Fünfzig Jahre werden es jetzt, seit ein Bauwerk errichtet wurde, dessen Entstehungsgründe und Zwecke sogleich verhüllt wurden. Inzwischen ist es weggeräumt, dient aber nach wie vor geschichtsblinder politischer Propaganda. Ein bösartiger ostdeutscher Kommunistenhäuptling habe die Mauer sich ausgedacht, um seine Untertanen zu schikanieren und die westliche Welt zu provozieren, hieß es damals; eine Legende, die etwas verfeinert auch heute noch verbreitet wird. Ein antifaschistischer Schutzwall sei gebaut worden, verkündete demgegenüber die Regierung der DDR, als wäre eine Hakenkreuzarmee kurz davor gewesen, in den ostdeutschen Staat einzudringen. Nun gab es in Zeiten des Kalten Krieges durchaus westliche Politiker und Militärs, die mit dem Gedanken spielten, Ostdeutschland auf »robuste« Weise zu »befreien«, aber im Jahre 1961 hatte die DDR ein anderes Problem: Sie mußte das Hinausdrängen stoppen, die Abwanderung von Arbeitskräften, gerade auch schon qualifizierten, gen Westdeutschland, wo höherer Lebensstandard lockte. Zudem war der politische Status der Stadt Berlin ungeklärt, was die Gefahr mit sich brachte, daß Konflikte zwischen der UdSSR und den USA ins Kriegerische hineingeraten konnten; der Bau der Mauer schuf hier eindeutige Verhältnisse. Es kann kein Zweifel sein, daß ihn auch Washington erleichtert zur Kenntnis nahm; rhetorischer Protest verschleierte die realen westlichen Interessen. Selbstverständlich waren sich auch die führenden Politiker in Westberlin und in der Bundesrepublik über diese Interessenlage im Klaren, was sie nicht daran hinderte, aus dem in jeder Hinsicht abschreckenden Bauwerk propagandistischen Honig zu saugen.
Die politische Strategie des »Roll back« war mit der klammheimlichen Zufriedenheit des Westblocks über den Mauerbau nicht aufgegeben, aber die Absicht, den Ostblock aufzulösen und wegzuräumen, hatte sich auf eine neue Methodik eingestellt: »Systemkonkurrenz« als längerfristiges Zwischenspiel, mit der Erwartung verbunden, daß die Sowjetunion sich allmählich selbst zugrunderichten werde, zumal der Rüstungswettlauf, den man in Gang hielt, die Wirtschaftskraft der Staaten des Warschauer Pakts überforderte. Diese Rechnung ist aufgegangen.
»Grenzsicherung« innerhalb Deutschlands, als Erfordernis des ostdeutschen Staates, war schon in den Umständen der Teilung des »Deutschen Reiches« nach 1945 begründet. Die in Westdeutschland herrschende Politik folgte der Kalkulation »Lieber ein halbes Deutschland ganz als ein ganzes Deutschland halb«, was den gesellschaftspolitischen Interessen des wieder aufstrebenden großen Kapitals entsprach. Auf die Wiedereinbeziehung des ostdeutschen Territoriums in die Welt des Kapitalismus war damit auf längere Sicht nicht verzichtet.
Alle Vorschläge, eine staatliche Einheit Deutschlands blockfrei zustandezubringen, wurden nach 1945 und in den 1950er Jahren von der westdeutschen politischen Klasse ins Aus gestellt. Der ostdeutsche Teilstaat aber hatte die wirtschaftliche Hauptlast des vom deutschen Faschismus unternommenen und verlorenen Krieges zu tragen; er konnte mit dem westdeutschen »Wirtschaftswunder« nicht konkurrieren. Daß bei offener Grenze Massen von Ostdeutschen in den deutschen Westen überwechselten, war nicht verwunderlich, ließ sich durch einen Appell an »sozialistische Moral« nicht aufhalten; und »Wirtschaftsflucht« ist nicht als kriminell zu werten. Daß die in der DDR bestimmenden politischen Kräfte, vornehmlich die SED, nicht imstande waren, dem Abwanderungsdrang entgegenzuwirken, hatte historische Hintergründe: Eine sozialistische Gesellschaftsordnung in östlichen Teil Deutschlands war zunächst gar nicht Ziel der Sowjetunion, bei der die Steuerungsmacht in ihrer Besatzungszone lag, so wie bei den Westalliierten in ihren Zonen. Die Entstehung der DDR war auch nicht Ergebnis einer »Revolution«, sondern Folge westlicher Deutschlandpolitik, Reaktion auf die Gründung eines westdeutschen Staates. Die Mauer, so zeigt es sich beim propagandistisch nicht verstellten Blick in die Geschichte, hatte ihre Konstrukteure im Westen.