»Politik ist die Praxis der Wissenschaft vom Notwendigen.« Diesen Satz hat Christoph Koch als Leitmotiv einer Sammlung von Aufsätzen vorangestellt, die dem Autor dieses Satzes, dem Juristen Helmut Ridder, gewidmet sind. Sie geben einen Teil der Beiträge wieder, mit denen Juristen, Soziologen, Historiker und Politiker aus Deutschland und Polen in einer Konferenz in Berlin dieses außergewöhnlichen Wissenschaftlers gedacht haben.
Der Satz deutet zum einen auf die bei Juristen nicht unübliche Neigung zur aktiven Politik, zum anderen auf Ridders praktisches Verständnis von Wissenschaft, eingebunden in die Anforderungen des politisch Notwendigen. Dies zeigte sich zunächst in seinem prozessualen Einsatz vor dem Bundesverfassungsgericht Ende der fünfziger Jahre in wichtigen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen: so für die Volksbefragung gegen die atomare Aufrüstung der Bundeswehr, für die rechtliche Gleichstellung von Ehepartnern bei der Entscheidung über Erziehungsfragen und 1961 bei der Verhinderung der Pläne Konrad Adenauers für ein Staatsfernsehen – in den beiden letzten Verfahren mit Erfolg. Sein nächster Schritt in die aktive Beteiligung an bedeutenden außerparlamentarischen Bewegungen wie dem »Krefelder Appell« gegen den sogenannten NATO-Doppelbeschluß, dem Kuratorium »Notstand der Demokratie« gegen die drohende Notstandsgesetzgebung und der Initiative »Weg mit den Berufsverboten« hebt ihn allerdings deutlich aus der Vielzahl politisierender Juristen heraus. Nur Jürgen Seifert und Wolfgang Abendroth engagierten sich ähnlich öffentlich in den politischen Auseinandersetzungen der Zeit.
Koch überliefert das Bekenntnis Ridders, daß er sich eher als wissenschaftlich interessierten Politiker denn als politisch interessierten Wissenschaftler verstanden habe und weist auf eine bedeutsame Beschränkung seines Engagements hin, das sich aus seinem primär juristischen Zugriff auf die gesellschaftlichen Probleme erklären läßt. Ridder verstand sich durchaus als Teil der demokratischen Linken, hielt aber immer Distanz zur sozialistischen Linken und zog aus seiner fundamentalen Kritik an dem Versagen der Demokratie nie die Perspektive des Sozialismus. Dies trennte ihn von seinem freundschaftlichen Antipoden Wolfgang Abendroth, mit dem er in den zentralen Auseinandersetzungen als »Verfassungsinterpret, politischer Wissenschaftler und intervenierender Intellektueller« verbunden war: »Ridder als Radikaldemokrat, Abendroth als radikaler Sozialist«, wie es der Politikwissenschafter Frank Deppe in seinem Beitrag darlegt.
Ridders »Zurückhaltung« rührte nicht aus seinem rigorosen Rechtspositivismus, der ihn gegen jede interpretatorische und werteschwangere Ausdehnung des kodifizierten Normtextes oft auch polemisch Sturm laufen ließ. Positivist in der absoluten Verpflichtung auf die Vorschriften der Verfassung war auch Abendroth. Der Unterschied in der sozialen Perspektive lag wohl eher in der unterschiedlichen Herkunft und dem Lebensweg begründet. Ridder aus bürgerlich katholischem Haus mit einer klassischen universitären Karriere, Abendroth aus sozialdemokratischem Elternhaus, schon früh in der kommunistischen Jugend aktiv, zu vier Jahren Gefängnis wegen Hochverrats verurteilt, die er verbüßte, im Krieg in die Strafdivision 999 versetzt und in Griechenland zum Widerstand übergelaufen, Kriegsgefangenschaft und danach eine hindernisreiche universitäre Laufbahn von der sowjetischen Besatzungszone bis Marburg, wo er allerdings keinen juristischen, sondern einen politologischen Lehrstuhl bekam. Hier liegen wohl die Wurzeln für die unterschiedlichen gesellschaftstheoretischen Ansätze und die divergierenden Einschätzungen der Aktualität und Tragweite beispielsweise der Artikel 15 (Sozialisierung) und 139 (Antifaschismus) im Grundgesetz. Das hinderte sie jedoch nicht daran, sich in den aktuellen politischen Auseinandersetzungen immer wieder Seite an Seite zu finden, zum Beispiel im Kampf gegen die von Innenministern und deren Verfassungsschutzbehörden propagierte »streitbare Demokratie«, den der Historiker Wolfgang Wippermann thematisiert.
