 Jahren bestand Massenarbeitslosigkeit. Seit der schweren Weltwirtschaftskrise von 1974/75 kann nur noch von einer weit unterbeschäftigten Wirtschaft gesprochen werden. Unser Land lebt weit unter seinen Möglichkeiten. Welch ein Systemversagen!

Nichts macht den Arbeitslosen und auch den noch Beschäftigten so gefügig wie Arbeitslosigkeit. Sie ist der stärkste »Knüppel«, mit dem das Kapital diszipliniert. Bei Unterbeschäftigung brechen alle Dämme. Die von den Beschäftigten geleistete Arbeit wird nicht mehr äquivalent bezahlt, das heißt, nicht nur die absoluten Löhne werden gedrückt, sondern die Beschäftigten partizipieren auch nicht mehr am Produktivitätsfortschritt und Wertschöpfungszuwachs. Das zeigt sich am Rückgang der Bruttolohnquote bei gleichzeitigem Anstieg der Gewinnquote. So ging von 1991 bis 2010 die Lohnquote von 71,0 Prozent auf 66,3 Prozent und im selben Zeitraum der Anteil der Nettolöhne und -gehälter, also nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben, am gesamten Arbeitnehmerentgelt von 56,8 Prozent auf 52,8 Prozent zurück. Gemessen an der Bruttolohnquote von 1993 haben die Beschäftigten in Deutschland von 1991 bis 2010 mehr als 1,1 Billionen Euro an Einkommen verloren. Hier zeigt sich die neoliberale Umverteilung von unten nach oben, von den Arbeits- zu den Besitzeinkommen. Die Massenarbeitslosigkeit führt aber auch dazu, daß den Gewerkschaften die Mitglieder weglaufen, daß die Tarifverträge erodieren und die noch Beschäftigten immer mehr Arbeit für immer weniger Geld anbieten, anstatt die Arbeit über kollektive Arbeitszeitverkürzungen zu verknappen. (Verknappung ist das übliche Vorgehen des Kapitals, wenn ein Überangebot an den Güter- und Dienstleistungsmärkten einen Preissturz auslöst.)

Jeder Unternehmer kann einzelne Beschäftigte und ganze Belegschaften entlassen; die Gesellschaft als Ganzes kann das nicht. Die vom Kapital Entlassenen (einzelwirtschaftlich »Externalisierten«) müssen gesellschaftlich alimentiert werden. Infolge der »Agenda 2010« wurde die Unterstützung immer knapper. Die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes wurde verkürzt und die Arbeitslosenhilfe mit der Sozialhilfe zu »Hartz IV« zusammengeführt. So sparte der Staat auf Kosten der Arbeitslosen beträchtliche Summen ein. Die fiskalischen Kosten der Arbeitslosigkeit in Deutschland sind dennoch enorm. »Sie entstehen«, wie das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) feststellte, »den öffentlichen Haushalten unmittelbar durch Ausgaben und mittelbar durch Mindereinnahmen, weil Arbeitslose kein oder nur ein geringes Arbeitseinkommen beziehen. Dabei werden nur die registrierten Arbeitslosen berücksichtigt, die Stille Reserve bleibt außer Betracht« – und auch die rund eine Million nicht mehr gezählter Arbeitslose zum Beispiel in Ein-Euro-Jobs oder Weiterbildungsmaßnahmen.

Das IAB hat die fiskalischen Kosten der Arbeitslosigkeit von 2001 bis 2007 in einer Studie ermittelt. Sie lagen jahresdurchschnittlich bei 83,1 Milliarden Euro. Die Kosten pro Arbeitslosen schwankten dabei zwischen 19.200 Euro und 17.900 Euro. Vergleicht man diese Kosten mit der Staatsverschuldung (von 2001 bis 2007 nahm der Staat jahresdurchschnittlich knapp 59 Milliarden Euro neue Schulden auf), so kommt man zu dem ernüchternden Ergebnis, daß der Staar ohne die bestehende Massenarbeitslosigkeit gar keine neuen Schulden hätte aufnehmen müssen, sondern in seinen Haushalten (Bund, Länder, Gemeinden und Sozialversicherungen) von 2001 bis 2007 jahresdurchschnittlich sogar einen Überschuß in Höhe von 24,1 Milliarden Euro realisiert hätte.

Genauso wie das Kapital an Arbeitslosigkeit als Instrument zur Disziplinierung der abhängig Beschäftigten und Arbeitslosen interessiert ist, hat es auch großes Interesse an möglichst niedrigen Steuerpflichten und an Staatsverschuldung. Denn die nicht gezahlten Steuern und die auf Grund der Arbeitslosigkeit verringerten Arbeitskosten und erhöhten Besitzeinkommen geben sie nur zu gern dem Staat als Kredit. Ihr Überschußgeld, ihre Ersparnis, nicht durch eigene Arbeit, sondern schlicht durch kapitalistisch immanente Mehrwertaneignung in Form von Zinsen, Mieten und Pachten sowie Gewinnen erworben, benötigt dann der strukturell unterfinanzierte Staat als Schuldner, um seine Aufgaben noch einigermaßen erfüllen zu können. Am Ende reicht es aber nicht. Die Staatsschulden werden immer größer. Nicht nur absolut, sondern auch relativ in Bezug zur wirtschaftlichen Gesamtleistung, dem Bruttoinlandsprodukt.

Für die Kreditierung des Staates verlangen die Vermögenden möglichst hohe Zinsen zu ihrer weiteren Bereicherung ohne Arbeitsleistung. Vermögende haben ja schon immer gern andere für sich arbeiten lassen. Kaum jemand kommt aber auf die Idee, sie wie die Arbeitslosen als Versager oder gar als Faulenzer zu bezeichnen. Sei’s drum: Jedenfalls fielen von 2001 bis 2007 auf den Schuldenstand des Staates jahresdurchschnittlich 64,2 Milliarden Euro an Zinsen an. Ein schönes Einkommen für die Reichen und ein erbärmliches gesamtwirtschaftliches Ergebnis. Das Kapital, die vermögenden Schichten, verdienten durch die Staatsverschuldung Unsummen an der seit Jahrzehnten in Deutschland bestehenden Massenarbeitslosigkeit. Welch ein insgesamt perverser Befund! Ohne eine Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit durch eine massive kollektive Arbeitszeitverkürzung wird sich auch in Zukunft an diesem Befund nichts verändern.