Der vor allem als Aufklärer über die Nazi-Vergangenheit bekannte Westberliner Publizist Gerhard Schoenberner (dem kürzlich der Ostberliner Historiker Kurt Pätzold in Ossietzky 13/11 zum Achtzigsten gratuliert hat), ist auch ein Lyriker und Aphoristiker von hoher Kunstfertigkeit. Ich habe es nicht gewußt und nicht geahnt, bis ich dieser Tage das Buch »Fazit« aufblätterte, in dem er »Prosagedichte«, wie er sie nennt, aus den beiden vergangenen Jahrzehnten in schöner Ordnung zusammengestellt hat.
»Mütterchen R.« ist eines überschrieben. Ich lese darin: »Aus den Gräbern steigen / die verjagten Gespenster / eines vergangenen Jahrhunderts / der Zar und die Popen / Landadel und Offiziere / In vollem Ornat zeigen sie sich / der ehrfürchtigen Menge // Auf die Knie, rufen sie / nicht mehr. Von selbst / verneigt sich ein jeder / vor diesem Wunder / O gute alte Zeit / O geliebte Peitsche / O Kreuz alter Qualen / betet die Menge / Kehret zurück // Seht, wir beugen den Rücken / in Erwartung der Strafe / Sünder sind wir / und Kinder von Sündern / Waren vermessen genug / anzutasten die heilige Ordnung / Gott abzuschaffen und / zu träumen von einem Leben / ohne Herren. Nun / da das Regiment der neuen Herren / gestürzt ist, bitten wir euch / unsere Herren von altersher: / Wollet uns nicht verstoßen / wie wir euch verstießen / sondern uns lieben und züchtigen / wie es der Brauch ist / Gesetz und Sehnsucht / der Menschen Natur. // Sei willkommen, Unwissenheit / rein wie das Linnen, unverdorben / durch schädliche Gedanken / Aberglaube, du Wegweiser / der Armen, sei gepriesen / Ausbeutung, kehre zurück / Euer Knecht bittet euch // Im Zeichen des Kreuzes / und im Namen der Krone / der geschändeten / befreien wir die Heimat / mit Feuer und Schwert / von Marxisten und Juden / Dialektik und Aufklärung (...)«
Welch klare Sprache! Welch klarer Geist! Knapper, dichter kann man Geschichte – erlebte, erlittene, ergründete – nicht weitersagen. Ich kenne keinen anderen deutschen Autor unter den lebenden mit so wachem Blick, so untrüglicher humanistischer Empfindsamkeit wie diesen, den ich eben erst als Dichter kennenlerne.
»Herbst der Pharaonen« steht über einem Gedicht, das erst in den letzten Wochen geschrieben zu sein scheint: »Seit die Springflut der Massen / Straßen und Plätze überschwemmt / haben die Herrscher ein Ohr für das Volk / sind voller Verständnis für seine Nöte / halten seine Forderungen für berechtigt / versprechen die rasche Durchführung / der vor 40 Jahren versprochenen Reformen / Soforthilfe für die Armen, stabile Brotpreise / Und Strafverfahren gegen alle, die sich / auf Kosten des Volkes bereichert haben / Sie verzichten auf erneute Wiederwahl und / das Recht, ihr Amt dem Sohn zu vererben // Aber sie wollen den Übergang selbst leiten / die Demonstranten sollen nach Hause gehen / ›Ich oder das Chaos‹, rufen sie / und organisieren das Chaos / gegen das sie dann einschreiten müssen (...)« – ich kann es wie schon »Mütterchen R.« hier nicht vollständig zitieren. Aber am liebsten würde ich gleich alle Freunde zusammenrufen und ihnen vorlesen, zum Beispiel auch einige Zeilen aus »Sprachregelung«: »Der Knochenbrecher will / Friedensfürst heißen / der Blutsauger: Wohltäter der Armen / der Schlächter: ein Menschenfreund / Der oberste Hinrichter nennt sich / Vater der Nation (...) Ausbeutung heißt jetzt: / Dienst am Vaterland / Wenn sie vom Vaterland sprechen / meinen sie ihre Familien // Sie alle bestehen unerbittlich / auf dem Ritus der Wahlen. Ohne Parlament / wollen sie nicht regieren / Die Gründung von Parteien wird angeordnet / Eine Opposition ist erwünscht / Man scheut keine Kosten / gehorsam aus Angst reicht ihnen nicht / Sie wollen geliebt werden« oder aus »Botschaftsempfang«: »Ein älterer Herr / mit Sorgfalt gekleidet / silbernes Haar, Olivenhaut / sprach leider nur Spanisch / Der einzige Indio / unter Hundert Weißen dachte ich / Dies, verriet mir der Botschafter / ist der neue Präsident / der Nationalrevolutionären Allianz / der Arbeiter und landlosen Bauern / Und ihn laden Sie ein?, fragte ich / Mein Kompliment für Ihre Weitsicht! / Ach, lachte er, halb so schlimm / Seine Partei finanzieren / nordamerikanische Firmen.«
Liebesgedichte, Reiseeindrücke, Gedenkblätter für Verwandte, die Opfer der Nazis wurden, viele Themen und Motive verbinden sich hier, Persönliches und Politisches durchdringen sich, ein reiches Leben öffnet sich – selbstbewußt, wahrhaftig.
Ich bin sicher: Wer dieses Buch gelesen hat, wird mit mir dafür sorgen, daß es bekanntgemacht und verbreitet wird.
PS. Eben schickt mir Walter Kaufmann ein Fax, das er an den Autor geschrieben hat: »Habe seit Brecht keine Lyrik gelesen, die mir mehr bedeutet als Ihre.«
Gerhard Schoenberner: »Fazit«, Argument Verlag, 191 Seiten, 17,90 €