Ridders rechtsanalytische Schärfe und positivistische Standhaftigkeit machten ihn zu einem der wichtigsten Verteidiger des Verfassungsrechts »gegen dessen autokratische Pervertierung zu einer zugleich substantialisierten und flexibilisierten ›Verfassung‹«, wie es Ingeborg Maus in ihrem Beitrag über Ridder aus völkerrechtlicher Perspektive darstellt. Ridder sah eine der schlimmsten Degenerierungen der demokratischen Substanz der Gesellschaft in der schleichenden Anpassung des Grundgesetzes an sich verändernde gesellschaftliche Bedingungen ohne ausdrückliche Änderung im Verfassungstext. Wie groß der Verlust eines derart wissenschaftlich unantastbaren Mahners der Verfassungsgenauigkeit ist, macht Ingeborg Maus deutlich an den neuesten Tendenzen, die UNO-Charta zu einer Welt-»Verfassung« zu transformieren und damit den strikten Rechts- und Regelungsgehalt zu verflüssigen und zu verändern. Die Umwandlung der Menschenrechte von individuellen subjektiven Rechtsansprüchen zu objektiven Systemzwecken hat nicht nur juristisch ihre Ablösung aus ihrem rechtsstaatlichen Normengerüst zur Folge, sondern ganz handfest die Legitimierung sogenannter humanitärer Interventionen, die die Weltfriedensordnung entgegen den klaren Bestimmungen in der UNO-Charta in eine Weltgewaltordnung verkehren.
Wer sich in die radikaldemokratische Opposition begibt, wird zumeist als Störenfried beiseitegeschoben. Wurde Ridder noch allgemein für seine Kommentierung des Artikels 5 GG (Meinungs-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit) hoch gelobt, so wurde er für seine hartnäckige und analytisch scharfe Kritik an der vom Bundesverfassungsgericht abgesegneten These, daß das Deutsche Reich 1945 nicht untergegangen sei, sondern in der BRD teil-fortexistiere, mit Nichtachtung bestraft. Nur eine kleine – linke – Schar von Verfassungsrechtlern stemmte sich gegen die voluntaristische und politisch hochbrisante Ansicht, der Nazi-Staat sei mit der militärischen Niederlage nicht untergegangen. Ridder war ihr prominentester Verfechter, und Gerhard Stuby zeichnet in seinem Beitrag zum »Mythos der ›Wiedervereinigung‹« das historische Umfeld und die theoretischen Implikationen der widerstreitenden Meinungen nach. Die »Wiedervereinigung« war keine Wiedervereinigung, sondern die Fusion zweier souveräner Staaten – dieses Credo war mehr als ein Streit um Definitionen, sondern zog durchaus unterschiedliche Konsequenzen nach sich.
Ob der von Ridder mit der notwendigen Unduldsamkeit und Polemik vorgetragene Streit gegen die »Lebenslüge« der Bundesrepublik das Ergebnis seiner Mitarbeit in der jetzt vom Herausgeber dieses Bandes geleiteten Deutsch-Polnischen Gesellschaft war oder zu seiner Mitarbeit dort geführt hat, ist nicht ganz klar. Er hat lange Jahre in ihrem Vorstand an der Freundschaft zu Polen gewirkt, das ihm hohe Auszeichnungen verlieh. Daran war ohnehin kein Mangel: Zwei Ehrendoktoren in Polen und der DDR, aber auch Ehrungen und Anerkennungen in der Bundesrepublik waren der verdiente Nachweis, daß seine Arbeit von Nutzen gewesen ist, daß man auf ihn gehört hat. Der vorliegende Sammelband, in dem auch weitere interessante Beiträge zu historischen wie aktuellen Fragen zu Demokratie und Verfassung zu finden sind, bestätigt das und gibt uns allen Anlaß, weiterhin auf ihn zu hören.
Christoph Koch (Hg.): »Politik ist die Praxis der Wissenschaft vom Notwendigen. Helmut Ridder (1919–2007)«, Martin Meidenbauer Verlagsbuchhandlung, 438 Seiten, 59,90 €